Zwei Freunde. Liselotte Welskopf-Henrich

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Название Zwei Freunde
Автор произведения Liselotte Welskopf-Henrich
Жанр Историческая литература
Серия
Издательство Историческая литература
Год выпуска 0
isbn 9783957840127



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auch nur Illusionen und waren hysterisch. Wichmann hörte ihnen mit Neugier zu, um ihre Wesensart zu ergründen. Der einzige, der sich ebenso schweigsam wie er selbst verhielt, war der Regierungsrat Loeb. Das Schweigen der beiden Herren begann sich allmählich anzuziehen, und als die Schar der Gäste sich noch vergrößerte und man die Plätze wechselte, fanden sich Wichmann und Loeb beim geöffneten Fenster zusammen. Ihre Teetassen stellten sie auf den Sims. Zigaretten rauchend schauten sie auf den stillen Kanal draußen im Sommerdunkel.

      »Sie sind zum erstenmal hier, Herr Wichmann?«

      »Ja.«

      »Dann haben Sie den frischeren Eindruck. Was halten Sie von dieser Menschenart, die sich hier ein Stelldichein gibt?«

      »Die Leute sind nicht langweilig. Über Weiteres bin ich mir selbst noch nicht klar.«

      »Unklarheit ist auch das wesentliche Kriterium dieser Intellektuellen. Es gibt nichts so Unklares wie einen Menschen, der den Boden erst einmal unter den Füßen völlig verloren hat und im geistigen Weltenraum ohne festen Beziehungspunkt herumtaumelt.«

      »Ohne festen Beziehungspunkt? Ich habe das Gefühl, daß diese Menschen mit ihren Ansichten viel fester auf ein Reißbrett gespannt sind als ich.«

      »Lassen Sie sich davon nicht irremachen. Das Milieu hier gleicht einem Fieberthermometer. Das Steigen der europäischen Krankheitstemperatur kann an solchen Erscheinungen gemessen, aber nicht davon beeinflußt werden.«

      »Wieviel Grad schätzen Sie zur Zeit?«

      »Achtunddreißig – aber das Fieber wird von jetzt an rasch in die Höhe gehen.«

      »Davon sind Sie überzeugt?«

      »Ich weiß es.«

      »Dann gebrauchen Sie das Wort ›wissen‹ nicht nur im Sinne der Erfahrung und der exakten Wissenschaft?«

      »Ich gebrauche es im Sinne der Wissenschaft. Sie werden sehen, daß ich recht behalte.«

      Wichmann blies den Rauch aus und blickte nachdenklich auf das träge Wasser hinunter.

      »Mir scheint, daß ich viel weniger entschieden zu Welt und Leben Stellung nehme als Sie, Herr Loeb.«

      »Sie sind weniger hysterisch als die meisten Anwesenden hier. Wenn Sie sich aber mit mir vergleichen, so müssen Sie sich eingestehen, daß Sie noch nicht in eine entscheidende Situation gekommen sind. Vergessen Sie nicht, daß ich Jude bin!«

      »Sie sind deutscher Beamter.«

      »Auch das, nachdem man mich in Kenntnis meiner Volkszugehörigkeit dazu berufen hat.«

      Loeb sprach alle seine Sätze stolz und abgehackt.

      Wichmann hätte gern mehr darüber erfahren, was diesem Mann seine Festigkeit gab.

      »Der Unterschied zwischen uns ist nicht nur darin begründet, daß Sie Jude sind«, forschte er nachdenklich. »Sie sind auch anders als Herr Nathan.«

      »Glücklicherweise.«

      »Herr Nathan ist auch mir unsympathisch, aber ich glaube, er leidet darunter, daß er sich als Jude verachtet glaubt. Das ist bei Ihnen nicht der Fall.«

      »Herr Nathan hat weder eine Weltanschauung noch einen Charakter. Er ist nur die Karikatur eines Charakters. Sein Vater war ein Kleinkrämer in einer Kleinstadt, mächtig und zugleich verachtet. Dieses Milieu hat unseren Kollegen vollständig verkrümmt. Er ist ein hoffnungsloser Fall. Ich bin anders geworden als er, ja. Aber Sie sind ja auch anders als – sagen wir – als Herr Borowski. Die Front teilt die Völker mitten durch.«

      Wichmann nickte. »Sogar mitten durch die Ministerien.« Loebs Gesichtsausdruck wurde ironisch. »Haben Sie die soziologischen Delikatessen in unseren Büros schon geschmeckt?«

      »Ich bin noch naiv, Herr Loeb.«

      »Das sind Sie. Aber Sie sind entwicklungsfähig. Der Charakter Ihrer Schrift ist mir in dieser Richtung nicht weniger aufschlußreich als Ihr Verhalten.«

      »Sie deuten Schriften?«

      »Es ist für mich ein Versuch, Menschen zu deuten. Was halten Sie von Grevenhagen?«

