Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Martin Löschmann

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Название Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen
Автор произведения Martin Löschmann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957446817



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mussten wir dort leben, auf dem Fußboden kampieren, zwei Decken standen jedem am Anfang zur Verfügung. Die Verpflegung war zentral geregelt. Zum Sattessen zu wenig, zum Verhungern zu viel. Hunger hatten wir immer.

      Das Mittagessen wurde in Kübeln gebracht. Da sie undicht waren, klebten an den Außenseiten, besonders an den Deckeln übergeschwappte Essensreste. 20 bis 30 Jungen warteten darauf, dass die leeren Kübel auf den Hinterhof gestellt wurden. Kaum kam einer, stürzte sich die Horde darauf, um die unappetitlichen Reste abzukratzen und zu verschlingen. Jedes Mal tobte ein unerbittlicher Kampf, denn nur einer konnte jeweils der Gewinner sein. Es gab an keinem Tag genügend Kübel für alle Hungrigen. Als ich Herta Müllers Atemschaukel las, nachdem sie 2009 überraschenderweise den Nobelpreis bekommen hatte, drängte sich mir ihre Beschreibung des chronischen Hungers geradezu auf:

      Was kann man sagen über den chronischen Hunger. Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt. Wie läuft man auf der Welt herum, wenn man nichts mehr über sich zu sagen weiß, als dass man Hunger hat.

      Am Ende der Moritzburg-Zeit wurde uns ein Zimmer bei einer von der Einquartierung nicht gerade erbauten Familie Urban, Am Eulengrund 10 in Zeitz zugewiesen. Wir bekamen Lebensmittelkarten. Was man uns an Lebensmitteln zugestand, sicherte bedingt das Leben der vierköpfigen Familie. Deshalb waren wir ständig auf der Suche nach Essbarem. Der Schwarzmarkt blieb uns verschlossen, wir hatten nichts anzubieten, was einen sachständigen Tauschwert gehabt hätte. Wir gingen stoppeln, von einem abgeernteten Feld, dem Stoppelfeld, wurden Weizen-, Roggen-, Gerste- oder Haferähren aufgesammelt, die heruntergefallen, übersehen oder in der Boden getrampelt worden waren. Bei abgeernteten Kartoffelfeldern genügte es nicht, die erspähten Erdäpfel aufzulesen, da musste man mit der Hacke blitzschnell nachhelfen, um fündig zu werden.

      Sobald ein Feld abgeerntet war, wurde es freigegeben. Zu Hunderten standen die Menschen stundenlang um die Felder und warteten auf den Moment der Freigabe. Aufseher, mit Peitschen unter dem Arm und von bissigen Hunden begleitet, hielten die Masse in Schach. Wagten Kinder sich vorzeitig aufs Feld und das geschah nicht selten, passierte kaum etwas; sie mussten nur sofort Reißaus nehmen, entdeckten die Aufseher die Grenzüberschreitung. Ich war fast immer unter den waghalsigen Kindern, meistens Jungen. Bei Erwachsenen wurde schon mal der Hund losgelassen oder die Peitsche geschwungen.

      Einmal war kein Halten mehr, die Massen stürmten von zwei Seiten auf das riesige Roggenfeld bei Osterfeld – mit der Bahn 18 km von Zeitz zu fahren –, bevor das Freigabesignal ertönte. Die noch nicht vom Feld geräumten Garben verhießen volle Rucksäcke. In kürzester Frist war ein Schlägertrupp zur Stelle und jagte die Menge zurück. Diejenigen, die die Puppen, wie die Stiegen in Mitteldeutschland genannt wurden, erreicht und sich vor der Zeit bedient hatten, mussten die Taschen leeren. Zur Strafe wurde das Feld abgesperrt und erst am nächsten Tage freigegeben. Nicht nur einmal kehrte man ohne jegliche Ausbeute zurück. An solchen ertraglosen Abenden konnte es passieren, dass unsere Mutter zerknirscht, ohne etwas zu sagen, todmüde ins Bett fiel.

      Man musste schnell, überaus schnell sein, um möglichst viele Ähren zu erwischen. Lange vor dem Sturm auf das jeweilige Feld spähte man guten Ertrag versprechende Stellen aus. Mit beiden Händen gezielt nach links, nach rechts, nach vorn, nach hinten grabschen, alles blitzschnell in die Schürze stopfen, die mit einer großen Tasche versehen, anfangs vor dem Bauch baumelte und nach und nach immer schwerer nach unten zog. Am Ende kam alles in einen Rucksack. Zu Hause wurden die Körner aus den Ähren geschlagen und mit der Kaffeemühle zu Mehl gemahlen. Am 31. März 2010, 17:47 fragt ein Kafka im Kaffee-Netz:

      Hat schon mal jemand versucht, mit einer Kaffeemühle Getreide fürs Brotbacken zu mahlen? Funktioniert das halbwegs, oder muss ich dann eine verstopfte Mühle reinigen?

