Название | Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen |
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Автор произведения | Martin Löschmann |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957446817 |
Viel mehr Zündstoff barg die Armeegeschichte. Ich, dank günstiger Umstände um einen Militärdienst herumgekommen, hatte Jörg zur Verpflichtung gedrängt, drei Jahre den ‚Ehrendienst in der Volksarmee zu leisten‘. Wie konnte ich den Jungen mit seinem empfindsamen Gemüt, seinen in der damaligen Zeit schulseitig kritisierten „individualistischen Tendenzen“ in die Zwangsjacke der Armee stecken wollen? Ja, wie konnte ich nur, und muss ich mir Vorwürfe machen oder mich gar entschuldigen? Nach den vielen Jahren wäre es gewiss keine Überwindung für mich gewesen.
Berechtigte Vorwürfe aus der Sicht meines Sohnes, obwohl sie im Laufe der Jahre in ein milderes Licht getaucht wurden. Reinigende Entschuldigungen, wie sie en vogue geworden sind, waren niemals gefragt. Um die damalige Problemlage einigermaßen korrekt zu erinnern, befrage ich den Betroffenen selber, Jahre nach dem Familientreffen und dem Entwurf dieses Kapitels. Danach stellt sich die missliche Geschichte folgendermaßen dar:
Wir waren aus Finnland und Jörg nach fast vierjähriger Unterbrechung in seine ehemalige Klasse zurückgekehrt. Trotz guter und sehr guter Leistungen hatte er aufgrund des vorgegebenen sozialen Schlüssels für die Erweiterte Oberschule gegenüber den Alteingessesenen wenig Chancen Du hast keine Chance, nutze sie! Verpflichtung nach dem Abitur, die Offizierslaufbahn einzuschlagen. Im Wissen, eine solche Verpflichtung eines Dreizehnjährigen kann nicht bindend sein, wurde von uns allen der rettende Strohhalm ergriffen. Als in der 11. Klasse erneut die Verpflichtungswelle anlief, schien uns der dreijährige ‚Ehrendienst‘ ein vertretbarer Kompromiss, 18 Monate waren ohnehin nicht zu umgehen. Außerdem winkten bessere Chancen bei der Studienplatzvergabe und ein angehobenes Stipendium. Ein Außenwirtschaftsstudium wurde greifbarer. Dass es unter dem Strich nichts mit diesem Traumfach vieler Abiturienten wurde, steht auf einem anderen Blatt, es hätte mich nachdenklich stimmen müssen. Der Sohn eines Abteilungsleiters in der Bezirksleitung der Staatssicherheit mit einem Leistungsdurchschnitt von 2,4 erhält das Wunschstudienfach, nicht mein Sohn mit seinen 1,3.
Drei Jahre Armeedienst hielt ich für zumutbar, musste mich aber durch meinen Sohn eines Besseren belehren lassen. Bis zum ersten Augenzeugenbericht hatte ich ein arg geschöntes Bild von der Nationalen Volksarmee, keine Ahnung von den misslichen Zuständen. Vieles von den Schikanen der Vorgängerarmeen preußischer Couleur gehörte offensichtlich zu dem öffentlich unterschlagenen Erbe: Bei Vergehen Scheuern mit der Zahnbürste, zusätzliches Robben im Schlamm, Mitwirken beim Datschenbau des Vorgesetzten, all das, was in dem Film NVA aus dem Jahre 2005 trefflich karikiert wird. Und was ich in seiner Tragweite dann nicht unterschätzt habe: Wer bei ‚der Asche diente‘ wurde bei den Mädchen ausgegrenzt, Uniformträger waren in den Diskos nicht erwünscht.
Auf Jörg, unseren wenige Tage vor Fuhrmanns Tochter Britta Erstgeborenen hatten wir bei dem Familientreffen auf keinen Fall verzichten wollen. Kinder müssen sich von den Eltern abgrenzen, bloß nicht einen Beruf wie den eurigen hatte er entschlossen formuliert. Sein Studium Islamwissenschaften und die nachfolgende Promotion boten ihm gute Chancen sich abzusetzen. Die Inanspruchnahme von Vitamin B in Gestalt der Fürsprache von Mariannes Freundin Sara Wilsky, um einen der heißbegehrten Studienplätze bei den Regionalwissenschaften zu ergattern, schien uns angesichts des Militärdienstes durchaus vertretbar. Die Wende ließ Jörg nicht zuletzt wegen seiner Arabischkenntnisse beim Goethe-Institut in München landen, gewissermaßen setzt er unser DaF-Wirken fort.
Suksan kam mit. Der Verlauf des Treffens gab ihm Recht, meine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Weitgehend sprachlos schwebte Su gewissermaßen unauffällig mit ihrer wohlproportionierten Mädchenfigur zwischen den anderen hin und her. Jörg konzentrierte sich weniger auf seine Partnerin, vielmehr setzte er sich umsichtig für das Gelingen des Treffens ein. Selbst Heike kam mit der Situation zurecht, die Zeit der Tränen war vergangen, und die Enkelkinder fügten sich dem Lauf der Dinge.
