Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen. Martin Löschmann

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Название Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen
Автор произведения Martin Löschmann
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783957446817



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kam aus einer Lehrerfamilie und genoss bei den Schwiegereltern hohes Ansehen. Für den Sohn Gernot stand früh die Entscheidung für den Lehrerberuf fest. Tochter Birge fällt nicht weit vom Stamm: wird Lehrerin. Nichte Britta ist mit Leib und Seele Lehrerin, leitet heute eine Reformschule, schenkt uns ein Buch Ein neuer Jenaplan. Befreiung zum Lernen, in dem sie mit einem Beitrag Grundsätze vertreten ist. Wen heiratete Britta? Selbstredend einen Lehrer, Carsten Müller, Mathematiker, promoviert und Direktor eines Gymnasiums in Jena. Wen wundert es, die eine der beiden Müllers Töchter, Christiane wird Lehrerin.

      Und Jörg und Kati ebenfalls in eine Lehrerfamilie hineingeboren: In Mariannes Familie gab und gibt es in jeder Generation Lehrerinnen, möglicherweise ist es hier, das Lehrergen. Antje, die Tochter von Mariannes Schwester Adelheid, setzt als Englisch- und Russischlehrerin in ihrer Linie die Tradition fort. Selbst Michael, ihr Bruder, studierte Philosoph, war er nicht kurzzeitig lehrend tätig, bevor ihn der Systemwechsel in vollkommen andere Bahnen lenkte?

      Als Sohn Jörg geboren wird, studieren beide Elternteile mit dem Ziel, Lehrer zu werden, als Tochter Kati drei Jahre später das Licht der Welt erblickte, waren ihre Mutter Lehrerin für Geographie und Geschichte an einer Leipziger Tagesheimschule und ihr Vater Deutschlehrer am Herder-Institut mit der amtlichen Bezeichnung Dozent am Herder-Institut, das klang schon mal nach was.

      Kati als praktizierende Psychotherapeutin wird sich bestimmt wehren, wenn ich meine, dass ihr Beruf nicht so weit entfernt vom Lehrerberuf, zumindest z.T. ein Beruf mit einem ‚Lehrauftrag‘ ist und letztlich hat auch Jörg beim Goethe-Institut immer mit Lehre zu tun.

      Obwohl ein engagierter Lehrer, zog es ihn in die Kulturarbeit. Bester Beweis seine Ausstellung mit Künstlern aus Südostasien, die über Chiang Mai und Bangkok hinaus vom 22. Oktober bis 30 Januar 2005 in Berlin gezeigt wurde: Identity versus Globalisation? Die über 60 beteiligten Künstler und Künstlerinnen mit ihren Werken hatte Jörg in engen Kontakt mit ihnen ausgewählt. Als Quereinsteiger hatte er die Ausstellung kuratiert in Zusammenarbeit mit seiner Frau Heike, die 1999 die Leitung des Regionalbüros Südostasien der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Chiang Mai übernommen hatte. Bei der Eröffnungsveranstaltung im Ethnologischen Museum tritt uns Dr. Jörg Löschmann als Kurator entgegen und gibt eine Einführung in die zeitgenössische Kunst aus Südostasien. Nach dem offiziellen Teil raunt uns eine Expertin ungefragt zu, die uns in Chiang Mai bei einer Party kennen gelernt hatte: „Brillant, was Ihr Sohn da vorgetragen hat, sie können stolz auf ihn sein. Um seine Karriere müssen Sie sich keine Sorgen machen.“ Schmeichelhaft für die Eltern. Von seinem Interesse an bildender Kunst und seinem Wissen darüber haben wir häufig profitiert.

      In einer überbordenden Auseinandersetzung, in der Julika ihren Vater sicherlich treffen wollte, hielt sie ihm vor, er sei ja letztlich „nur“ Lehrer. Die Ursachen für die allenthalben zu beobachtende Geringschätzung des Lehrerberufes in Deutschland sind gewiss vielfältig, mir fallen ein: die z.T. im Verhältnis zu anderen akademischen Berufen geringere Entlohnung, weniger Aufstiegsmöglichkeiten. Wie oft habe ich nicht hören müssen: Ehrlich gesagt, ich hätte auf den Lehrerjob keine Lust. Lehrer wäre für mich nichts. Wieso bist du, Martin, überhaupt mit einem Einser-Abitur Lehrer geworden?

      Ursprünglich wollte ich in meiner kurzen Rede auf das schwarze Schaf bzw. die schwarzen Schafe eingehen, die es in jeder Familie mehr oder minder zwangsläufig gibt, weil durch den Kontrast das Charakteristische, das soziale Erbe einer Familie insofern sichtbar gemacht wird, als das ‚schwarze Schaf‘ dieses ignoriert, durchbricht, überschreitet. Ich habe letztendlich davon Abstand genommen, weil ich unnötigen Polarisierungen aus dem Wege gehen wollte. Deshalb spielte Onkel Hugo bei dem Treffen keine Rolle, obgleich er es verdient hätte.

      Onkel Hugo, der Bruder meines Vaters, erheiratete sich in Morgenstern einen Bauernhof, indem er die Schwester meiner Mutter heiratete, die Doppelhochzeit wurde schon thematisiert. Nachdem ihm seine Frau weggestorben war, verkaufte er kurzerhand den Hof. Vom Erlös leistete er sich u.a. ein schickes Motorrad und einen Lederanzug plus Fliegerkappe, angelte sich eine Haushälterin, Martha, die er nach der Vertreibung in der Bundesrepublik endlich ehelichte. Besonders von den Kindern, von den Bauernjungen wurde er bewundert; jedes Mal, wenn er ins Dorf hineinknatterte, liefen wir zusammen und bestaunten seine Maschine, eine Dürkopp?

