Lena Halberg: London '05. Ernest Nyborg

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Название Lena Halberg: London '05
Автор произведения Ernest Nyborg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783868411317



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Hosenanzüge. Ruth mischte sich in Shyams Leitung der Redaktion nicht ein. Sie machte mit Clark zusammen die Statistiken, half bei der Buchhaltung und absolvierte gelegentlich die offiziellen Termine, wenn ihr Sohn unterwegs war.

      »What’s next?«, fragte sie Lena nach der Besprechung, als nur noch sie beide und Clark im Raum waren, zu deren neuen Plänen. »Hast du schon ein Folgeprojekt im Auge, das 9/​11 toppen kann?«

      »Was schwer sein wird, denn es gibt nicht viele Ereignisse, die von so allgemeinem Interesse sind«, gab Lena zurück. »Ich werde jetzt einmal über die Feiertage ausspannen und überlegen.«

      »Wenn du möchtest«, warf Clark dazwischen, »stehe ich dir gerne bei einem gediegenen Abendessen für ein privates Brainstorming zur Verfügung.«

      Lena schmunzelte über die Formulierung. Clark behauptete, er stamme von einem alten Adelsgeschlecht ab und versuchte, alle Frauen damit zu beeindrucken.

      »Das ehrt mich sehr«, antwortete sie amüsiert, »aber die Antwort ist wie immer …«

      »Du wirst das eines Tages bereuen«, ergänzte er und legte die Stirn in Falten. »Sobald ich die elterlichen Ländereien in Sheffield erbe, würde ich dich mitnehmen.«

      »Ganz bestimmt«, Lena blinzelte ihn an, »und glaube mir, wenn ich zehn Jahre jünger wäre …«

      »Also«, unterbrach Ruth das scherzhafte Geplänkel der beiden und wurde wieder sachlich. »Was sage ich Shyam, wenn er zurückkommt?«

      »Dass ich meine zwei Wochen Urlaub benutze, um die Themen zu sondieren«, meinte Lena und packte ihre Sachen. »Ich melde mich dann nach Weihnachten bei ihm.«

      »Sehr gut, nach dem Erfolg mit deiner neuen Sendung sollten wir nicht zu lange warten. Wie du ja selbst weißt, die Leute lieben Sensationen und wollen gefüttert werden.«

      Lenas Wolljacke lag auf dem Beifahrersitz, die Heizung des schwarzen Mini Coopers blies auf der größten Stufe warme Luft in den Fußraum und der USB-Stick mit Chris Reas Driving home for Christmas steckte im Player – besser geht’s nicht, dachte sie.

      Der Verkehr hatte etwas nachgelassen, trotzdem ging es nur zäh voran. Für die zwanzig Kilometer bis nach Twickenham im Südwesten der Großstadt, wo Lena ihr Haus hatte, würde sie mehr als die übliche Stunde brauchen. Nur heute störte sie das nicht. Im Gegenteil, sie überlegte sogar, stehen zu bleiben, um einen Bummel einzulegen.

      Obwohl sie im Winter ihrer Leidenschaft – mit dem Motorrad über die englischen Landstraßen zu flitzen – nicht nachgeben konnte, liebte sie diese Jahreszeit. Die letzten Wochen vor Weihnachten waren für sie schon immer etwas Besonderes gewesen. Die Menschen waren freundlich, zumindest bemühten sie sich, wenn man sie daran erinnerte, und die beleuchteten Dekorationen gaben den Straßen und Plätzen der Innenstadt ein festliches Flair. Wenn dann, so wie jetzt, auch noch Schnee fiel, mischte sich das letzte Licht des Spätnachmittags mit der Straßenbeleuchtung zu einer ganz eigenen Stimmung, die Lena an ihre Kindheit in Dänemark erinnerte.

      Der kleine Ort in der Nähe von Aalborg, in dem sie aufgewachsen war, bis die Familie nach England zog, lag ebenfalls am Wasser. Der Abendhimmel über dem engen Fjord, der zur Ostsee hinauslief, hatte im Winter die gleiche rötliche Färbung in der Dämmerung. Überhaupt war das Klima durch die Nähe zum Meer ähnlich feucht und frisch wie in England. Anfangs hatte Lena unter der Umstellung sehr gelitten. Sie war erst sechs, als ihr Vater die Anstellung bei der dänischen Handelsmission in London bekam und sie von dem Dorf in die Metropole übersiedelten. Später als Teenager war sie froh, der Enge der Landgemeinde entkommen zu sein. Sie blieb dann auch in England, als ihre Eltern wieder zurückgingen. Dennoch pflegte sie ihre dänischen Freundschaften und kümmerte sich regelmäßig um die Familie in Aalborg.

      Vielleicht fahre ich zu den Feiertagen wieder einmal hin, überlegte sie, während sie auf der Great Chertesey Road über die Chiswick Bridge fuhr. Die Weite des Watts in Dänemark hatte im Winter ein außergewöhnliches Flair. Wie so oft spielte sie mit dem Gedanken, sich dort für ihren Ruhestand im Alter ein Haus zu kaufen, doch in Wahrheit empfand sie die dänische Provinz bei jedem Besuch als beengend und fuhr gerne wieder nach London zurück.