Ins Spannungsfeld des Treffens gehörte auch Nabil, unser Wahlsohn, über den schon an anderer Stelle geschrieben wurde. Altersmäßig zwischen uns und unseren Kindern kam er aus Mariannes allererster Gruppe, der sagenumwobenen T27, in unsere Familie und wuchs ohne größere interkulturelle Probleme in sie hinein, integrierte sich voll, übte Rechte und Pflichten eines Familienglieds aus, kümmerte sich um die Kinder, wenn wir mal nicht da waren. Der größere Bruder, der sich in der Rolle durchaus gefiel, klinkte sich gelegentlich sogar in Putzarbeiten ein, Staubsaugen seine Spezialität, das hätte er schon zu Hause gelernt.
Nabil gehört zur Familie und muss eingeladen werden. Alle waren sich einig und freuten sich sehr, als er zusagte. zweifelsohne hätte er seine Familie aus Kanada mitbringen können. Es unterblieb, zumal wir keinen nennenswerten Kontakt haben zu seiner Frau und den Töchtern, nicht einmal zu Rania, der Tochter aus der ersten Ehe mit Corinna. Corinna Harfouch dagegen kam als Überraschungsgast und bereicherte das Treffen.
Der Ablauf der Veranstaltung ist schnell berichtet: Unterbringung ‚der Auswärtigen‘ im Hotel Ibis in der Prenzlauer Allee, Brunch in unseren vier Wänden, einstündige Dampferfahrt auf der Spree durch die Berliner Innenstadt, historische Stadtmitte, Museumsinsel, Regierungsviertel und zurück; am Abend dann der Höhepunkt: Abendessen im Speisezimmer von Herr Bielig, freundliches Familienunternehmen, in Hotelnähe, Wohnzimmeratmosphäre, an der Wänden Fotos von Herrn Bieling und seinen Lebensstationen, dem Vater der beiden Betreiberinnen der Restauration. Ein Foto mit dem Namensgeber hatten wir allerdings durch mein Porträt in Öl ersetzt, auf das mich der russische Maler Bogomassov während seines vierwöchigen Besuchs 1976 als „satten Intellektuellen“ (des Malers Interpretation) gebannt hatte. Da das Porträt, das in unserer Wohnung hinter der Couch stand, den meisten unbekannt war, musste es trotz seiner eigentlich unangemessenen Größe (150 x 100) erst einmal nicht auffallen, ergab einen Gag zu späterer Stunde.
Die Gaststätte schuf von Hause aus einen angemessenen Rahmen für ein derartiges Treffen, verwies irgendwie auf den bäuerlichen Erbteil der hier Versammelten. Dass das Essen begrenzt, eher armselig daherkam, die Wirtinnen uns mit einer groben Verletzung des Preis-Leistungsverhältnisses konfrontierten, war freilich enttäuschend und gewissermaßen bloßstellend vor den lieben Verwandten. Allein der nächste Morgen richtete es mit dem Brunch im italienischen Restaurant Istoria am Käthe-Kollwitz-Platz gleich um die Ecke. Zusätzlich zur üppigen Auswahl an Gerichten stellte Marianne reichlich frischen Kaviar aus Tomsk auf den Tisch, den ich vor ein paar Tagen mitgebracht hatte.
Natürlich muss eine kurze Ansprache sein. Ich bin aufgeregt, spreche vom Sinn, von der Vorbereitung, vom Verlauf des Treffens, stelle fest, dass ich mit 14 von den Anwesenden blutsverwandt bin, zitiere, um den verdächtigen Begriff Blutsverwandtschaft zu ironisieren, Karl Kraus „Das Wort Familienbande hat einen Beigeschmack von Wahrheit“, was nicht ankommt. Den zweiten Spruch „Das Familienleben ist ein Eingriff in das Privatleben“ flechte ich erst gar nicht ein. Stelle die Altvorderen, Erna und Max Löschmann, vor, ordne mich als jüngstes und Irla als ältestes Kind ein, spreche über Dietrich, Renate und Gisela, die nicht mehr unter uns sind und alle unter uns sein könnten, wenn, ja wenn …
Nach dem Essen kommt Hesses Gedicht Stufen an die Reihe, das alle im Raum vertretenen Generationen berührt:
… und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne/Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten/An keinem wie an einer Heimat hängen/Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise/Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen/Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden/Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Anschließend darf jede Familie maximal zehn Fotos aus dem jeweiligen Familienalbum präsentieren. Die Familie von Britta und Carsten Müller aus Jena hatte die gute Idee, die enge Vorgabe 10 voll auszureizen, indem sie Collagen aus mehreren Fotos darbot.
Bei der Zusammenschau wird deutlich, dass es in unserer Familie relativ viele Lehrerinnen und Lehrer gibt und ich frage mich, ob diese Tendenz aus der früheren Wertschätzung des Berufes auf dem Dorfe herrührt. Von einem Lehrergen in unserer Familie spreche ich nicht. Der Lehrberuf kam durch Heirat in die Löschmannsche Familie. Eine Schwester meines Vaters heiratete einen Lehrer Jeschke, Paul Jeschke, der nach dem Krieg in St. Peter Ording lebte und über den eines Tages in der Hallenser Bezirkszeitung Freiheit zu lesen war, dass er die Prügelstrafe praktiziere. Da war