Ausgerechnet Kirgistan. Adi Traar

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Название Ausgerechnet Kirgistan
Автор произведения Adi Traar
Жанр Книги о Путешествиях
Серия
Издательство Книги о Путешествиях
Год выпуска 0
isbn 9783937881256



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unbeschadet schaffen. Den Komfort, mich von einer Reiseagentur abholen zu lassen, habe ich mir heuer, nebst einem Handy im Reisegepäck, erstmals geleistet. Den betäfelten Mann mit ausdruckslosem Gesicht begrüße ich einigermaßen erleichtert. Er führt mich zu einem Auto in fortgeschrittenem Roststadium, dort wartet ein weiterer Mann im fortgeschrittenen Alkoholikerstadium, ihn begrüße ich nicht mehr, weil ich mich an eine ausdrückliche Warnung erinnere, man solle hierzulande niemals alleine in ein Auto einsteigen, in dem sich mehr als ein Mann befindet. Muss ich jetzt aber. Der Begleiter, er heißt Sergej, versucht sein Nahverhältnis zu Wodka und Konsorten zu verbergen und entpuppt sich bald als hilfsbereiter, netter Guide und überdies noch als Ehemann von Katja, der Chefin von Tien-Shan Travel, mit der ich daheim in E-Mail Kontakt getreten war. Mit ihr habe ich überdies vereinbart, meinen Fahrradkarton bis zum Rückflug im Reisebüro zu hinterlegen, was mir jetzt in Anbetracht der übriggebliebenen Pappkartonfetzen ein wenig überflüssig vorkommt.

      Erst nach einiger Zeit, als unser Vehikel bereits unzählige Schlaglöcher ohne Achsbruch oder Unterbodenschaden passiert hat, schwinden letzte Reste an Zweifel und Misstrauen, und ich strecke Sergej die Hand zur Begrüßung entgegen. Er erzählt mir so einiges, warnt mich vor Banden, Mördern und Dieben. „Sei vorsichtig in den Dörfern, hüte dich vor den Kindern!“

      „Weiß ich schon.“

      „Und nimm dich in Acht vor der Polizei!“

      „Weiß ich auch schon.“

      „Und vor den Hunden.“

      „Wow.“

      Zudringliche Wodkaholiker, die dem Besucher des Landes, wie in einschlägiger Literatur eruiert, landauf landab bereits in den frühen Nachmittagsstunden entgegentorkeln und für jede Belästigung zu haben sind, stellen für ihn offenbar keine nennenswerte Gefahr dar, sie stehen wohl unter seinem moralischen Schutz.

      Wir erreichen Bischkek und einiges später die vorbestellte Unterkunft, eine Pension, und halten direkt vor dem massiv verriegelten Einfahrtstor, das etwas vor Rest-Bischkek zu verbergen scheint.

      So nett er zu mir war, mit den armen Gastleuten kennt Sergej kein Pardon. Er stützt sich auf seinen ausgestreckten linken Daumen, und der Daumen haftet an der Türklingel, und es ist nicht lange nach Mitternacht. Und so nett er zu mir auch war, möchte er mich mit Sicherheit loswerden und keinesfalls ein anderes Hotel suchen müssen, lieber schläft er sich zu Hause den Wodka aus dem Leibe. Ein um die Leibesmitte aufgedunsener Mann öffnet die Einfahrtstür – ich weiß nicht, was er sich aus dem Leibe geschlafen hat, aber es saß tief. Mit geschlossenen Augen begrüßt er uns nicht gerade aufs Allerfreundlichste und führt uns blind in den Hof. Erst viel später, als er die Augen öffnet, sehe ich, dass er welche hat.

      Soweit der gesicherte Teilabschnitt meiner Reise.

      Der kleine Innenhof ist von drei notdürftig geweißten Gebäudeflügeln eingefasst, darauf prangen die Zimmereingangstüren, in Eigenregie bunt bemalt, mit je einem Fensterchen zur Seite. Visà-vis der Einfahrt führt eine steile, hölzerne Freitreppe geradlinig auf die Dachterrasse des ebenerdigen Hauses, wo ein von der Sonne zermürbter, bleicher Sonnenschirm eine Garnitur hölzerner Sesselchen und ein Plastiktischchen verbirgt. Die Zimmer selbst sind zweckmäßig und nach westlichen Mindestanforderungen eingerichtet; ein mit Kissen und Decken aufgedonnertes Bett, ein Kasten und ein Tisch, darauf die eigentliche Mindestanforderung, ein Fernseher. Ein kleiner Garten inmitten des Innenhofs ist im Werden, ein Wasserfall in Projektstadium, auf einer Hausmauer räkelt sich ansatzweise spärliches Grün – ein Land, eine Familie im Aufbruch. Ganz so wie ich am nächsten Tag. Hoffentlich.

