LENA HALBERG - NEW YORK '01. Ernest Nyborg

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Название LENA HALBERG - NEW YORK '01
Автор произведения Ernest Nyborg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783868411294



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noch nichts in Szymons jungem Leben – säuerlich und süß zugleich, saftig und doch fest. Der Duft war nicht nur in seiner Nase, den konnte man sogar schmecken. Gierig aß er weiter.

      »Sind gut, die Äpfel«, sagte der Nachbar hinter ihm.

      Szymon fuhr herum und ließ die Frucht fallen. Er war so vertieft in seine neue Erfahrung gewesen, dass er das Kommen des Mannes überhört hatte. Der hob den Apfel auf und gab ihn Szymon wieder in die Hand.

      »Du kannst ihn gerne essen. Der Keller gehört Freunden, guten Menschen, die sicher nichts dagegen haben.« Er nahm Szymon bei der freien Hand und sie gingen aus dem Keller hinaus auf die Straße.

      Hier sah es ganz anders aus als zu Hause in der Dzielna. Alles wirkte sauberer und ruhiger. Doch die Menschen, die in der kleinen Gasse unterwegs waren, benahmen sich anders. Sie gingen rasch aneinander vorbei, schauten auf den Boden und grüßten einander nicht. In ihrer Sprachlosigkeit machten sie Szymon Angst.

      »Ich bringe dich zu einer ganz lieben Frau und ihren beiden Kindern, damit sie sich um dich kümmert«, sagte der Nachbar im Gehen. »Ich habe gerade mit ihnen gesprochen, sie wohnen nur einen Block entfernt am Fluss und warten bereits.«

      »Und du?«

      »Ich kann leider nicht bleiben, ich muss fort, muss mich verstecken. Die Männer mit den Uniformen suchen mich.«

      »Ich will mit dir gehen«, sagte Szymon verzagt.

      »Das geht leider nicht«, antwortete der Mann, »und bei der Familie hast du es sicher viel besser.«

      Szymon drückte sich im Gehen eng an den Nachbarn. Er verstand nicht, warum ihn der einzige Mensch, den er auf dieser Welt noch kannte, nun auch verließ.

      »Du bist also der kleine Hawkinski«, sagte die junge hübsche Frau ein wenig später freundlich, »keine Angst, du kannst gerne bei mir und meinen beiden Töchtern bleiben.«

      Szymon ahnte, dass dies nun seine neuen Leute waren und er die vertraute Familie für immer verloren hatte. Nicht nur seinen Vater, der vor seinen Augen im Dreck des Ghettos verblutet war, auch seine heißgeliebte Mutter und seinen Bruder sollte er nie wieder sehen.

      Erst in vielen Jahren, als er nach dem Abschluss seines Studiums an einer amerikanischen Universität hierher zurückkehrte, würde er ihnen wieder begegnen – als Eintrag in einem Buch der Stiefelmänner.

      *

      Derselbe Simon Hawk, so nannte er sich, seit er in den Vereinigten Staaten lebte, stand nun ebenso fassungslos bei einer der großen dunklen Glasflächen in der fünfundzwanzigsten Etage im Block 7 des New Yorker World Trade Centers. Er blickte auf das Chaos draußen vor den Fenstern – schwarze Feuerfahnen, Staub, der den Himmel verdunkelte, verzweifelt herumirrende Menschen.

      Alles, was er glaubte seit langem verdrängt zu haben, schwappte vehement an die Oberfläche seines Bewusstseins. Er hatte keine geordneten Erinnerungen an die Geschehnisse im Warschauer Ghetto vor fast sechzig Jahren – dazu waren die Eindrücke zu chaotisch und er noch zu jung gewesen –, gefühlsmäßig erkannte er jedoch die Gleichheit der Bilder. Ein wenig zitterte er auch, denn die Angst kehrte zurück. Wieder waren Stiefelmänner am Werk, das spürte er deutlich.

      Hawk kam nur durch Zufall am Morgen dieses 11. Septembers 2001 in das New Yorker Bürohaus. Er lebte in Washington, wo er bereits lange Jahre für das Weiße Haus als historischer Berater arbeitete. Für ihn als scharfen Beobachter von politischen Vorgängen war es eine perfekte Position, die seinem Interesse an der Welt sehr entgegenkam. Ein so unauffälliger Job im Hintergrund des Geschehens, bemerkte er oft scherzhaft, dass man unbemerkt blieb und auch einige Regierungswechsel überleben konnte. Aufgrund seiner Nähe zu den Kreisen der Mächtigen baten ihn öfter Journalisten im Bekanntenkreis oder Freunde von der Universität, an der er gelegentlich Vorträge über Geschichte hielt, um Unterstützung bei ihren Recherchen zu aktuellen Geschehnissen. Hawk half gerne, so wie er auch stets seine Beziehungen bis in die höchsten politischen Kreise pflegte. Manchmal versuchte er auch selbst Dingen auf den Grund zu gehen, wenn er vermutete, dass mehr hinter einer Sache steckte. Das befriedigte seine angeborene Neugierde und schien ihm außerdem eine gerechte Art zu sein, ein wenig Wissen umzuverteilen.

