Die Geschichte der Zukunft. Erik Händeler

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Название Die Geschichte der Zukunft
Автор произведения Erik Händeler
Жанр Зарубежная деловая литература
Серия
Издательство Зарубежная деловая литература
Год выпуска 0
isbn 9783865064356



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Kondratieffs wirkt mächtiger, als der nächste Strukturzyklus schon Beschäftigung aufbauen kann.

      3. Kondratieffabschwung Die schlimmste Wirtschaftskrise unserer Erinnerung

      Keine Weltwirtschaftskrise ist so stark im kollektiven Gedächtnis wie die ab 1929. Selbst Jahrzehnte danach »sind sich die Experten noch immer nicht darüber einig, worin die Ursachen der Depression lagen«, schreibt der Wirtschaftshistoriker Rondo Cameron58, immerhin Herausgeber des »Journal of Economic History«. Was die etablierte Wirtschaftswissenschaft dafür an Gründen diskutiert – Kriegsfolgen, Deflation, Agrarkrise, weltweiter Protektionismus und Verteilungskämpfe zwischen Arbeitern und Unternehmern – hat die große Weltwirtschaftskrise aber nicht ausgelöst. Das sind lediglich Symptome und Folgen eines erschöpften Kondratieffzyklus. Auch die Siegerpolitik beschleunigt die Depression nur, besonders in Deutschland.

      Wieso soll auch ein Weltkrieg einmal für eine Depression und ein anderes Mal, nach 1945, für ein Wirtschaftswunder verantwortlich sein? Und auch der große Börsenkrach im Oktober 1929 hat keine Krise ausgelöst, sondern nur die schon bestehende weiter verstärkt – schon lange vorher, Mitte 1927, produziert die Industrie in gedrosseltem Tempo. Bei genauerem Hinsehen wird klar, dass die 20er Jahre nur »golden« sind, wenn man sie aus der Sicht der Kriegs- und Hungerjahre betrachtet: In Wirklichkeit hastet diese Zeit wie in jedem Kondratieffabschwung von Krise zu Krise.

      Warum die Wirtschaft Ende der 20er Jahre schrumpft, erschließt sich einem, wenn man sieht, dass die meisten Fabriken jetzt elektrifiziert und die meisten Haushalte mit Strom versorgt sind (siehe Grafik S. 98). Weil die Produktivität nicht mehr im selben Tempo wächst, wirkt der Mechanismus des Kondratieffabschwungs: Die Gewinne schmelzen dahin, die Preise fallen, die Unternehmen flüchten in Überproduktion, die keiner braucht. Wirtschaftliche Verteilungskämpfe senken die Löhne und zerstören den Rechtsstaat. Die Zinsen sinken. Und weil es sonst keine rentablen Investitionsmöglichkeiten gibt (und die neuen Wachstumsmotoren noch nicht stark genug sind), fließt das Geld wie 1873 in die Spekulation mit Aktien. Die Kurse schießen so unrealistisch nach oben, dass sie hinterher umso tiefer fallen. Der Rest sind Begleiterscheinungen des langen Abschwungs: Kurzfristige US-Kredite werden aus Deutschland abgezogen, die geliehene Konjunktur fällt auf den Boden der Realität zurück, es mangelt an Liquidität, Banken und Firmen brechen zusammen, protektionistische Zölle unterbinden den Welthandel noch stärker, die Absatzkrise verschärft sich, die Arbeitslosigkeit explodiert. Aber der Reihe nach.

      Die sozialen Erscheinungsweisen des Kondratieffabschwungs sind sehr gut in den Kinderbüchern von Erich Kästner nachzulesen: Die Krise verstärkt die Straßenkriminalität, Alleinerziehende überleben sehr mühsam (»Emil und die Detektive«), Ehescheidung, verdeckte Arbeitslosigkeit und von außen erzwungene berufliche Belastung zerstören Familien (»Das doppelte Lottchen«), die unteren Schichten sind von der Krise stärker betroffen, die Schere zwischen Arm und Reich geht weiter auseinander, und gerade Kinder müssen früh in die Lücken springen, weil Eltern aus wirtschaftlichen Gründen mit dem Leben nicht mehr fertig werden und Krankheit in den wirtschaftlichen Ruin führt (»Pünktchen und Anton«). Wir werden diese Bücher jetzt wieder brauchen. Weil sie Kinder ermutigen, nicht zu resignieren, sondern sich untereinander und den Erwachsenen zu helfen. Außerdem beschreiben sie eine lang andauernde Strukturkrise ebenso real wie akademische Geschichtsbücher.