      Ich werde überschwänglich empfangen; ab dem Moment weiß ich, wie sich kirgisisches Familienleben anfühlt, und dass man ihm nur schwer entrinnen kann. Aber danach ist mir im Moment gar nicht, denn von der Tochter Jasina und ihrer dicken, stets freundlich lächelnden Mutter lasse ich mich gerne vereinnahmen. Jasinas Bruder Faris und ihr Onkel, das war der Nachtportier, scheinen von woanders entsannt, sie wirken ernst und ein wenig abweisend. Allesamt sind sie Moslems. Mein erster Eindruck wird sich im Laufe der Reise immer mehr vertiefen: Die Männer „genießen“ alle Rechte (tun sie’s wirklich?), scheinen damit aber nicht ganz zufrieden, sie wirken weniger glücklich als die Frauen. Am Ende schlummert in ihnen doch ein Sinn für Gleichheit und Gerechtigkeit, dessen Unterjochung unglücklich machen oder gar unter Druck setzen kann, und so hinken sie ihrer eigenen Glücksfähigkeit hinterher. Aber vielleicht ist es auch nur der Wodka, der den Männern das Gemüt verpantscht. Offenbar glaubt man hier in den muslimischen Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion so manchem Druck durch reichliche Alkoholgaben ein Ventil verschaffen zu können. Ist das letztlich nicht heilsamer als in den alko-feindlichen, muslimischen Hardliner-Staaten, wo man sich, um Dampf abzulassen, anstatt alkoholischen lieber radikalen Ergüssen hingibt? Jedenfalls sind die Frauen hier sehr tüchtig, die Männer wären ohne sie weniger als die Hälfte, von einer besseren ganz zu schweigen; und womöglich ahnen sie das auch noch …

      Die Familie gehört der Volksgruppe der Tataren an. Ehemals wurde die zentralasiatische Region ständig von irgendwelchen Eindringlingen überrannt, anfangs von Alexander dem Großen, dann einmal von Dschingis Khan – als Beispiel für die Prominenten. Und einer der letzten Großgrundbesitzer war Stalin; der kam, sah und siebte, siebte aus nämlich, und zwar andersstämmige Völker, die er aus dem Sowjet-Stammterritorium über den eigenen Tellerrand (über den er so ungern hinaussehen wollte), an den Tellerrand des Reiches deportierte, wo man zuvor, getrieben von Macht, Angst und Willkür, die Umrisse des heutigen Kirgistan gestanzt hatte, um ein wenig Pseudo-Autonomie zu gewähren. An dem ewigen Kommen und Gehen wie in einem orientalischen Lusthaus beteiligten sich eine Reihe von Völkern, ob geblieben oder vertrieben, so auch die Tataren – als Beispiel für die Gebliebenen.

      Jasina ist neunzehn Jahre, eher klein, hat schwarzes Haar, große, braune Augen – sie sind von Beginn an geöffnet – mit konkurrenzlos langen Wimpern. Die frühe Morgenstunde macht uns beiden zu schaffen, und obwohl sich die Sonne noch nicht einmal über den Horizont reckt, geht sie für mich in Gestalt dieses kirgisischen Mädchens auf. Womöglich ist sie es nicht gewohnt, dass ihr Lächeln von einem Mann erwidert wird, und schon gar nicht, dass ihr dabei zuvorgekommen wird. Wir lachen uns nur an und lassen die Sonne im Zenit erstrahlen. Die Zeit dreht längst keine Runden mehr. Jasina wird zur wichtigsten Bezugsperson für mich, nicht nur weil sie der Welt (und mir) mit offenen Augen begegnet, sondern weil sie die Einzige ist, die englisch spricht. Die Familie redet russisch miteinander, die Jungen können gar kein vernünftiges Kirgisisch mehr, die Großmutter versucht es trotzdem beharrlich mit ihnen.

      „Ich bin ein glückliches Mädchen“, sagt Jasina und strahlt das tatsächlich aus. Sie ist sehr fleißig und andauernd bemüht, Anweisungen ihrer Mutter und ihres Onkels zu befolgen, ohne dass auch nur der geringste Widerspruchsgeist auflodert. Hoffentlich hat sie die Pubertät nicht ausgelassen. Ich meine, ein Hoch den Flegeljahren! Da sollte jeder durch. Rechtzeitig. Späteres Nachholen ist immer verzwickt und problematisch und hat etwas Aufgehoben-Aufgeschobenes wie ein lahmender Nachsendeauftrag der Post; oder Abendmatura.

      Der Onkel weist mit seinem Zeigefinger ins Hausinnere, zeigt sodann auf den Hof, vollführt ein paar heftige Wedelbewegungen, und Anisa fegt den Fußboden. Der Onkel schickt wieder den Zeigefinger auf Reisen, nimmt den Daumen dazu, führt damit eine imaginäre Schale zum Mund, und Anisa bringt Tee.

      Sie wirkt jedenfalls glücklich bei ihrer Arbeit, mit Dienen scheint sie kein Problem zu haben, zumal sie beherzt zur Sache geht. Bei uns ist „Dienen“ ja bedenklich außer Mode gekommen, es wird nur mehr im Sinne von ‚Bedienen‘ rein abwertend gebraucht, und noch schlimmer kommt es weg, wenn jemand gar „bedient ist“. Dabei wird Dienen wohl der ergänzende Gegenpol zur Verwirklichung des eigenen Selbst sein, soll es nicht völlig in Selbstsucht versanden. Aber mit dem Dienen verhält es sich so wie mit dem Koitus. Es funktioniert nur, wenn beide Seiten es wollen und nicht nur einer es macht.

      Gemeinsam mit Medina, Jasinas Freundin – sie fungiert als von der besorgten Familie entsandte Aufpasserin –, machen wir einen Spaziergang ins Stadtzentrum. Es befindet sich nicht gerade um die Ecke, protzt ein