      Aus diesem Grund war er auch gestern von Washington an die Ostküste geflogen. Als Opernfan benützte er die Gelegenheit eine Vorstellung in der Met zu besuchen und kam heute pünktlich zu Dienstbeginn um acht Uhr früh ins New York Office des US-Departments of Defense, um sich mit einem langjährigen Bekannten zu treffen. Für das Verteidigungsministerium war das Büro im World Trade Center die Nahtstelle zum Katastrophenstab der Stadt New York und zu den hiesigen Repräsentanten der CIA und des Secret Service. Sie alle hatten ihre Büros hier in dem Nebengebäude der Twin Towers, genauso wie die Steuerbehörde und die Börsenaufsicht.

      »Guten Morgen, herzliche Gratulation«, begrüßte er Major Piet Palmer, den er seit der Operation Wüstensturm, dem amerikanischen Eingreifen zur Befreiung Kuwaits, kannte. Damals kümmerte sich Hawk für das Weiße Haus um die Presseanliegen der befreundeten Koalitionstruppen und Palmer bekam als junger Offizier sein erstes Kommando. Die Feuertaufe im Feld – ein Muss für den Sohn eines Commanders der US-Navy. Es sollte sein einziger Einsatz mit Feindberührung bleiben, den er als verwöhnter Absolvent der elitären Militärakademie von West Point nur widerwillig absolvierte. Er hasste nichts so sehr wie verschwitzte Tarnkleidung und den derben Umgangston der Mannschaft. Lieber trug er seine Galauniform, traf schöne Frauen oder plauderte mit Gleichgesinnten bei einem Glas Champagner über klassische Musik. Das war auch der Punkt, wo sich seine Interessen mit denen Hawks überschnitten. So verschieden sie in ihren Ansichten und von ihrer Herkunft waren, sie teilten die gleiche Vorliebe für gepflegte Umgangsformen und italienische Opern – vor allem wenn James Levine sie an der Met dirigierte.

      Nun war Palmer endlich die Karriereleiter hinaufgefallen und gerade dabei seinen Vater in Rang und Einkommen zu überholen. Er hatte für das Ministerium die administrative Leitung des New Yorker Büros übernommen. Für den auch politisch längst etablierten Offizier war dies der erste Schritt zu einer entsprechenden Position im Pentagon. Es war nur mehr eine Frage der Zeit, wann er im leitenden Stab landen würde.

      Palmer bedankte sich für die Gratulation und bot Hawk Platz auf einem der bequemen Lederstühle am gemütlichen Besprechungstisch an. Im Übrigen war das Büro militärisch zweckmäßig eingerichtet. An den Wänden hingen verschiedene Ernennungen Palmers, eine Medaille für Verdienste im Einsatz auf dunkelblauem Samt und zwei große Fotos von der Truppe in schmalen Silberrahmen. Hinter seinem ausladenden Schreibtisch fand man die übliche Einsatzkarte, flankiert von den Flaggen der USA und seiner Einheit in der US-Army.

      Die beiden plauderten eine Weile, tranken Kaffee, den die Ordonanz auf einen knappen Wink hin brachte. Hawk probierte höflichkeitshalber von den angebotenen staubtrockenen Keksen.

      »Ich habe da noch eine kleine Bitte für einen Dozenten unserer Universität«, lenkte er nach einer Weile das Gespräch auf den eigentlichen Grund seines Besuches. »Er arbeitet an einer Studie über die Kommunikation der Geheimdienste.«

      »Und?«

      »Es gab da vor kurzem in den täglichen Informationen des CIA an den Präsidenten am 6. August ein Memo, in dem das Weiße Haus vor der Gefahr eines Anschlags gegen die USA gewarnt wird.«

      »Aber das hast du doch sicher bei euch aufliegen«, sagte Palmer vorsichtig. Er wusste nicht, worauf Hawk hinauswollte.

      »Ja, aber eben nur das Memo selbst und für die Studie wäre es interessant, die Originaltexte zu kennen, also die ursprünglichen Nachrichten, die zu diesem Memo geführt haben. Damit wäre zu erkennen, wie sich Informationen im Zuge der Weitergabe verändern.«

      Palmer schüttelte den Kopf, stand auf und ging zur Glaswand, durch die man die Twin Towers und die südliche Spitze Manhattans sah.

      »Professoren, Journalisten … Es ist wirklich unglaublich, wer alles an unserer Arbeit interessiert ist! In den wenigen Wochen der Leitung dieses Büros hier hatte ich derart viele Anfragen zu solchen Dingen, damit könnte man ein einträgliches Geschäft machen.« Er lachte kurz auf, drehte sich dann zum Fenster und schaute hinunter auf den