Название | Zwei Freunde |
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Автор произведения | Liselotte Welskopf-Henrich |
Жанр | Историческая литература |
Серия | |
Издательство | Историческая литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957840127 |
Es näherten sich leichte Schritte, und als die Tür geöffnet wurde, sah sich Oskar Wichmann einem Wesen weiblichen Geschlechts gegenüber. Das Mädchen oder die junge Frau – kein Ehering verriet, wie sie zu klassifizieren sei – trug einen grünen Kittel über der knabenhaften Gestalt; die nackten Füße steckten in Schuhen mit Holzsohlen, aus grünem Oberleder. Am fremdesten an der Erscheinung waren ihr Gesicht, das flachsige Haar, eine stumpfe Nase und hervorstehende Backenknochen. Mit den wasserblauen Augen wußte Oskar Wichmann nichts anzufangen. Sie beklemmten ihn.
Ungewiß, ob er die Hausfrau oder ihren dienstbaren Geist vor sich habe, machte er lieber eine Verbeugung zuviel als eine zuwenig. Er hatte es bei seinen Vorstellungen über Musasche Verhältnisse nicht für angebracht gehalten, sich mit einem förmlichen Besuch in der Familie vorher bekannt zu machen.
»Ja bitte, Herr Wichmann …«
Die grüne Eidechse streckte kameradschaftlich die Hand aus.
In dem Korridor, dessen alte Dielen knarrten, befand sich eine gestrichene Holzleiste mit Kleiderhaken, an denen Wichmann die abzulegenden Bekleidungsgegenstände anhängen konnte. Er trat im Gefolge des Wesens, das er nun mit Sicherheit als Frau Musa definieren zu können glaubte, in ein großes parkettbelegtes Zimmer ein, das fast leer war. In der rechten Türecke stand eine sehr breite Couch, deren Hügellandschaft auf gebrochene Federn schließen ließ. Sie war einfarbig dunkelrot gedeckt und trug auf diesem Grund eine Symphonie buntfarbiger Kissen. Die Muster der Kissen bestanden in Streifen und Würfeln, nicht einmal ein Dreieck hatte sich zwischen die Quadrate und Rechtecke eingeschlichen. Die Strenge der vollen Farben und der einfachen Formen wirkte auf eine besondere Art zwischen den hellen Wänden, an denen nicht ein einziges Bild hing. Zwei niedrige runde Tische, rot lackiert, die dazu passenden Hocker und Sesselchen mit ihren strohgeflochtenen Sitzen und eine kleine Kommode vervollständigten das Mobiliar. Auf der Kommode stand der Spirituskocher, über dem Teewasser sich wärmen sollte.
Dr. Alfons Musa mit seinem dunklen Haar und den dunkelumrandeten Brillengläsern stand in der Mitte des Raumes. Als Wichmann ihn begrüßte, tat er es mit dem Gefühl, daß es um diese bewegliche Figur im sorglich gebügelten Jackett eigentlich nach Schwefel riechen müsse. Eine zweite Dame gab dem neu Eingetretenen die mollige Rechte zum Gruß; auf dem Handrücken bezeichneten Grübchen die Stellen, an denen bei Frau Musa die Knöchel mager hervortraten. Frau Korsakoff, wie die Dame vorgestellt wurde, war in ein Kleid aus schwarzer Spitze gehüllt, das die Helle ihrer Hautfarbe unterstrich.
Man ließ sich auf den Hockern um den runden Tisch nieder.
»Aber mit einem Krebs könnte ich mich nie vertragen«, sagte Frau Korsakoff, offenbar in Fortsetzung des Gesprächs, das durch Wichmanns Eintritt vorübergehend unterbrochen worden war. »Unter gar keinen Umständen! Wie denken Sie über das, Herr Dr. Wichmann? Krebs ist ja sehr, sehr schwieriger Natur!«
»Ich mache seine Bekanntschaft auch lieber bei Hattig als am Strand, gnädige Frau. Aber sicher ist mit dieser meiner Antwort nicht der tiefere Sinn Ihrer Frage getroffen.«
»Nein, Sie scherzen, Herr Dr. Wichmann. Sie beschäftigen sich auch mit Astrologie? Das ist eine sehr, sehr wichtige Sache für die ganze Lebensführung!«
»Wahrscheinlich habe ich mich, an der Bedeutung dieser Angelegenheit gemessen, viel zuwenig damit beschäftigt. Um so mehr würde es mich freuen, von Ihnen Näheres über die Erkenntnisse zu hören, die man daraus schöpfen kann.«
»Aber sehr, sehr wichtige Erkenntnisse! Darf ich fragen, wann Sie geboren sind?«
»Im September, gnädige Frau«, schwindelte der Assessor.
»Vor oder nach dem zwanzigsten?«
»Vor.«
»Also eine Jungfrau.«
Wichmann schnitt eine Grimasse und konnte feststellen, daß die Bewegung seiner Gesichtsmuskeln dabei ähnlich verlief wie diejenige des Herrn Musa. Frau Korsakoff brachte die nächste Zigarette zum Glimmen.
»Sie lachen, mein Herr, aber ich sehr ernst. Ich kann Ihnen sagen vieles über Ihren Charakter und Zukunft, wenn ich das Datum Ihrer Geburt weiß. Sie sind sehr klug, sehr klug und pflichtgetreu. Sie sind kühle Natur und heiraten gar nicht oder spät.«.
»Da ich noch keine Ehe geschlossen habe, besteht eine gewisse Chance, daß Ihre Voraussage eintrifft.«
»Die Sterne lügen nicht. Sie haben eine große Wahrheit, während Menschen klein und lügnerisch sind. Ja, glauben Sie nicht auch?«
»Es gibt allerdings Stunden, in denen man sich bemüßigt fühlt hinaufzuschauen.«
»Aber nicht nur mit Gefühl, Herr Dr. Wichmann, sondern mit Vernunft und großem Wissen, das ist wichtig. Die Erkenntnis müssen Sie haben!«
»Ich beneide Sie, daß Sie an solche Erkenntnisse so sicher glauben. Sie sind glücklich dabei?«
»Ich hab’ aus meine große Unglück gelernt, daß man zu Erkenntnissen kommen muß, Herr Dr. Wichmann. Die menschliche Seele im Glück ist wie Tier, das schläft, wenn es satt ist. Nur wenn Hunger kommt, wacht sie auf und geht umher, zu suchen.«
»Dem, was Sie da sagen, wird jeder nur zustimmen können, gnädige Frau. Aber nicht jedes suchende Tier findet eine gute Beute. Es kann auch ein vergifteter Brocken sein, den einer hinlegt, der auf den Hunger spekuliert!«
Der Klingelzug meldete weitere Gäste. Frau Musa ging hinaus, um zu öffnen, und Frau Korsakoff, die in der Familie bekannt zu sein schien, kümmerte sich um den Tee.
»Sie haben recht, Herr Dr. Wichmann«, sagte sie nach einer Pause, während sie das kochende Wasser in die dickbauchige chinesische Teekanne goß, »sehr recht. Vergiftete Brocken hat man armen russischem Volk hingelegt …«
Die letzten Worte waren von einem Jüngling verstanden worden, der mit zwei anderen Herren und einer Dame eben in das Zimmer trat.
»Sie sind wieder bei Ihrem Thema, Katja!« rief er, ohne zu grüßen oder jemanden anders zu beachten. »Die Schleierhänge Ihrer bourgeoisen Meinung können die Wahrheit über Rußland aber nicht auf die Dauer verbergen. Es handelt sich um den grandiosesten Versuch, den ein Volk je zu seiner eigenen Befreiung und der Befreiung der ganzen Welt unternommen hat.«
»Seit Jahrtausenden sind die Menschen bei jeder ihrer Unternehmungen von neuem in irgendeine Knechtschaft gefallen.« Wichmann stand neben seinem Hocker und warf die Worte dem sehr jungen Gesprächspartner nur hin, während seine Hauptaufmerksamkeit den anderen neuen Gästen galt. »Es fragte sich immer nur, welcher Stil der Knechtschaft als der erträglichere erschien.«
Dr. Musa war mit dem Vorstellen beschäftigt. »Der Regierungsrat Loeb – Herr Dr. Wichmann – Sie kennen sich ja – Herr von Burgstall – Frau Cholm.«
Der Jüngling trug den Namen Raumer. Er heftete sich an Wichmann, während die gefüllten Teetassen von Katja Korsakoff und Anuschka, Musas Gattin, ausgeteilt wurden. »Sie belieben den Skeptiker zu spielen, Herr Wichmann, typisches Verhalten des müde gewordenen Bürgertums, das keine anderen Waffen zur Verteidigung der vorhandenen Mißstände mehr findet. Weil der ›Weltbeglückungsversuch‹ unter dem Motto ›laissez faire, laissez aller‹ mißglückt ist, werden die Möglichkeiten aller anderen und besseren Methoden ebenfalls angezweifelt. Man will sich weiter in dem Dreck des Egoismus sielen, man hat ja nun die besseren Plätze im Stall einmal gewonnen und brüllt und stößt mit den Hörnern, wenn die Tür zur frischen Luft geöffnet wird und der Reinigungsbesen erscheint. Daß es sich bei einer Revolution um eine Herkulesarbeit handelt daran zweifle ich allerdings nicht.«
Der sehr junge Mensch begann Wichmann zu verachten und Tee zu trinken.
»Haben Sie die ›Dreigroschenoper‹ gehört, Anuschka?« rief Frau Cholm.
»Sie müssen sie hören – ja, ich besorge Ihnen Karten, für Sie und Ihren Mann. Es ist ein epochales Ereignis.«
Wichmann