      Es war ein turbulentes Jahr gewesen, das sich dem Ende zuneigte. Das Aufdecken der miesen Geschäfte des Rüstungstycoons Bronsteen und seines korrupten Umfeldes, bis hin zu dessen Verstrickung in die Anschläge auf das World Trade Center, hatte ihr großes berufliches Ansehen gebracht. Verglichen mit ihrem tragischen Verlust kam ihr das jedoch bedeutungslos vor. Sie würde den ganzen Erfolg, den neuen Job und die gesamte Anerkennung gegen einen einzigen weiteren Tag mit Niels eintauschen. Anfangs hatten sie nur beruflich miteinander zu tun gehabt, später unternahmen sie rasante Motorradtouren durch die englische Landidylle, auf denen Lena sich in den eigenwilligen Sturkopf verliebte, der ihr in vielem sehr ähnlich war. Schließlich – eine endlose Zeit später – funkte es auch bei ihm. Niels, der sonst gerne raubeinig tat, erwies sich als gefühlvolle Ergänzung. Nach einigen belanglosen, ernüchternden Beziehungen genoss sie diese Partnerschaft.

      Zweieinhalb Wochen später musste er zu einer sehr riskanten Recherche, die ebenfalls mit Bronsteens Netzwerk zusammenhing, und kam nicht mehr zurück. Offiziell hieß es, er wäre Opfer eines Raubüberfalls im nächtlichen Rom geworden, doch Lena wusste genau, wer wirklich dahintersteckte. Sie hatte keine Chance gehabt, die Sache zu verhindern oder Niels irgendwie davor zu bewahren. Dessen ungeachtet machte sie sich Vorwürfe und das dumpfe Gefühl, versagt zu haben, blieb. Dagegen halfen weder die Aufdeckung von Bronsteens Machenschaften noch dessen späterer Tod.

      Ich brauche etwas zu essen, fiel ihr ein, was die aufkommende Traurigkeit unterbrach. Sie lenkte ihren Mini auf einen freien Parkplatz in der Nähe der kleinen Pizzeria auf der Hauptstraße. Sie hatte keine Lust zu kochen und hier gab es riesige Family-Pizzen zum Mitnehmen für sechs Pfund. Bei so einer würde sie jetzt zuschlagen, die reichte fürs ganze Wochenende. Lena kramte nach Münzen in ihrer Jacke. Normalerweise fütterte sie die Parkuhr korrekt, weil die Strafen saftig waren, wenn man erwischt wurde. Nur jetzt fand sie absolut kein Kleingeld und würde auch in wenigen Minuten wieder zurück sein. Daher ging sie das Risiko ein und ließ das Auto, ohne zu bezahlen, stehen.

      Während der Vietnamese, dem das Lokal gehörte, ihre Pizza machte, ging sie nebenan in das Lebensmittelgeschäft und holte Milch und Schokolade – jetzt war sie für das Wochenende gerüstet. Spontan fiel ihr ein, dass sie die Winterhosen aus der Reinigung holen sollte, bevor diese schloss. Sie schaute, ob eine Parkplatzkontrolle in der Nähe war, doch alles sah unverdächtig aus. Deshalb lief sie schnell zum Dry Clean und war rechtzeitig zurück, als die Pizza aus dem Holzofen kam. Geschafft – zehn Minuten und kein Parkticket!

      Der Duft der frischen Pizza mit Schinken und Mozzarella war zu verlockend, daher knabberte sie bereits ein Stück vom knusprigen Rand, als sie den Mini vor ihrem Haus in der Queens Road ausrollen ließ.

      Ich werde es mir zwei Tage lang gemütlich machen, dachte sie, fernsehen und den halben Sonntag verschlafen. Ihre Umhängtasche und die Pizzaschachtel in einer Hand balancierend, ging sie die Stufen zum Eingang hoch, suchte mit der anderen den Schlüssel in ihrer Jacke und sperrte auf. Am Boden im Vorraum lagen die Post und Berge von Werbeprospekten. Seit beinahe zehn Jahren wohnte Lena hier und genauso lange nahm sie sich vor, einen größeren Postkorb hinter dem Briefschlitz anzubringen. Sie schob den Papierstapel mit dem Fuß beiseite, ging in den Flur zur Kleiderablage und drehte im Vorbeigehen die Heizung größer.

      Sie liebte ihr Haus in der ruhigen Vorstadt im Südwesten Londons. Der rotbraune Backsteinbau mit dem vorspringenden Erker, dem hellen Steinbogen rund um die Eingangstür und den weißen Holzfenstern, die mit Sprossen in lauter kleine Quadrate unterteilt waren, strahlte eine heimelige Atmosphäre aus. Eigentlich war es für sie alleine reichlich groß – unten befanden sich eine Wohnküche mit Ausgang in den Garten, das Bad und eine verglaste Veranda, die Lena auch als Arbeitsraum benutzte. In der oberen Etage waren Wohnzimmer, Schlafzimmer mit Balkon und Kinderzimmer, das mangels Nachwuchs als Garderobe und Bügelzimmer diente.

      Lena hatte das Haus gleich bei der ersten Besichtigung gekauft, da sie vor dem Treffen mit dem Makler einen ausgedehnten Spaziergang in Twickenham unternommen