      Wichmann versuchte, in dem Gesicht seines Gesprächspartners zu lesen, aber er fühlte, daß er selbst dabei rot wurde, und senkte, ärgerlich über die eigene Verlegenheit, den Blick. »Er ist mein Chef.«

      »Er kommt aus der traditionellen feudalen Sphäre, Wichmann. Übriggebliebene Ehrbegriffe, Treuebegriffe, bei Grevenhagen persönlich schon von der materiellen Basis des Grundeigentums abgelöst, aber noch verfangen in dem entsprechenden Ideenkreis solcher Herren. Zwiespältig also, verschroben, leicht verwundbar. Boschhofer dagegen ist bayrische Landwirtschaft und Industrie auf agrikoler Grundlage. Traditionsbewußt und geschäftstüchtig, massiv. Aber ängstlich, wenn es an juristische und statistische Fragen geht, damit kennt er sich nicht aus und wird das, was man bei den Hunden einen Angstbeißer nennt. Kortis, Nischan, Lemme – Lemme kennen Sie noch nicht – allerhöchster Personalchef – diese drei sind Partei der Großindustrie diverser Schattierungen sowie ihrer Trabanten. Der Kampf der Gruppen untereinander ist sehr interessant und spezifisch deutsch, da wir allein noch am Feudalismus kranken.«

      »Sie ziehen also Nischan oder Boschhofer Herrn Grevenhagen vor?«

      »Sie verwechseln das Individuum und die Klasse, der es zugehört. Die Menschen gehen bei uns in ihren Charaktermasken zugrunde. Um Grevenhagen ist es schade. Ich ziehe für die Zukunft den Sozialismus vor. Lesen Sie bei Gelegenheit das ›Manifest der Kommunistischen Partei‹.«

      Das Gespräch wurde durch Musa unterbrochen, der eine Frage an Loeb hatte. Wichmann benutzte die Gelegenheit, um langsam weiterzugehen.

      Er fühlte sich unsicher wie ein Fisch, der in einem fremden Teich abgesetzt worden ist. Ohne sich in die lebhaften Diskussionen rings mehr einzumischen, hielt er sich an seine Zigarette und inspizierte das zweite Zimmer, das den Gästen ebenfalls zur Verfügung stand. Es war nur durch einen roten Vorhang in der Türöffnung von dem ersten getrennt und enthielt an Möbeln nichts als Schrank und Couch. Mit materieller Ausschmückung des Daseins schien sich Herr Musa grundsätzlich nicht zu belasten. Auf der Couch lag ein einziges zerlesenes Buch. Wichmann griff danach und blätterte; es war eine Mischung von Geschichtsphilosophie und Utopie. Er legte es beiseite und ging wieder zum Fenster. Auf der still gewordenen Uferstraße fuhr ein Privatwagen, ein Buick. Er hielt vor dem Haus Nr. 27; der Chauffeur öffnete die Autotür und wartete respektvoll. Eine Dame stieg aus – ohne Hut –, Wichmann erkannte den schwarzen glatten Pagenkopf. Sie wandte sich, als ob sie der zweiten Insassin beim Aussteigen behilflich sein wolle. Ein schwarzglänzender Turban erschien in der niedrigen Wagenöffnung. Als Wichmann die geschmeidigen Schultern gesehen hatte und die Finger, die sich leicht auf die Hand des Chauffeurs stützten, verließ er das Fenster und begab sich hinaus auf den Vorplatz der Wohnung. Durch die Glastür hörte er schon die Tritte auf der Treppe; ehe der Klingelknopf benutzt wurde, öffnete er und empfing.

      »Ah, Herr. Dr. Wichmann! Wie aufmerksam!« Fräulein Ramlo lächelte lebhaft. »Haben Sie uns schon beobachtet? Das ist hübsch, daß Sie jetzt auch hier zu treffen sind. Ich habe Sie hier noch nie gesehen! Sie sind zum erstenmal hier? Ja?«

      Wichmann nahm Marions schwarzen Seidenmantel in Empfang und beeilte sich, Fräulein Ramlo, wenn auch zu spät, seine gleiche Dienstbereitschaft anzudeuten.

      Nachdem abgelegt war, steuerte Fräulein Ramlo auf die Zimmertür zu und öffnete.

      Aus dem von Stimmen und Rauch erfüllten Raum klang sogleich Frau Cholms Ruf:

      »Oh, Fräulein Ramlo! Endlich wieder einmal!«

      Marion Grevenhagen hatte einen Augenblick gezögert. Sie sah Wichmann an, der neben ihr stand. Plötzlich öffnete sie die zierliche Wildledertasche, zog einen dünnen, gebogenen, in Seidenpapier gewickelten Gegenstand hervor und steckte ihn hastig dem jungen Mann zu.

      »Ich danke Ihnen für Ihre Warnung – Nehmen Sie – niemand zeigen – als Sicherheit – das Konto wissen Sie –« Sie flüsterte; die Worte