      Erst jetzt – 1948 – forderte die Schule ihr Recht. Mehr als 50 Fehler im ersten Diktat machten mich zum krassen Außenseiter der Klasse. Ich schämte mich unendlich, auch wegen der grob gestrickten langen Strümpfe, die keiner mehr trug. Sie waren mithilfe von Strumpfhaltern, heute Strapse genannt, an einem Leibchen festgemacht, welches man zwischen Unterhemd und Hemd trug. Und diese ekligen gelblichen Igelitschuhe, hergestellt aus gesundheitsschädlichem Weich-PVC. Im Sommer schwitzte man furchtbar darin, im Winter fror man erbärmlich. Anfang der fünfziger Jahre wurden sie Gott sei Dank aus dem Verkehr gezogen.

      Da ich in die Klasse eingestuft worden war, in die ich vor der Flucht ging, überragte ich alle, geistig schien ich ein Zwerg zu sein. Mein Banknachbar gab mir jedoch eine Chance: „Du stinkst wenigstens nicht.“ Lange hielt meine Drangsal nicht an. Durch den Krieg, den Tod des Vaters und die geschwächte Mutter vollends auf mich gestellt, lernte ich hochmotiviert und holte den Stoff relativ schnell auf, sodass ich innerhalb eines Jahres zwei Klassen überspringen konnte.

      In der achten Klasse kam mein Klassenlehrer zu uns nach Hause und schlug meiner Mutter vor, mich auf die Oberschule zu schicken. Sie stimmte zu, obgleich sie lediglich Sozialfürsorge erhielt und es von ihr aus ohne Frage besser gewesen wäre, wenn ich einen Beruf erlernt und schnell Geld verdient hätte. Ich bin ihr unendlich dankbar für ihre Entscheidung, die für sie weiterhin Entsagung bedeutete.

      Damit wollte ich mit dem Krieg für mich abschließen. Beim Wiederlesen des Kapitels wird mir eine Leerstelle klar: Das Thema Vergewaltigungen, sowohl in der DDR und als auch in der Sowjetunion tabuisiert, ist nicht allein aus meiner kindlichen Erlebnisperspektive zu erzählen, sie verstärkt womöglich das von westlichen Ideologen einseitig geprägte Bild von den Russen.

      Im engsten Familienkreis habe ich gelegentlich angedeutet, dass ich neben meiner Mutter stand, als sie von einem Russen in einem Heuschuppen vergewaltigt wurde, wohin sie mit mir geflüchtet war. Sie wähnte, sich und mich sicher versteckt zu haben.

      Hätte ich Julika mit Werner Heiduczek, dem Leipziger Schriftsteller aus Oberschlesien, kommen können? Kaum. Er brach 1977 in seinem wohl bekanntesten Roman Tod am Meer das Tabu, indem er auf die Frage „Habt ihr vergewaltigt?“ den sowjetischen Offizier antworten lässt:

      Ob Griechen oder Römer, Osmanen oder Chinesen, Amerikaner oder Russen, schick sie in den Krieg, und es wird Mord geben, Raub, Plünderung und Vergewaltigung. Ich finde es dumm, den Menschen in den Zustand des Tieres zu versetzen und dann über seine Unmoral zu meditieren.

      Just diese Stelle veranlasste den damaligen sowjetischen Botschafter in der DDR, Abramowitsch zu intervenieren. Einfach lächerlich, die Spatzen pfiffen es von den Dächern, kein Geringerer als Ilja Ehrenburg hatte es in seinem Tagebuch bestätigt. Gut ein Jahr vor Heiduczek hatte Christa Wolf in ihrem Roman Kindheitsmuster das heikle Thema gewissermaßen gestreift, indem sie von einem jungen russischen Offizier erzählt, den Flüchtlingsfrauen über ein eigens installiertes Alarmsystem regelmäßig gegen zudringliche Rotarmisten zu Hilfe rufen. Heiner Müller gab dem Thema in seinem letzten dramatischen Text Germania 3 Gespenster am toten Mann zudem eine neue Perspektive:

      Schlafzimmer mit Doppelbett. Ein russischer Soldat vergewaltigt eine deutsche Frau. Auftritt ein Mann in der gestreiften Uniform des Konzentrationslagers mit dem roten Winkel des politischen Häftlings. Er sieht eine Weile zu, dann erschlägt er den Soldaten.

      Hier beginnt die Befreiung, der Frieden mit einem Mord.

      Es hat lange gedauert, bis ich die Fragwürdigkeit erkannte, sich gegenseitig die Untaten im Krieg vorzuhalten. Letztendlich dient ein solches Vorrechnen und Aufrechnen dazu, den Krieg zu humanisieren und ihn akzeptierbar zu machen.

      Hätte es den Film Anonyma – eine Frau in Berlin zu der Zeit gegeben, als ich Julika eine Version meines Textes nach Thailand schickte, hätte ich ihn ihr empfohlen: Max Färberböck, der mit seinem Erfolgsfilm Aimée & Jaguar das Dritte Reich versucht hatte darzustellen, inszenierte 2008 erneut einen historischen Stoff nach Aufzeichnungen einer anonym gebliebenen Frau und behandelt darin die vielmals beschriebenen Massenvergewaltigungen durch russische Soldaten in Ostberlin am Ende des Zweiten Weltkriegs. Er bricht Stereotype auf und macht nicht den Fehler, die Russen durchweg als grobschlächtige Bestien zu zeigen.