Lena Halberg: London '05. Ernest Nyborg

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Название Lena Halberg: London '05
Автор произведения Ernest Nyborg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783868411317



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fiel es ihm nur auf, da die Farbe grell aus dem ganzen Dreck hervorleuchtete. Die Puppe, durchzuckte es Tom, die Puppe, die das Mädchen zuvor in der Hand hielt, mit der sie ihm gewunken hatte! Er überwand seinen Abscheu und stieg mit einem Fuß über den Körper der Frau, um an den Kunststoffteil heranzukommen, hinter dem die Puppe hervorschaute. Er hob ihn an – da lag das Mädchen. Es war nicht bei Bewusstsein, es atmete und wimmerte leise. Das war der Laut, den Tom gehört hatte. Auf der Brust unter ihrem Hals war eine große blaurote Schwellung, einer ihrer Arme sah aus, als wäre er mehrfach gebrochen und von der Stirn sickerte Blut aus einer Wunde in die blonden Haarlocken. Aber sie war am Leben, der Teil der Plastikwand hatte sie anscheinend wie ein Schild geschützt.

      Tom sah, dass ein Trenchcoat zwischen zwei verbeulten Sitzen steckte. Er riss ihn heraus und legte ihn auf den Boden. Ganz behutsam fasste er das Mädchen mit beiden Händen und zog es unter dem Wandpaneel hervor. Den gebrochenen Arm presste er an den kleinen Körper und achtete darauf, nicht auf die Schwellung zu drücken. Tom hatte keine Ahnung, ob er das überhaupt machen durfte, der Erste-Hilfe-Kurs in der Fahrschule war verdammt lange her. Trotzdem hob er die Kleine über die Leiche – wobei er vermied, in das halbe Gesicht der Frau zu blicken – und legte sie sachte auf den Mantel. Er wickelte sie fest ein, um den Arm zu stabilisieren und ihre Wunde vor dem ätzenden Rauch zu schützen. Die rote Puppe, die ihn auf das Kind aufmerksam gemacht hatte, packte er dazu. Danach stieg er vorsichtig aus dem Trümmerfeld hinunter auf die Gleise und turnte über die herumliegenden Blechteile zurück zum hinteren Ende des Zugs.

      Fahrgäste in anderen Waggons, an denen er vorbeimusste, hämmerten mit den Fäusten gegen die Fensterscheiben, um sich bemerkbar zu machen. Tom versuchte vergeblich, mit der freien Hand eine der Schiebetüren aufzubekommen. Er fand keinen Notmechanismus, die Rahmen waren verzogen und ließen sich kein Stück bewegen. Tom deutete den Passagieren beruhigend, dass bald Hilfe käme. Dann ließ er sich mit dem verletzten Mädchen im Arm nicht weiter aufhalten und rannte zurück Richtung King’s Cross.

      Diese verdammten Röhren, dachte er im Laufen bitter, der Wahnsinn des Massentransports. Drei Millionen Passagiere fuhren täglich stundenlang durch die vierhundert Kilometer langen Tunnel der Underground, die in einer Hassliebe nur als The Tube bezeichnet wurde.

      Als Tom die Plattform erreichte, herrschte ziemliche Ratlosigkeit. Nachdem sich der Schrecken gelegt hatte, standen jetzt jede Menge Neugierige herum, die sich lautstark darüber unterhielten, was geschehen sein könnte. Mehrere Polizisten gingen auf und ab, versuchten den Bahnsteig zu räumen. Sie sprachen über Funkgeräte mit Einsatzkräften, denen sie einen Lagebericht gaben, während sie die gaffenden Leute zu den Ausgängen wiesen. Die Signale standen alle auf Rot. In regelmäßigen Abständen kam eine Durchsage, dass der Verkehr auf der Linie aufgrund eines Stromausfalls unterbrochen sei und der Bereich deshalb geräumt würde. Auch auf allen Infoscreens der weitläufigen Doppelstation blinkte die Anzeige, man möge die Station verlassen.

      »Stromausfall«, murmelte Tom vor sich hin, »das sagen sie nur, um eine Panik zu vermeiden.«

      Zwei Bahnbeamte in Uniform kamen ihm entgegen. Schon von weitem riefen sie, was er hier mache, welche Befugnis er habe, einfach in den Tunnel zu laufen. Glücklicherweise gäbe es einen Stromausfall, meinten sie, sonst hätte er sich verletzt, das Betreten sei gefährlich und für Zivilpersonen bei Strafe verboten.

      In Tom stieg ein unbändiger Zorn über so viel Bürokratie und Engstirnigkeit auf.

      »Lächerlich!«, fuhr er sie an, ohne stehen zu bleiben. »Das war kein Stromausfall! Den vorderen Waggon der U-Bahn hat es komplett zerrissen, in den Trümmern liegen jede Menge Leichen.«

      »Erzählen Sie keine Märchen«, gab einer der Beamten zurück. Er zitierte einen Paragraphen aus der Bahnverordnung über das Betreten von Geleisen.

