Ausgerechnet Kirgistan. Adi Traar

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Название Ausgerechnet Kirgistan
Автор произведения Adi Traar
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783937881256



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Wie ich in Kirgistan.

      Mit jeder Reise ist es das Gleiche. Mindestens ein Jahr vorher erwächst aus dem diffusen Boden der Ungewissheit, was sich wohl hinter dem Reiseziel verbergen möge, Schicht für Schicht ein eigenes Gedankengebilde, ständig lauernd im Hintergrund und jederzeit angriffsbereit. Begierde, Sehnsüchte, Sorgen, Ängste, ein unbarmherziger Mix, der keine Ruhe lässt und den hamsterrädernen Alltag fortwährend zu sabotieren droht. Irgendwann kommt der Punkt; spätestens dann, wenn die Enter-Taste auf die Frage „Wollen Sie jetzt wirklich buchen?“ unwiderruflich gedrückt, das Fahrrad aufgerüstet und das Testament nachgebessert wurde, da kommt man sich selber nicht mehr aus.

      Tu es.

      An dieser Stelle gleich ein paar Danksagungen.

      Dank an erster Stelle gebührt meinen Angehörigen, die mich für Wochen Verschollenen-, Tot- oder Entführt-Geglaubten nicht aufgaben, enterbten oder abschrieben wie ein ausgedientes Postlerfahrrad. Und weil sie meine Sitzplätze zu Hause freihielten.

      Ein anonym adressiertes Dankeschön dem Fahrradladen, der mir die luftdruckgesteuerte Federgabel verkauft hat; und das nicht nur mehrwertsteuer-, sondern dazu gleich noch sorgenfrei: „Aber nein, die etwas komplexe Luftdruckmechanik ist quasi wartungsfrei und wird auf Reisen überhaupt keine Probleme bereiten.“ Tat sie aber. Die Gabel versagte bereits am dritten Tag ihren Dienst, weil sie ohne Druck und folglich zwecklos war. Zwangsläufig passierte Ähnliches dann mit mir und meinen sportlichen Ambitionen.

      Dank dem Schwalbi. Gut, dass es Verwandte gibt. Immer öfter überkommt mich diese Gewissheit, und immer mehr schwindet die Frage, wozu solche eigentlich gut seien, aus der Infamie-Abteilung meines Gedankenschatzes. Im bestehenden Fall: Eine meiner Lieblingsnichten – in Familieninsiderkreisen liebevoll „Schwalbi“ genannt – chauffierte mich um zwei Uhr herrgottsfrüh – das ist im Grunde verteufelt spät – von Graz nach Wien, und wurde somit für mich Ahnungslosen, der ich nicht so recht wusste, worauf ich mich bei dieser Reise einließ, zur Wegbegleiterin, eigentlich zum Blindenhund hinüber in eine ungewisse Welt, eine Welt, in der man sich von all seinen zivilisatorischen Ansprüchen lossagen muss. So auch von den kulinarischen. Für mich als gesund genährten Vegetarier ist das allemal ein entscheidendes Thema und eine passable Einstiegsmöglichkeit in den Beginn meiner Reiseerzählung.

      Dabei habe ich mich für die kommenden Wochen auf kärgliche, zentralasiatische Kost eingestellt. Und ausgerechnet noch im Flugzeug (nun gut, es ist die British Airways) muss ich, eben ein verwelktes Sandwich hinuntergewürgt, sagen: Es kann eigentlich nur mehr besser werden. – Wird aber noch schlimmer. Nach der Zwischenlandung in London bin ich in den Flughafen-Shops auf verzweifelter Suche nach frischem Obst und stoße voller Entsetzen auf ein paar schrumpelige, in Plastik verpackte Apfelscheiben. Sagt man: ‚Ein Apfel am Tag spart den Doktor‘, muss ich jetzt sagen: ‚Aber so manche Äpfel kann man sich auch gleich sparen.‘ Der Anblick versetzt mich in ein kulinarisches Koma, aus welchem ich eine Zeitlang nicht erwachen werde. Und es wird mein Nachteil nicht sein.

      Es folgen ein paar Scherereien: Kann ja nicht sein I; Kann ja nicht sein II; Kann ja nicht sein III.

      Das versehentlich im Handgepäck verstaute Titan-Essbesteck (Kann ja nicht sein I), Marke Ultra-Light, stieß beim Wiener Security-Check noch auf wohlwollende Toleranz – man schloss vom geringen Gewicht auf eine gewisse Harmlosigkeit –, das tut es in London jedoch ganz und gar nicht. Gewiss misst man hier so manchen Dingen ein ganz anderes Gewicht bei. Ein strenger Zeigefinger signalisiert mir Platzverweis. Nochmals einchecken, ungern meine umgehängte Fahrradlenkertasche als Verpackung fürs Besteck aufgeben, dann wieder anstellen für den Security-Check. Ich muss meinen Kopf gleich mit dem Fluggepäck aufgegeben haben; eine findige, alte Dame entdeckt tatsächlich mein Taschenmesser in meinem Bord-Rucksack, auch das haben die gemütlichen Wiener übersehen, und ich sowieso (Kann ja nicht sein II). Und da kommt mir jetzt was in den Sinn, noch nicht Amoklauf oder gar Selbstausschaltung, aber irgendetwas knapp davor. Auf keinen Fall will ich das Ding verpacken, aufgeben und mich erneut anstellen, und so zeige ich mich opferbereit und spende das Messer diesem bemitleidenswerten Land, welches an den schamlosen Aufwendungen seines Königshauses und am allherbstlichen Smog ohnedies zu ersticken droht. Der Angestellten ist ihr Coup richtig unangenehm. Mir auch.

