Название | Unerhörte Erinnerungen eines Sonstigen |
---|---|
Автор произведения | Martin Löschmann |
Жанр | Биографии и Мемуары |
Серия | |
Издательство | Биографии и Мемуары |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957446817 |
Wochen vor dem Familientreffen deutete sich an, dass Maren mit ihren Kindern, Paul und Birte, und ihr Partner nicht kommen würden. Sie fühlte sich seit längerer Zeit nicht besonders, litt zu dieser Zeit an Depressionen, war zur Kur nicht weit von Chemnitz, von ihrer Cousine Kati entfernt. Sie sagte am Ende ab, offensichtlich wollte sie dem psychischen Druck einer solchen Begegnung aus dem Wege gehen. Sie musste erwarten, dass der Tod ihrer Mutter, meiner Lieblingsschwester, in irgendeiner Form thematisiert wird. Ich lasse den Begriff Lieblingsschwester stehen, wiewohl ich eine solche Bezeichnung lange Zeit für höchst fragwürdig hielt. Irla dagegen war eher wie eine Zweitmutter für mich.
Kati war es, die Maren nach der Verzweiflungstat ihrer Mutter aus Halle-Neustadt zu uns nach Leipzig holte. Offensichtlich unter Schock hatte Maren im Zug gepfiffen, sich verhalten, als wäre nichts passiert. Auch bei uns zu Hause zeigte sie keine Spur von Betroffenheit, geschweige denn irgendeine Art von Trauer. Vergeblich versuchten wir mit ihr ins Gespräch zu kommen, die Versuche prallten wie von einer leeren Wand ab. Ihre Mutter kam bei ihr einfach nicht mehr vor, den Platz nahm Giselas Nachfolgerin ein. Erst nach Abschluss der psychotherapeutischen Behandlung und dem Familientreffen kam sie auf uns zu, um sich nun endlich selbst ein Bild zu verschaffen.
Zu unserer Überraschung gestand sie, was uns die ganze Zeit unverständlich gewesen war, dass sie von ihrer leiblichen Mutter überhaupt keine Vorstellung mehr hatte. Wir verschwiegen ihr nicht, dass es für uns bis heute unbegreiflich ist, dass Gisela sie, ein liebes Mädchen, ein vielseitig interessiertes Kind, eine sehr gute Schülerin, mit dreizehn Jahren im Stich gelassen hatte. Immer wenn Maren mit guten Leistungen im Abitur, im Studium, im Beruf, in ihrem Unternehmen Tapir glänzte, denken wir an Gisela. Wie konntest du nur, du hättest so viel Freude an deinen Kindern und Enkeln haben können.
Britta war in diesen Vorwurf Gisela gegenüber zunächst viel weniger involviert, weil sie für uns beim Tod ihrer Mutter im Vergleich zu Maren erwachsen schien. Dabei hatte sie nicht weniger am Verlust zu tragen. Heute denke ich, sie brauchte eine Mutter noch ebenso wie Maren. Sie war auch die einzige der Familie, die über Jahre in Halle-Neustadt sowohl die Grabstätte ihrer Großmutter wie die von Gisela pflegte. Obwohl ich in den 70er Jahren wenig von Friedhofsbesuchen und kommunizierte Erinnerungen für viel wichtiger hielt, hatte ich lange Zeit ein schlechtes Gewissen, weil ich Britta mit den beiden Gräbern allein gelassen hatte. Beim Familientreffen spreche ich mein passiv gebliebenes Schuldgefühl an.
Auf den entscheidenden sozialen Aspekt bei der gefühlten Familienzugehörigkeit macht Olafs erste Reaktion auf das Familientreffen aufmerksam. „Ich kenne euch doch gar nicht“, lässt sich Irlas Sohn aus zweiter Ehe vernehmen. Recht hatte er, als er in der Familie aufwuchs, trennte uns die Mauer und als sie geöffnet wurde, gingen die verschiedenen Familien auf den unterschiedlichen Generationsebenen längst ihre eigenen Wege. Ausschlaggebend für Olafs Entscheidung, mit seiner Sabine am Ende zu kommen, war wohl Geralds Rat. Er, der Ehemann der vor Jahren verstorbenen Renate, meiner Schwester zwischen Irla und Gisela, kinderlos geblieben, hatte zu Olaf eine enge Bindung aufgebaut. Meinem Schwager bin ich für seinen guten Rat noch aus einem anderen Grund dankbar.
Nach dem Tode von Renate hatte Gerald jeglichen Kontakt zu mir abgebrochen und war selbst nach dem Umbruch nicht bereit, mich anzuhören. Und das kam so: Renate war stolz auf ihren Bruder, nicht zuletzt deshalb, weil er studiert hatte. Sie hatte ihn und seine Familie unterstützt, durch ‚Westpakete‘ zu Weihnachten und mitgebrachte Geschenke, wenn sie uns besuchten, z.B. zu Katis Jugendweihe Raufasertapete, Jahre später in der DDR zu haben. Als Verwandter ersten Grades hätte ich laut Gesetz die Erlaubnis bekommen müssen, an der Bestattung teilzunehmen. Nachdem ich die traurige Nachricht von Renates Tod erhalten hatte, teilte ich Gerald sofort mit, dass ich selbstverständlich kommen werde, fest der Überzeugung, man würde mich trotz des für mich derzeit bestehenden Reiseverbots nach Dortmund fahren lassen. Mitnichten. Ich lief von Pontius zu Pilatus, hatte die Unterstützung meines Direktors, Professor Hexelschneiders. Das Verbot, ins kapitalistische Ausland zu reisen, wurde für diesen Todesfall nicht aufgehoben. Anstatt den Tatbestand meinem Schwager ohne Umschweife zu sagen, gab ich aus Angepasstheit, aus Untertanengeist, Etabliertheit, Bequemlichkeit, Feigheit, Karrieredenken – ich stand kurz vor der Habilitation – nicht den wahren Grund an, sondern hielt mich an die offizielle Sprachreglung bei solchen Fällen: plötzliche Krankheit.