      Tom zeigte empört auf das bewusstlose Mädchen. »Glauben Sie, das macht ein Stromausfall? Wenn ich nicht das verletzte Kind tragen müsste, würde ich euch zwei Idioten auf der Stelle mit einer saftigen Beschwerde bei eurem Vorgesetzten abliefern!«

      Wütend schloss Tom noch einige grobe Bemerkungen an. Er merkte, wie gut ihm das Schreien tat, es befreite ihn von seiner eigenen Spannung und machte der Beklemmung Luft, die ihm seit dem Anblick der vielen Toten in der U-Bahn die Kehle förmlich abschnürte.

      »Kommen Sie, ich helfe Ihnen!«, rief jetzt ein Herr vom Bahnsteig herunter, der die Szene beobachtet hatte. Er streckte Tom hilfreich die Hände entgegen. »Lassen Sie die beiden Hohlköpfe stehen.«

      Tom wich den Beamten aus, warf ihnen aber einen feindseligen Blick zu. Die beiden sagten noch etwas, aber er hörte gar nicht mehr hin und ging zur Kante der Plattform. Der Mann am Bahnsteig fasste ihn beim Arm und zog ihn hoch. Er trug trotz der Hitze einen Anzug. Als sich ein Ärmel des Sakkos hochschob, fiel Tom eine Tätowierung am Handgelenk des Mannes auf, die wie ein Armband mit mehreren feinen Linien rundum lief.

      Schöne Arbeit, dachte Tom, der schon öfter überlegt hatte, selbst auch ein Tattoo zu tragen. Gleichzeitig wunderte er sich darüber, dass er in dieser Situation überhaupt an so eine Belanglosigkeit denken konnte.

      »Danke«, sagte er und atmete durch.

      »Keine Ursache«, antwortete der Fremde, »brauchen Sie etwas? Soll ich versuchen, die Rettung anzurufen?«

      »Nein, besten Dank«, gab Tom zurück. »Ich habe selbst ein Mobiltelefon, aber hier unten gibt es kein Netz. Ich schaue, dass ich oben einen Arzt finde.«

      »Sie sind doch der, der sofort nach dem Knall in den Tunnel lief, um zu helfen«, stellte der Mann anerkennend fest. »Was ist mit dem Kind?«

      »Ich weiß es nicht. Es war eingeklemmt, hat zum Glück aber die Explosion überlebt.«

      »Explosion?« Der Fremde schaute überrascht. »Dann sind die Durchsagen über dem Stromausfall falsch?«

      »Ganz sicher«, gab Tom zurück, »oder reißt ein Stromausfall die ganze Seitenwand eines U-Bahn-Wagens weg?«

      Der Fremde schüttelte den Kopf.

      Tom bedankte sich, drehte sich um und eilte weiter zu den Rolltreppen.

      »Viel Glück für Sie und das Kind«, hörte er den Fremden noch hinter sich sagen. »Würden alle Menschen solchen Respekt vor dem Leben anderer haben, wäre vieles nicht nötig.«

      Tom fand die Bemerkung übertrieben, aber zumindest war der Mann hilfreich gewesen, nicht so wie die beiden lächerlichen Bahnbeamten mit ihren Vorschriften. Er wischte sich mit einem Taschentuch den Schweiß aus dem Nacken, während er kurzatmig zum Ausgang hastete.

      Die Rolltreppe war überfüllt. Tom fühlte sich in dem Gedränge unwohl. Anfang Juli stand die Luft bereits am Morgen aufgeheizt zwischen den Betonmauern und mischte sich mit den stickigen Abgasen des dichten Berufsverkehrs. Der warme, säuerliche Geruch der Menge, mit dem Aroma unterschiedlicher Sorten billiger Deo-Sprays, machte es nicht erträglicher.

      Mit entschuldigenden Worten zwängte er sich an den Passanten vorbei. Die meisten wichen zur Seite aus und machten Platz, nur einige murrten. Sie meinten, alle wollen schnell nach draußen und drängen mache keinen Sinn. Sie verstummten aber, als sie das verletzte Kind sahen.

      Auf dem King’s Cross, der breiten Kreuzung vor der Station, war der Verkehr angehalten worden. Die Polizei begann abzusperren, um die Fahrbahnen für eintreffende Einsatzfahrzeuge freizuhalten. Aus dem Bahnhof strömten Verwundete auf die Straße, der riesige Knotenpunkt der Piccadilly Line im Zentrum Londons war nun heillos verstopft. Die Uhr am Bahnhof zeigte kurz nach neun. Wie immer um diese Zeit war der Zug randvoll gewesen.

      Viele der Fahrgäste, auch wenn sie nicht unmittelbar in der Nähe des ersten Waggons waren, hatten sich im Tumult nach der Explosion und während der darauf folgenden chaotischen Flucht aus dem Tunnel verletzt. Die Rettungswagen verließen mit laufender Sirene die Kreuzung. Es waren zu wenige, um den Ansturm zu bewältigen, so versorgten die Sanitäter viele Verletzte direkt vor Ort, legten sie auf Decken am Boden oder setzten sie zum Verbinden auf abgestellte Tragen.

      Tom sprach im Vorbeigehen zwei der Sanitäter an. Sie deuteten, nach einem kurzen Blick, in die Richtung