      Zum einen – ja: Der Krieg schwächt die europäischen Länder. 1919 müssen in Deutschland sechs Millionen Soldaten wieder ins Arbeitsleben integriert werden. Die Landwirtschaft erntet nur zwei Drittel der Vorkriegsmenge und die Industrie erzeugt 38 Prozent von 1913. Der Versailler »Vertrag« nimmt den Deutschen einige Grundlagen ihres Wohlstands: Sie müssen alle Handelsschiffe über 1600 Bruttoregistertonnen abliefern, dazu 5000 Lokomotiven und 150.000 Waggons. Patente und Lizenzen, die vor 1914 die deutsche Zahlungsbilanz aufgebessert haben, ziehen die Alliierten ein. Mit Elsass-Lothringen, erst 1871 annektiert und jetzt wieder an Frankreich angeschlossen, verliert das Reich drei Viertel seines Eisenerzes sowie ein Viertel seiner Kohleproduktion – damals die Basis für fast alle Wirtschaftszweige und damit so wichtig wie später Erdöl oder heute Computerbausteine.

      Außerdem hat Deutschland Reparationen an die Sieger zu zahlen. Mit einem bis vier Prozent des jährlichen Bruttosozialproduktes (in Höhe von 50 Milliarden Reichsmark) sind diese aber eher ein psychologisches denn ein wirkliches Investitionshemmnis. Das ist nur etwa so viel, wie die Deutschen nach dem Ölschock 1973 für ihr Rohöl mehr bezahlen müssen und damit kein Grund für eine schwere Rezession. Das Problem sind also nicht die Reparationen, sondern das veränderte Weltwirtschaftsklima: Vorher, während des langen Kondratieffaufschwungs, haben die Deutschen Devisen im Export gut erwirtschaften können. Das ist jetzt im Abschwung für die Nachbarn ein Problem: Schon wieder würden sie Marktanteile an deutsche Firmen verlieren, deren wirtschaftliche Konkurrenz sie doch gerade erst in einem verlustreichen Krieg niedergekämpft haben. Ihre eigene Arbeitslosigkeit würde weiter steigen. Sie fangen an, ihre Grenzen für ausländische, erst recht für deutsche Waren zu schließen.

      Weil die Deutschen die Reparationen jetzt nicht mehr im Export verdienen können, bieten sie Frankreich und Belgien an, die im Krieg zerstörten Ortschaften direkt wieder aufzubauen – mit eigenen Arbeitern und selbst geliefertem Material. In einem langen Kondratieffaufschwung, wenn Produktionsfaktoren wie Arbeiter und Material knapp sind, hätten diese das deutsche Angebot gerne angenommen. Aber so ist es wie früher in den 1880ern: In einem langen Kondratieffabschwung konkurrieren die Akteure eben nicht mehr um Ressourcen, sondern um Märkte. Das Überangebot an Produktionskapazität, ausgebildeten Fachleuten und sonstigem Kapital kann gar nicht ausgelastet werden – die Preise sind unter Druck. Deswegen stößt das deutsche Angebot, Dörfer und Städte in ihrem Land selber aufzubauen, auf den Widerstand innenpolitischer Lobbys – auch das ist Konkurrenz für die eigenen Firmen.

      Deutschland kann 1924/​25 nur 57,5 Prozent des Handelsvolumens von 1913 exportieren. Seine Handelsbilanz bleibt stets negativ – das heißt, Deutschland kauft zum Beispiel im Jahr 1925 ein Viertel mehr im Ausland ein, als es umgekehrt ins Ausland verkaufen kann. Die Lücke in Höhe von drei Milliarden Mark finanziert das freie, weltweit nach Anlagemöglichkeit suchende amerikanische Fremdkapital – was Deutschland so anfällig macht für den Moment, als die Amerikaner in der Weltwirtschaftskrise ihr kurzfristig verliehenes Kapital aus Deutschland abziehen.

      Aber auch die Nachbarn stehen finanziell auf wackeligen Beinen: Ihre Kriegsausgaben haben sie mit US-Krediten finanziert. Weil es lange Zeit so ausgesehen hat, als wenn Deutschland siegen würde, haben die Amerikaner um ihr Geld fürchten müssen und sind auch deswegen in den Krieg gegen Deutschland eingetreten. Danach bitten Frankreich und England die USA, ihnen einen Teil ihrer Schulden zu erlassen – was die USA kategorisch ablehnen. Anders als später im Aufschwung nach dem Zweiten Weltkrieg haben sie keine Ressourcen zu verschenken. Das ist der Grund, warum Frankreich so unerbittlich Reparationen von Deutschland fordert. Um dem Nachdruck zu verleihen, marschiert es 1923 ins Rheinland ein und löst damit eine Hyperinflation aus.

      Normalerweise wird Geld vor allem am Ende eines langen Aufschwungs weniger wert, wenn in der Hochkonjunktur alle Produktionsfaktoren knapp sind und die Preise steigen. Die Inflation von 1923 dagegen – zu Beginn des langen Abschwungs – ist künstlich: Schon