      „Entschuldigen Sie, aber Sie werden in Kurdistan ein besseres Messer bekommen.“

      Danke, für den professionellen Zweckoptimismus – und gratuliere zum geographischen Basiswissen (Kann ja nicht sein III).

      Nach Zwischenlandung in Eriwan erste zentralasiatische Eindrücke. Menschenleere. Mäandernde Flussläufe, die sich zaudernd durch eine erwachende Landschaft aus riesigen Steppenböden schlängeln.

      Zu den verhängnisvollsten Momenten meines Lebens zählen vermutlich die Rückgabe von Latein-Klassenarbeiten und die meines Fahrrades nach Fernflügen. Setzt man eine Lateinschularbeit in den Sand, lässt sich das ausbessern, eine gebrochene Federgabel in Kirgistan sicher nicht. Albträume werden wahr, als ich, eben in Bischkek gelandet, bei der Gepäckrückgabe eintreffe. Der Fahrradkarton, oder besser Stücke davon, liegen am Boden, maßgebliche Teile Gisis lugen heraus (Gisi ist der Name meines neuen Mountainbikes, etwas verschachtelt, aber raffiniert abgeleitet von Kirgisien), ich höre förmlich ihr Wimmern, und mir wird ganz bang ums Herz, den Hals hat es mir längst schon zugeschnürt. Zögerlich überprüfe ich die Hauptfunktionen Treten, Lenken, Bremsen, dann Schalten, Sitzen, Tragen. Dabei hämmert mir das Herz im Halse – eben nur bis zur Zuschnürung. Zum Glück ist nichts passiert, bis auf ein paar bedeutungslose Kratzer und Scheuerspuren an Lenker, Sattel und Rahmen. Da war heute ein Schutzengel als blinder Passagier im Laderaum, obschon er zeitweilig ein bisschen geschlafen haben muss.

      Den nächsten Aufreger beschert mir ein landestypisches Phänomen. Durch Recherchen in einschlägiger Literatur bin ich ausreichend schlau gemacht und vorgewarnt: Kirgisische Polizei – nur wenn es sein muss! Und dann auch nur im großen Bogen um sie herum. Die Fälle sind häufig, in denen sie Touristen den Reisepass abnehmen, und sie ihn nur dann zurückbekommen, sobald sie einen Haufen Geld dafür bezahlt haben. Bei der Gelegenheit werden sie aus dem verwinkelten Gassengewirr wieder herausgelotst, nachdem die Polizei sie zuvor dort hineingelotst hat.

      Nach Dienstschluss beteiligen sich Angehörige der Polizei und Miliz hin und wieder an Raubüberfällen auf Touristen – quasi im Nebenerwerb. Deswegen entstand in mir schon zu Hause ein Feindbild, und das nimmt jetzt in Form zweier unrasierter Polizisten, die uns paar Neuankömmlinge mit aufdringlichem Interesse mustern, uniformierte Gestalt an. Sollen mich gefälligst in Ruhe lassen. Tun sie zum Glück eh.

      Ernste Gesichter, unter Sowjet-Schirmmützen vergraben, kontrollieren am anschließenden Schalter die Pässe samt den dazugehörigen Anreisenden. Die Beamtin schaut auf das Passbild, dann auf mich, dann wieder aufs Passbild, dann wieder auf mich, sie verzieht keine Miene dabei, obwohl ich ihr gleich in zweifacher Ausführung entgegengrinse.

      „Are you a tourist?”

      Komisch. Ich hätte nie gedacht, dass man mir das nicht ansieht.

      „Yesss.“

      Das hat ihr gefallen, der Bann ist gebrochen, und sie gibt mir Kirgistan frei.

      Ich betrete ein Sehnsuchtsland. Zumindest ist es für mich so. Sehnsuchtsländer sind mit dem Nimbus des Unerreichbaren behaftet. Betritt man erst einmal so eines, ist der Zauber des Unerreichbaren enthüllt, der Nebel des Unbekannten entschleiert, und es wird ein gewöhnlicher Boden daraus, auf den man feste Schritte setzen kann wie in einem Kuhstall oder einem Einkaufszentrum. Oder in einer Flugankunftshalle. In so einer befinde ich mich jetzt, und unvermittelt beginnt das volle Asienprogramm.

      Bereits auf den ersten Laufmetern bekomme ich eine Vorstellung davon, wie es einer Blondine in Italien so ergehen mag; von vorne, von hinten, von der Seite umgarnen mich tolldreiste Taxler, Typen und Diebe, und so habe ich bereits nach zehn Sekunden Zentralasien reichlich Körperkontakt. Am Ende des Gewirrs aus helfenden und nicht so gut gemeinten Händen entdecke ich ein hochgerecktes Schildchen, bekritzelt mit tollpatschigen Buchstaben, die in ihrer Zusammensetzung an meinen Namen erinnern: