Lena Halberg: London '05. Ernest Nyborg

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Название Lena Halberg: London '05
Автор произведения Ernest Nyborg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783868411317



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die eigentliche Parallele bei den Bluttaten liegen. Es konnte demnach nur um die Bomben selbst gehen. Lena flog förmlich durch die Artikel und las die rot unterstrichenen Passagen nochmals ganz genau.

      Tatsächlich! Die Zeitungen erwähnten jedes Mal die komplizierte chemische Zusammensetzung des Sprengsatzes, die auf ein enormes technisches Wissen des Bombenbauers schließen ließ. Nachdem die Anschläge an verschiedenen Orten stattfanden und lange Zeit auseinanderlagen, war das bisher niemandem aufgefallen, sie hätte es ohne Hawk auch übersehen.

      Schlagartig wusste Lena nun, was die eigentliche Botschaft der unscheinbaren Mappe Hawks. Sie hielt den Atem an:

      Hinter all diesen Verbrechen, hinter all den Opfern, stand ein einziger Verursacher – einer, der alle diese Bomben gebaut hatte, einer, der skrupellos für jede Seite arbeitete, einer, der wieder begonnen hatte, eine Spur der Verwüstung zu ziehen.

      Der Blick über den Genfer See war an diesem Morgen atemberaubend. Die Bäume am Quai du Mont-Blanc streckten ihre dunkelfeuchten Winterarme, deren Spitzen dicht mit weißem Reif überzogen waren, in den klaren Himmel. Dahinter, im blitzenden Wasser des Sees, abgedeckt mit eisstarren Planen, lagen einige Boote in der tief stehenden Sonne.

      Jan Nimhaaven saß im Cottage Café, dem kleinen Ziegelbau mit Holzdach am Südufer des Sees, direkt hinter dem Brunswick Monument, dem bedeutenden Grabmal Herzog Karls des Zweiten. Er mochte das Lokal in dem alten Gebäude mit seinen dunklen Parkettböden, den kitschigen Stuckdekorationen und den charmant antiquierten Möbeln vom Flohmarkt. Es hatte etwas sehr Individuelles, ohne aufdringlich zu sein, und auch etwas Beruhigendes, was die Konzentration förderte. Wenn er in Genf zu tun hatte, in seinem Job war dies relativ oft der Fall, ging er nach dem Frühstück im Hotel stets hierher, nahm einen kleinen Mokka, dachte über seine Vorhaben nach und bereitete sich auf die Sitzungen des Tages vor. Die freundlich entspannte Atmosphäre, die hier auch schon früh um acht herrschte, empfand er als angenehmen Gegensatz zu den geschäftlichen Terminen, bei denen jeder versuchte, sein Pokerface aufzusetzen, um sich nicht durch eine persönliche Haltung angreifbar zu machen.

      Nimhaaven war Mitarbeiter der Europäischen Kommission und einer der geladenen Delegierten bei den Genfer Gesprächen. Diese informellen Beratungen fanden in regelmäßigen Abständen zwischen Europa und Amerika statt. Durch ein umfassendes Programm zu grundsätzlichen Problemen kam den Treffen eine besondere Bedeutung zu. Auf diskret neutralem Boden wurden die prinzipielle Haltung der Nato zu wichtigen Angelegenheiten erarbeitet und die Weichen für eine gemeinsame Vorgehensweise gestellt.

      Heute war ein bedeutender Tag für den niederländischen Abgeordneten, denn er übernahm den Vorsitz in einer der Arbeitsgruppen, die am Rande der Tagung stattfanden und die er selbst initiiert hatte. Es ging um die Siedlungspolitik Israels – ein Thema, das ihn seit Jahren beschäftigte und bei dem er ständig versuchte, die Union zu einem schärferen Vorgehen zu bewegen. Nimhaaven war ein erklärter Gegner Israels, was er gerne hinter politischen Sachargumenten verbarg. Die meisten Länder der EU, auch sein eigenes, waren sehr vorsichtig in ihren Aussagen und auch mit den USA war nicht zu rechnen. So hatte es lange gedauert und viel an Lobbyarbeit bedurft, um seine Kollegen für Verhandlungen über einen Boykott zu gewinnen. Den Ausschlag gab schließlich der französische Delegierte Bernhard Roux, der großes Ansehen bei den Mitgliedern genoss und sich von den Argumenten überzeugen ließ.

      Nimhaaven stand auf und zahlte seine Mokkas, drei waren es gewesen. Es wurde langsam Zeit, hinüber ins Kempinski zu gehen, das nur fünf Minuten entfernt an der gleichen Uferpromenade lag. Er wollte sich auf dem Zimmer frisch machen und sein Eröffnungsreferat durchgehen.

      Es war klirrend kalt und der Wetterbericht der Acht-Uhr-Nachrichten meldete für Genf die ersten Tage mit Temperaturen unter minus zehn Grad für das zweite Wochenende im Dezember. Die sonst gut frequentierten Gehwege entlang des Ufers am Quai schienen wie leergefegt. Jeder, der am Samstag zu dieser Stunde schon unterwegs sein musste, saß im Auto, nahm die Tram oder benutzte einen der Trolleybusse.

      Trotz der Kälte trug Nimhaaven nur eine kurze Jacke und keine Kopfbedeckung. Mit seinen hundertdreißig Kilos litt er unter zu hohen Temperaturen und fürchtete bereits die lange Sitzung im überheizten Léman B, dem Tagungsraum, den sein Sekretariat für das Wochenende gemietet hatte. Es war das kleinste Besprechungszimmer des Hotels, aber seine Arbeitsgruppe bestand vorerst nur aus fünf Mitgliedern.

      Er mochte das Hotel mit seinen antiquierten Suiten, den Marmorbädern und dem riesigen Glasportal, dessen Eingang man von der Straße aus über eine Holzbrücke erreichte. Architektonisch war es ein ziemlicher Klotz, doch innen erinnerte ihn das Foyer – mit dem spiegelnden Steinboden und dem von innen beleuchteten Rezeptionspult – an Las Vegas, wohin er sich mindestens einmal im Jahr eine Reise gönnte und seiner Spiellust frönte. Im guten alten Europa hatte er das strikt unter Kontrolle, ging nur ab und an in ein Casino, um die Atmosphäre zu schnuppern. War er aber in einem der Spielertempel in der Wüste Nevadas, unbeobachtet und unter Gleichgesinnten, gab es kein Halten mehr. Nicht selten verzockte er in wenigen Tagen die Hälfte seines Jahreseinkommens, das mit allen Vergütungen, Taggeldern, Spesenabgeltungen und Zusatzeinnahmen für diverse Gefälligkeiten so um die Dreihunderttausend betrug. Was soll’s, dachte er dann, man lebt nur einmal und als bekennender Single habe ich keine Familie, für die ich sorgen müsste.

      Er fuhr hinauf in seine Junior Suite mit Seeblick, schlüpfte aus seiner Jacke und der Cordhose und duschte ausgiebig. Danach föhnte er seine schütteren Haare, damit sie exakt die kahlen Stellen überdeckten, zog seinen dunkelgrauen Anzug an und entschied sich für die weinrote Krawatte mit den feinen weißen Punkten.

      »Wie Ihnen allen hinlänglich bekannt ist, sind in den letzten zwanzig Jahren über dreißig Milliarden Dollar in die Palästinensergebiete geflossen, die zum Großteil in unkontrollierbaren Firmengeflechten versickern. Alleine von uns, der Europäischen Union, kamen mindestens acht Milliarden, der Rest aus den USA, den Golfstaaten und aus verschiedenen Sozialwerken der Vereinten Nationen.« Nimhaaven war mitten in dem Referat und in seinem Element. Endlich kam Bewegung in die Sache. Er schob mit einer zufriedenen Geste seine randlose Brille zurecht, um besser lesen zu können, und ging in seinem Text weiter. »Von den Zahlungen profitiert nicht die Bevölkerung, sondern überwiegend Konzerne, die sich in Gaza und im Westjordanland bedienen. Die Gründe sind Korruption und verfehlte Siedlungspolitik.«

      Er sah in die Runde, die seinen Ausführungen eher gelangweilt folgte. Nur einer der Teilnehmer machte sich Notizen.

      »Bereits seit längerem gibt es deshalb strengere Zollgesetze für diese Gebiete und Projekte dieser Unternehmen erhalten keine Fördergelder mehr«, fuhr Nimhaaven fort. Er entschloss sich, den Vortrag abzukürzen und zum entscheidenden Punkt zu kommen. »Der Effekt dieser Maßnahmen ist aber bislang gering, womit es – im Interesse der Menschen – an der Zeit ist, eine härtere Gangart einzuschlagen und eindeutige Sanktionen gegen Israel zu verhängen. Der erste Schritt muss daher sein, die finanziellen Mittel einzufrieren und die geplanten Investitionen auszusetzen, bis die bestehenden korrupten Kanäle trockengelegt sind.«

      *

      Ron Gazzarah saß in der zweiten Etage des Kempinskis bei einem der Panoramafenster der Floor-Two-Lounge und nippte an dem Black Russian on the rocks, ein doppelter Wodka mit Kaffeelikör, den die Bedienung eben gebracht hatte. Er war von der israelischen Botschaft als offizieller Medienbeobachter der Gespräche akkreditiert, die wirklichen Gründe für den Besuch in Genf lagen für einen Operationschef des Geheimdienstes aber auf anderen Gebieten. Er warf keinen Blick hinaus auf den See oder die spektakuläre Kulisse der Alpen dahinter. Der herrliche Tag vor den Fenstern interessierte ihn nicht. Die Dinge spitzten sich auf mehreren Ebenen zu – von seinem Informanten in der Arbeitsgruppe Nimhaaven wusste er, dass die Entwicklungen demnächst eine härtere Gangart erfordern würden, vom verdeckt laufenden Einsatz im Libanon fehlte jegliche Information und später musste er noch diesen unangenehmen Kanadier abwimmeln. Er checkte zum wiederholten Mal seine Mails, wieder war keine aus Beirut dabei.

      »Ah, Ron, ich habe dich schon in der Bar gesucht.«

      Die sonore Stimme beendete Gazzarahs Suche nach einer Mail. Er steckte sein Handy ein und begrüßte