      Ich kann mich freilich nur schemenhaft an Onkel Hugo erinnern. Eigenartigerweise: Je älter ich werde, desto stärker konturiert sich für mich sein Lebensweg, der diametral dem meines Vaters gegenüberstand. Für meine Eltern war er fraglos das schwarze Schaf, weil er sich – für sie unfassbar – der Verantwortung für den Hof entzog. Er wurde zwar nicht wie der Bock im alten Israel, auf den man die Sünden der Gemeinschaft übertrug, jedes Jahr vom Oberpriester rituell in die Wüste gejagt, gleichwohl auf Distanz gehalten. Er kam mindestens einmal in zwei Wochen zu Besuch, eine Provokation besonders im Sommer, wenn die Ernte im vollen Gange war und er sich zum Abendessen einlud, er schaute einfach mal vorbei, was kümmerte ihn die Arbeit der anderen. Er hatte die Plackerei auf dem Hof satt, suchte eine Alternative, fand und lebte sie unweit vom Hof seines erfolgreichen Bruders. Wie dichtete Friedrich Freiherr von Logau im 17. Jahrhundert „Brüder haben ein Geblüte, aber selten ein Gemüte.“

      In den Augen meiner Eltern war er ein arger Tunichtgut, entgegen allen Annahmen jedoch nach dem Krieg zur Stelle: versorgte uns in Bernsdorf ab und an mit Wild, vornehmlich Hasen, mithilfe selbst gebastelter Fallen trotz Verbots seitens der Polen gefangen, fühlte sich für die Familie seines Bruders verantwortlich. Lange vor uns konnte er nach dem Krieg das Land verlassen, landete im Westen und wollte uns alsdann von Zeitz aus in den vermeintlich verheißungsvolleren Teil Deutschlands holen. Die Ablehnung meiner Mutter hing, da bin ich mir fast sicher, mit seiner Person zusammen. Im Innersten verzieh sie ihm nie, dass er nach dem Tode ihrer Schwester, die mehr oder weniger zur Heirat gezwungen worden war, den Hof verhökert und sich dem Müßiggang ergeben hatte. Er schien ihr nicht vertrauenswürdig, nicht zuverlässig. Ihre Aversion wurde durch den Versuch, sie auf ihren Westreisen mit dem Bruder seiner Frau zu verkuppeln, sicherlich verstärkt. Er war am Leben geblieben, ihr Mann, unser strebsamer Vater, Vater von fünf Kindern, im Krieg umgekommen.

      Ich bedauere bis heute, dass ich ihn nicht besucht habe, als es noch ging. Andererseits stellten sich in der Jugend die heutigen Fragen nicht. Nicht, dass ich ihm hätte nacheifern wollen, da war ich zu sehr Sohn meines Vaters, indes seine Beweggründe, aus der bäuerlichen Familientradition auszuscheren, hätten mich echt interessiert.

      Es gab Zeiten, wo ich die elterliche Familie mit ihren Verwandten – den in Erzählungen und Romanen oft apostrophierten Familienrat – vermisst habe. Ein Familienrat als Vaterersatz, mir fehlte der Vater. Die enge familiäre Bindung in anderen Kulturen hat mich gelegentlich abgeschreckt, aber am Ende meines Lebens kommt mir zum Bewusstsein, die Patchworkfamilie, das Singledasein, die Lebensgemeinschaften ohne Trauschein, hin und her, zur Erziehung von Kindern bedarf es Vater und Mutter, in welcher Beziehungsform auch immer.

      Lange Zeit war ich auf der Suche nach einem Ersatzvater und fragte mich, warum mein älterer Vetter Hans Gutzmer nicht auf die Idee kam, sich um unsere Familie zu kümmern. Der Ritterkreuzträger war in der Bundesrepublik, in München, in die Wirtschaft eingestiegen, Mitglied eines renommierten Wirtschaftsklubs in Deutschland. Als er sich schließlich bequemte und aus der Ferne für mich den Eintritt in die Bundeswehr vorschlug, war ich entsetzt. Alles andere schien denkbar, nicht der freiwillige Eintritt in eine Armee, gleich welcher Couleur. Warum hatte er für mich allein den Vorschlag Bundeswehr? Zu spät, ich kann ihn nicht mehr fragen, er starb 2004 im Alter von 87 Jahren.

      Ein anderer Verwandter, ein Onkel, stellte die Existenz von Vernichtungslagern für Juden im sog. Dritten Reich in Abrede. Er las mir einen Brief vor, aus dem hervorgehen sollte, „ins KZ seien nur Kriminelle und Arbeitsscheue gekommen“. Wahrscheinlich fühlte er sich durch mich provoziert. Da kommt ein Grünschnabel daher und will den Verwandten im Westen erklären, wer schuld am 2. Weltkrieg war, dass im Osten mit der Enteignung des Großkapitals die entscheidende Ursache von Kriegen aus der Welt geschafft sei und dass sich die Verbrechen der Nazis nicht wiederholen dürften. Ich bin mir hundertprozentig sicher, dass mir damals das Argument aus dem Ahlener Programm der CDU von 1947 nicht zur Verfügung stand, wonach „das kapitalistische Wirtschaftssystem den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes