Ausgerechnet Kirgistan. Adi Traar

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Название Ausgerechnet Kirgistan
Автор произведения Adi Traar
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783937881256



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sitze ich mit Jasina am großen Esstisch auf der Terrasse und schreibe mein … dieses … Tagebuch, während sie ihre Englischaufsätze verfasst. Zwischendurch versuche ich mich im Korrigieren. Die Situation hat einen Touch ‚Vater-Tochter-Alltag‘, beide genießen wir’s, und beide haben wir wohl auch einen Grund dafür. Kam mir doch zeit meines Lebens die Tochter und ihr, so wie es scheint, der Vater abhanden. Es passiert nicht von ungefähr, dass sich Ereignisse und Begegnungen dergestalt fügen müssen, dass sie stimmig zueinander passen. All das wird mir nun doch ein bisschen eng, und ich muss raus.

      Ich mache einen Spaziergang in Richtung Stadtzentrum. Mit all den Werten an Leib und Haupt komme ich mir in der kirgisischen Öffentlichkeit nun doch etwas provokativ vor.

      Wenige Meter vor mir, am Rande der Schwarzkrähen-Allee steht ein gebückter Mann mittleren Alters. In sein grünliches Gesicht ist Armut und Bürde gezeichnet, die roten, halb zugekniffenen Augen nesteln unverblümt an meiner Umhängtasche. Als ich ihn beinahe erreiche, versuche ich einen mächtigen Luftbogen zu machen, stoße dabei fast an das Gerippe eines hageren Burschen, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht. Ich nehme keine Gesichter mehr wahr, auch die Gestalten lösen sich auf, registriere nur mehr, wie mir die Tasche mit all den Wertsachen und Sachwerten entrissen wird. Ein dumpfer Stoß von hinten, begleitet von einem hellen Glockenton, lässt mich vornüber in den Wüstensand poltern. Während ich so daliege, harte Klänge einer E-Gitarre vernehme und auf die Geier warte, empfinde ich nichts als Verständnis und Mitgefühl für dieses arme Volk und bin richtig glücklich, dass mir dieses gerechte Schicksal widerfahren ist.

      Derartige Phantasien gehen mir durch den Kopf, während ich in den Straßen der Innenstadt umherschlendere und mir dabei so unnötig overdressed vorkomme.

      Spät am Nachmittag taucht die Mama auf und erfüllt den Innenhof mit den lebensfrohen Klängen ihres Akkordeons; dazu singt sie auch. Ihre hohe Stimme, die sie stets gewohnt ist zurückzunehmen, wächst über sich und uns hinaus, holt sich Kraft aus der ungeteilten Aufmerksamkeit unserer offenen Ohren, durchdringt das Gemäuer der Häuser und unser aller Seelen, und trägt uns ins ferne Irgendwo zwischen Frohmut und Wehklagen. Sich wiegen inmitten von Leichtigkeit und Schwere; Weinen, welches der Freude so nahe ist – russische, tatarische und kirgisische Volkslieder machen das in einem. Qualität und Fülle ihrer Darbietung sind enorm, ich bin verblüfft über diesen inneren Reichtum, der von so viel Armut umgeben ist und gerade deshalb so zu florieren scheint. Es folgt Lied auf Lied, wir Zuhörer raten die jeweilige nationale Herkunft und haben viel Spaß dabei. Noch mehr erstaunt bin ich, als sie sich für einen kurzen Moment ans Klavier setzt – es ist im Inneren des Wohnhauses verborgen – und die Pathetique (die Beethoven‘sche) zitiert.

      Das alles ist wie (Zwangs-)Therapie für so einen zeitgeizigen Zivilisationskranken wie mich. In einem fort lasse ich mich in den schwebenden Raum aus Zeitlosigkeit hineinziehen.

      Was lässt sich nicht alles über ein Handy retten! Sein eigen Seelenheil zum Beispiel, durch einen Segen vom Papst per SMS, das ist das Neueste und im Grunde auch gleich das Letzte. Auf wie viel Megaherz lässt sich so ein Segen überhaupt dezimieren, auf dass ein Segen noch ein Segen bleibt? Hielte so was einer Komprimierung auf MP3-Format stand? Ich denke, so Gott will, ja. – Aber da wäre ich mir nicht so sicher, was seinen Willen betrifft. Abgesehen davon glaube ich, es macht gar nicht der Papst, sondern da wühlt irgendein Messdiener in klerikalen Dossiers und tippt sich dann die Daumen wund.

      Menschenleben kann ein Handy andererseits auch retten. So erging’s einem jungen Australier, der sich in Bischkek verlaufen hatte. Er ist Gast in der Pension. Gerade erst angereist, unternahm er einen Spaziergang durch die verwinkelte Stadt und verirrte sich dabei hoffnungslos. Verzweifelt rief er seine Reiseagentur an, um sich herausholen zu lassen. Leider hatte er ein zusätzliches Problem. Er kennt die kyrillische Schrift nicht, somit war er nicht imstande, die Straßennamen zu lesen, und kein Passant war fähig, ihm zu sagen, wo es langging, weil ihn keiner verstand. (Die Kirgisen sind ganz bestimmt nicht die Einzigen, die Australier gar nicht oder kaum verstehen.) Im Reisebüro rieten sie ihm, ein Straßenschild mit dem Handy zu fotografieren und ihnen als MMS zu schicken. Das klappte.

      Der ganze Rettungseinsatz kommt gut an bei uns, und als der blasse Typ Stunden später in die Pension zurückkehrt, erntet er reichlich Gelächter von uns allen, nachdem wir in einer explosiven Phase krampfhaft bemüht waren, nicht wie angeschraubte Sektkorken loszuplatzen.

      Am späten Nachmittag treffe ich mich mit Jasina und wir machen erneut einen Stadtbummel. Dabei führen wir angeregte Gespräche über so manches, was 19- und 46-Jährige so interessiert und verbindet. – Und das ist viel mehr, als man meinen möchte. Ein bisschen was von Politik und Religion ist auch dabei.

      Wir gelangen zu einem schönen, mit Springbrunnen und Rasenflächen gestalteten Platz, an dessen verlängertem Ende die verschneiten Berge des Tien Shan als Schutzwall für die große Stadt thronen.

      „Allah ist groß“, schwärmt Jasina und deutet auf die Gebirgskette.

      „Ja! Aber Buddha ist es auch!“ – Und nicht nur sein Bauch. Aber das kann ich mir gerade noch verkneifen. So auch das: Jesus war auch kein Kleiner.

      Staatstragend nähern wir uns dem Parlament; ein schmucker Bau mit Säulenvorhalle, der nicht nur an das Weiße Haus erinnert, sondern auch so heißt.

      „Unser Präsident Bakiev ist ein guter Präsident. Er kommt aus dem Volke und versteht die einfachen Menschen im Lande.“

      Monate später werden Proteste und Massenkundgebungen, die in gewalttätigen Ausschreitungen enden, eine andere Sprache sprechen. Der gute Präsident wird sich doch etwas zu viel herausgenommen haben. Gott sei Dank macht ein Schurke allein noch keinen Schurkenstaat, dazu gehört noch mindestens eine laute Partei oder eine ebensolche Religion, besser beides in einem. Und vergessen darf man nicht, da gibt es einen langen, behaarten Arm, der beschützt oder rempelt, je nachdem, kein Mensch weiß wie lange er das noch tut, ausgestreckt wird er jedenfalls von Moskau aus. Im Prinzip sind die Nachfolgestaaten der frühen Sowjetunion bestenfalls Deckmanteldemokratien, was zwar weicher klingt als etwa „Tarnkappendiktaturen“, aber ein und dasselbe beschreibt. Andererseits, was sind schon unsere Demokratien? Lebensbedingungen von einer Mehrheit aufgezwungen zu bekommen ist Demokratie; von einer Minderheit, Diktatur. Gut meinen tun es alle. – Mit sich selbst.

      Überhaupt. Wahres und Wahrheiten sind noch nie mehrheitsfähig gewesen, die Masse folgt immer dem Verführungsgesäusel des Rattenfängers, getreu bis in den Wassertod. Und Meinungsminderheiten zu vertreten, ist oft anstrengend. Gefährlich ist es auch, ich mach so was häufig und gerate dabei für gewöhnlich leicht in einen Argumentationsdschungel.

      Nehme man zum Beispiel das hohle Sinnsprüchlein „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Das meinen viele – ja fast schon Volksmeinung –, hingegen lässt es sich bedenklich weiterspinnen: Jeder Mensch verdient ihm widerfahrendes Heil und Unheil, den Partner, den er sich aussucht, seine Eltern, und, jetzt wird’s haarig, jedes Volk verdient die Regierung, die es regiert. Im Verlauf einer solchen gedanklichen Querfeldeinexpedition macht man sich immer mehr zu einer Minderheit, und am Schluss steht man mit dieser Meinung möglicherweise nicht nur alleine, sondern dazu noch ganz schön blöd da.

      Ich sage zu Jasina: „Viele Europäer sind Amerika-kritisch!“

      „Waaas? Wirkliiich? Wiesooo? An unserer Uni unterrichten Amerikaner, die sind sooo nett.“ Jasina ist schockiert. Es geht an die Tabuzone.

      „Wegen ihrer Entschlussfreudigkeit in Bezug auf Krieg.“ Beinahe schon: Lizenz zum Krieg. „Aber das richtet sich gegen die Regierung und ihre Außenpolitik, nicht gegen das Volk.“ Wenn aber das wiederum die Regierung verdient, die es regiert? Der Dschungel wird dichter, und ich suche nach einer Liane, um abzuschwingen.

      „Ganz allgemein ernten wir Menschen, was wir säen.“ Völlig unbeabsichtigt ist mir da ein Brückenschlag zum Propheten Mohammed gelungen, der findet das nämlich auch.

      „Warum ich die Backstreet-Boys nicht mag, hast du mich früher gefragt?“, jetzt ergreife ich endlich die Liane. Über diese Frage war