Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Martin Löschmann

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Название Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen
Автор произведения Martin Löschmann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957446817



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habe ich noch lange zu tun gehabt“, schrieb Irla in ihrem Brief vom 26. Juli 2006, „innerlich muss es mich doch sehr bewegt haben. Vielleicht hätte ich doch lieber die alten verfallenen Gebäude an ihrem alten Platz plus Plumsklo und Backhaus mit den alten Bäumen gesehen, weil die Umgebung des Wohnhauses eben fremd war. Aber ich habe gestaunt, was noch alles in meinem Gehirn geruht hat. Viele Namen von Bernsdorfer Einwohnern kamen zum Vorschein. Fast allen konnte ich ein Haus zuordnen, neben uns vor der katholischen Kirche wohnten Dargatz, Lüdtke und Stangohr. Martin, sind Dir die Namen noch ein Begriff?“ Nein, sind sie nicht. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf: Sprechen wir von Heimat, ist immer Verlust mit im Spiel. Eine zweite Heimat gibt es eigentlich nicht.

      Hier und jetzt wird endgültig ein Schlussstrich gezogen. Ich werde meinen Geburtsort nun nie wieder besuchen. Es gibt kein Erbe mehr. Der Erbhofbauernsohn wurde nach dem Umschwung mit 4.000 DM von der Kohl-Regierung abgespeist. Erstaunlich, dass gerade diese Regierung die Vertriebenen völlig gleichstellte. Unabhängig von dem, was sie besessen und verloren hatten, bekamen alle DDR-Bürger und -Bürgerinnen aus den ehemaligen Ostgebieten des deutschen Reiches die einmalige pauschale Abfindung. Jenny Neumann, eine ehemalige Kollegin – wohl aus Schlesien kommend – hat das Almosen mit der Begründung abgelehnt: Mit der Empfangsbestätigung würde man sich seiner Ansprüche begeben. Ich erhebe keinen Anspruch auf mein Erbe in Hinterpommern, das sei an dieser Stelle besonders all den 61,5 Prozent Polen versichert, die sich nach mehr als 60 Jahren Kriegsende weiterhin vor deutschen Besitzansprüchen fürchten.

      Ich fahre mit meinem Neffe Gernot zu dem Restaurant, wo das festliche Essen anlässlich des 80. Geburtstages meiner Schwester stattfindet, durch eine prächtige Villengegend Hamburgs: „Onkel Martin, siehst du dort drüben diese Jugendstilvilla? Da wohnt ein Kollege von mir, hat die Villa von seinen Eltern geerbt.“ Ich habe das Fazit einer statistischen Untersuchung parat und biete sie Gernot verschmitzt lapidar, quasi als Trost an: „Die Werte, die in den neuen Bundesländern nach dem Tod weitergegeben werden, sind vielfach geringer als in den alten.“

       Ohne Schlittschuhe in den Krieg geschlittert

       Es ehrt unsere Zeit, dass sie genügend Mut

       aufbringt, Angst vor dem Krieg zu haben.

      Albert Camus

      „Opa, wie hast du den Zweiten Weltkrieg erlebt?“, hatte mich Julika 2003 in einer E-Mail aus Chiang Mai gefragt. Im Geschichtsunterricht in ihrer internationalen Schule wurde der 2. Weltkrieg behandelt und im Rahmen einer Projektarbeit sollten Zeitzeugen befragt werden. Allein, wie vermittelt man Vierzehn-, Fünfzehnjährigen vieler Herren Länder in Thailand Kriegserlebnisse aus ferner Zeit und fernem Ort? Wie soll sich ein Großstadtkind wie Julika, ein Friedenskind, das Leben in Kriegszeiten in einem kleinen Dorf vorstellen können, in einer Gegend, deren Namen sie nie gehört hat. Ein Gott verlassenes Nest, wie soll sie sich da hineinversetzen?

      Wie erzählt ein Großvater seiner Enkelin vom zweiten Weltkrieg, den sie aus dem Geschichtsbuch als einen von vielen Kriegen kennen lernt und der für sie vorab durch die vorgesetzte ZWEI relativiert wird? Jaja, der Ansatz, ein Enkelkind vor Augen über große Ereignisse in unserem Leben zu berichten, ist nicht gerade originär. Wer hat nicht alles versucht, sich über von Nachkommen eingeforderte Erinnerungen zu definieren. Ich denke an Jürgen Kuczynskis Anfang der 80er Jahre veröffentlichten kritischen Dialog mit meinem Urenkel, in der DDR geradezu verschlungen und 1997 mit schwarzen Marginalkennzeichnungen erschienen, die von der DDR-Zensur entfernte Stellen markierten. Ach, da fallen mir sofort andere Namen ein: „Im Leben sammelt sich was an“, sagt in Erwin Strittmatters Laden der Großvater zu seinem Enkel Esau, als der von seinen schriftstellerischen Ambitionen berichtet. Nach unserem Chinaaufenthalt fiel mir Der Kaiser von China von Tilman Rammstedt, Ingeborg-Bachmann-Preisträger, in die Hände: Aus der Höhlenperspektive, nämlich unterm Schreibtisch schlafend, essend, wohnend, beginnt ein Keith, die Hauptfigur in diesem Roman, das Leben seines Großvaters aufzurollen.