Gerald konnte nur schlussfolgern, der will nicht, ist zu bequem, pflichtvergessen, undankbar, ach was weiß ich; er hat mir mein Nichtkommen niemals verziehen, ich kann es ihm nicht verdenken. Er musste meine zwei Briefe nach der Wende als kläglichen Versuch empfinden, die erzwungene Absage zu rechtfertigen. Da war indes nichts zu rechtfertigen, bestenfalls ein Versagen zu erklären. Würfe mir jemand meine vorgestanzte Notlüge vor, akzeptierte ich es voll, heute noch leide ich an meiner damals geringen Zivilcourage. Man hätte mich zwar unter keinen Umständen nach Dortmund fahren lassen, jedoch hätte ich ein besseres Gewissen.
Auch Olafs Bruder Gernot gehörte wie Birge, Tochter von Ute und Gernot, von Anfang an zu den Befürwortern des Treffens. Birge wollte, obschon hochschwanger, unbedingt teilnehmen. Allein die Geburt ihrer Tochter Karoline verhindert das. Das freudige Familienereignis wird zur gelungenen, von allen Seiten begrüßten Parallelveranstaltung: „Hallo, Birge, Onkel Martin ist gerade am Ende seiner Begrüßungsrede. Gratulation zur Geburt von Karoline und wirklich alles, alles Gute für Kind, die Mutter und den Vater, schade, dass ihr nicht hier sein könnt.“ Keine Frage, Karoline war zum Baby-Star des Treffens avanciert.
„Das Familientreffen als eine Möglichkeit des Bekanntmachens und des Kennenlernens, der Zuordnung und Einordnung, des Austausches, der Aussprache, des sich Vergewisserns, des Bewusstwerdens von sozialer Vererbung, als Möglichkeit, sich mit dem Leben der Eltern, Großeltern, von Kindern und Enkeln, der Tanten und Onkel auseinanderzusetzen. Es geht nicht um Beschuldigungen, Rechtfertigungen, Verteidigung irgendwelcher Positionen, nicht um Spiegeleffekte, schon gar nicht um die Verteilung eines Lottogewinns“, schreibe ich an Jörg, weil ich ihm einsichtig machen will, worin ich den Sinn des vorerst einmaligen Treffens sehe. Mein Schreiben war notwendig geworden, weil ich seine thailändische Partnerin, jetzt seine Ehefrau, aus seiner Sicht brüsk ausgeladen hatte und er darüber so erbost war, dass er nicht teilnehmen wollte. Heike, seine damals angetraute Frau, hatte ich nämlich zuerst von allen Familienangehörigen eingeladen, sie ist die Mutter zweier unserer Enkelkinder und gehört bis heute selbstverständlich zur Familie.
Ohne es auszusprechen, hatte ich Suksan nicht in der Planung berücksichtigt. Ausschlaggebendes Argument für mich, dass sich die beiden Frauen bisher nicht über den Weg gelaufen waren, und die erste Begegnung sollte ausgerechnet bei dem Familientreffen stattfinden. Ich sah das nicht erprobte, brisante Aufeinandertreffen von Angehörigen, die sich zum Teil bislang niemals begegnet waren, unnötig belastet. Dass wir kein Problem mit Suksan hatten, wurde Jörg unmissverständlich vorsorglich gezeigt und sie schon mal zur bevorstehenden Feier zu seiner Mutters 70. Geburtstag, ein halbes Jahr darauf, eingeladen.
Jörg sah es anders und setzte uneinsichtig kraft seiner kompromisslosen Entschlossenheit ihre Teilnahme durch. Vor seiner Zusage die sattsam bekannten Vorwürfe, in diesem Fall hauptsächlich gegenüber dem Vater, Auseinandersetzungen, die wohl in keiner Familien mit Kindern fehlen. An erster Stelle meine gefühlt Äonen zurückliegende absolut deplatzierte Reaktion auf die Frage, wie ich denn seine neue Freundin Ute fände. „Das war wohl nichts“ (In seiner Erinnerung: „Dass sie wohl nix sei“), ist meine unverzeihlich unangemessene Antwort, die sich allein durch eine völlig falsche Standortbestimmung meinerseits erklären lässt: Ich hatte keinerlei Recht und Grund, meinen Maßstab anzulegen. Ute aus meiner Sicht, der eines angehenden älteren Herrn, zu beurteilen, war fraglos eine Fehlleistung. Ich hatte kaum ein Wort mit ihr gewechselt und dann diese grobschlächtige Antwort. Wie oft habe ich mich dafür entschuldigt, sie zu tiefst bedauert. Es half nichts, „denn eine Junge mit 17 Jahren vergisst nie, wenn sein Vater über eines seiner ersten Mädchen so etwas sagt – übrigens heute eine Frau, die schon vier eigene Patente angemeldet hat.“ Ich kann meine situativ unangemessene Reaktion nicht aus der Welt schaffen, dennoch kam ich nicht umhin, meinem Sohn zu schreiben: „Wenn die Liebe daran zerbricht, dass sich ein Elternteil alles andere als begeistert