      Mein Großvater war stets beleidigt, wenn man nicht auf ihn gehört hatte, dabei konnte man nie auf ihn hören, weil er einem immer erst im Nachhinein mitteilte, was man alles hätte anders machen sollen, aber ihn habe ja keiner gefragt, und schau, jetzt bist du nass, und schau, jetzt haben wir uns verfahren, und schau, jetzt bin ich tot.

      Ich begann so: Als sich der Krieg ernstlich in mein Leben einmischte, näherte sich mein zehnter Geburtstag. In unserem kleinen Dorf hatte ich lange kaum etwas vom Krieg gespürt. Bedenke, ich war mal gerade vier, als der Krieg ausbrach. Mein erstes „Kriegserlebnis“ hatte ich im ersten oder zweiten Kriegsjahr. Mein Vater und einige Dorfhonoratioren saßen in der Wohnstube, um eine Rede Hitlers aus dem Radio, dem sogenannten Volksempfänger, zu hören. Uns Kinder kümmerte es wenig, wer da sprach und aus was für einem Gerät die Stimme kam, wir spielten vor dem Schlafgehen schnell noch Verstecke. Eckstein, Eckstein, alles muss versteckt sein. 1 – 2 – 3 – ich komme! Zuerst versteckten wir uns in der Küche, darauf im Wohnzimmer. Verstecke ohne Geschrei ist, keine Frage, die halbe Freude, also immer kräftig mit Gebrüll durch die Stube. Mein Vater ermahnte uns leise zu sein. Man wollte kein Wort Hitlers verpassen, schließlich hatte der bis dato ausnahmslos Siege zu verkünden. Wir jedoch waren von unserem Spiel derart gefangen genommen, dass wir uns nicht bremsen konnten. Plötzlich sprang mein Vater auf, griff zum Siebensträhner, der ständig bedrohlich hinter der Anrichte im Wohnzimmer hing. Meinen größeren Schwestern gelang es, nach oben in ihr Zimmer zu flüchten. Ich wollte mich der Reichweite des mir bekannten Instruments gleichfalls entziehen, erreichte die Rettung verheißende Treppe, spürte aber schon den Atem meines Vaters im Nacken. Völlig unkontrolliert verpasste er mir fünf oder sechs Hiebe, während ich mit einem Bein eine Stufe nehmend nach oben stolperte. Gott sei Dank blieb er unten stehen und setzte mir nicht weiter nach, möglicherweise weil ich wie am Spieß schrie oder weil er schnell wieder zur Rede zurück wollte. Oben angelangt, zeigten sich Gisela und Renate, um mich zu trösten, indem sie die gestriemten Stellen bepusteten und Schmerzlinderung versprachen. Zu schreien hörte ich nicht eher auf, bis Irla mir klar machte, dass mein Weinen Vater dermaßen stören könne, dass er gleich noch einmal auftauchen würde.

      Bernsdorf verfügte über einen Bahnhof und unsere Felder grenzten ein ganzes Stück lang an die Eisenbahnstrecke. Züge erwarten und beobachten, während ich die Kühe hüten musste, war eine meiner Lieblingsbeschäftigungen. Sie kamen aus einer unbekannten Welt, tauchten aus dem Wald auf, der unsere Felder nach Norden hin abschloss und fuhren in eine andere Welt, die uns jetzt zwar verschlossen, eines Tages aber erreichbar sein würde. Der absolute Höhepunkt war es immer wieder, wenn wir einen flachen Gegenstand auf das Gleis legten und die Veränderungen bestaunten, nachdem der Zug drüber gefahren war. Geldstücke waren geradezu ideal. Da mussten Münzen besorgt werden, und das war kein leichtes Unterfangen. Es konnten Tage vergehen, bis einer von uns einen Groschen aufgetrieben hatte. Wie oft haben wir das Ohr auf die Schienen gedrückt, um festzustellen, ob sich der planmäßige Zug oder gar ein Güterzug näherte, der zeitlich nicht vorauszubestimmen war. Eines Tages stellten wir etwas Neues an den Güterzügen fest. Über mehrere Waggons hinweg war zu lesen: Räder müssen rollen für den Sieg, denn es ist Krieg. Mehrmals haben wir den Satz in Weidenbaumrinde geschnitzt. Das war eine willkommene Abwechslung zur Pfeifenherstellung aus Weidenstöcken.

      Meine Eltern wie andere geradeso wurden immer öfter aufgefordert, allerlei Dinge zu spenden. Was man im Krieg so braucht: Wolldecken, Handschuhe, Pulswärmer für die Soldaten, die im unerbittlich harten Winter in Russland kämpften. Kindersachen waren nicht gefragt.

      Irgendwann hieß es, man brauche in Zukunft eine Schlachtgenehmigung. Richtig einschränken mussten wir uns deshalb anscheinend nicht, jedenfalls habe ich davon nichts gespürt. Als Bauern waren wir weitgehend Selbstversorger, immerhin besaßen meine Eltern den zweitgrößten Bauernhof und waren die reichsten Bauern im Dorf, da der größte Hof arg verschuldet war. Das bringt Kati aus der letzten Begegnung mit meiner nunmehr über 90 Jahre alten Schwester mit.

      Ein französischer Kriegsgefangener tauchte auf unserem Hof auf. Irgendwo im Dorf gab es ein Gefangenenlager,