LENA HALBERG - NEW YORK '01. Ernest Nyborg

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Название LENA HALBERG - NEW YORK '01
Автор произведения Ernest Nyborg
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783868411294



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      1. digitale Auflage: Zeilenwert GmbH 2016

      Das Buch wurde vermittelt durch die Literaturagentur erzähl:perspektive, München (www.erzaehlperspektive.de)

       Krieg ist nicht das Kaufen von Waffen,

       sondern die Bereitschaft zu töten.

      Der Widerschein des Feuers ließ die Wolken über Warschau an diesem kalten Spätfrühlingstag wie blutgetränkte rote Fetzen über den Himmel ziehen. Dazwischen stiegen dunkle Rauchsäulen hoch und verbreiteten einen übel beißenden Geruch – ein Gemisch aus brennendem Holz, angesengten Kleidern und Leichengeruch.

      Von allen Seiten das metallisch hackende Gebell von kurzen ungezielten Salven aus Maschinenpistolen, laut hallende Stiefelschritte, die auf Asphalt, Müll und Kinderhände traten. Immer wieder Schreie von verzweifelten Menschen, um eine letzte Gnade wimmernd, die ihnen niemand gewährte. Sie wurden entweder an Ort und Stelle erschossen oder von den Stiefelmännern mit den Totenköpfen auf der Kappe zu Lastern gebracht und abtransportiert. Manche von ihnen, die nicht mehr weiterkonnten oder zu langsam waren, stieß man seitlich gegen Hauswände, prügelte sie aus reiner Lust zu Krüppeln und ließ sie einfach liegen. Zehntausende wurden so zusammengetrieben, irrten suchend durch die dichtgedrängte Menge, um ihre Kinder oder Angehörige zu finden, die in diesem Albtraum aus Gewalt, Not und Aussichtslosigkeit verlorengegangen waren.

      Zwei Stunden später würde der SS-Brigardeführer Stroop voll Stolz melden, dass das jüdische Ghetto nun endlich aufgelöst sei und mit der Sprengung der Warschauer Synagoge die tagelange Großaktion erfolgreich beendet wurde. Dazu berichtete er noch von sechsundfünfzigtausend nachweislich vernichteten Bewohnern und dem beispiellosen Kameradschaftsgeist seiner Männer.

      Seit vielen Tagen säuberte er mit seinen Untergebenen Straßenzug um Straßenzug des Wohnbezirks von den unliebsamen Gestalten, die verzweifelt versuchten sich vor dem erbarmungslosen Zugriff zu verbergen. Er fand sie alle. Nun war endgültig Schluss, auch der letzte Widerstand, den dieses dreckige Pack in einem letzten Aufbäumen noch versucht hatte, war endgültig gebrochen.

      Der schüchterne, zarte Szymon stand zitternd am Fenster im zweiten Stock eines Wohnhauses in der Ulica Dzielna und starrte auf die Straße unter ihm. Die Wohnung lag an der Ecke des Blocks, nur einen Steinwurf von der Synagoge entfernt. Er wusste nichts von dem zerstörten Gotteshaus, er wusste nicht, dass er einer minderen Rasse angehörte, er wusste nicht, was die Totenköpfe vor dem Haus wollten. Er war vor einer Woche drei Jahre alt geworden und seine Eltern schenkten ihm ein hölzernes, rotlackiertes Schaukelpferd, das der Vater aus einem alten Türflügel mühsam herausgeschnitten und mit erbettelter Farbe einigermaßen angestrichen hatte.

      Das lag zersplittert im Vorzimmer, die Stiefelmänner hatten es zertreten, als sie in die Wohnung eindrangen. Vor Angst hatte sich Szymon von der Hand seiner Mutter losgerissen und war in sein Versteck hinter der alten Wandtäfelung unter der Fensterbank gekrochen. Seine Mutter, seinen Vater und seinen Bruder nahmen sie mit. Der Bruder, er war erst eineinhalb, weinte und versteckte seinen Kopf im Schultertuch der Mutter, die mit aufeinandergepressten Lippen in Richtung Fenster schaute. Sie wusste, dass Szymon sie durch den schmalen Spalt im Holz sehen konnte. Oft hatten sie hier Verstecken gespielt. Ihr Blick ließ ihn auch jetzt still in dem Schlupfwinkel verharren, so als wäre es das Spiel und er dürfe nicht gefunden werden. Als Vater sich umdrehte, um seine Aktentasche zu nehmen, schlugen ihm die Männer mehrmals auf den Kopf. Er verlor seine Brille und strauchelte über den abgetretenen Türstaffel, als sie ihn hinaus ins Treppenhaus stießen.

      Als sich die Stimmen verloren und es in der Wohnung wieder still war, kroch Szymon unter der Verkleidung hervor. Er erschrak, denn in der Nische neben dem Fenster stand der Nachbar, ein älterer Mann aus der Wohnung darüber. Er hatte keine Arbeit, spielte aber wunderbar Klavier und half den anderen Parteien im Haus bei kleineren Reparaturen. Nun zog er Szymon an den Schultern in die Nische hinein, damit sie von unten hinter dem Fenster nicht zu sehen waren. Auch er bebte am ganzen Körper und zuckte bei jedem Geräusch zusammen, das aus dem Stiegenhaus in die Räume drang.

      Unten kamen die Männer mit seinen Eltern aus dem Haus. Vater fasste einen am Arm und wollte etwas sagen. Da schrien sie ihn an, stießen ihn zu Boden, aber Vater rappelte sich wieder auf und brüllte zurück. Da nahm einer von ihnen seine Pistole und schoss Vater ins Gesicht. Mutter versagten die Beine und sie sank daneben nieder, so als wäre sie selbst getroffen worden. Da rissen sie die Stiefelmänner hoch und zerrten sie fort.

      Szymon schrie vor Schmerz auf. Der Nachbar schlug ihm die Hand vor den Mund, damit nur ja kein Geräusch nach außen dränge. Der Dreijährige stand, sah seinen Vater sterben und schluchzte in die Hand des fremden Mannes.

      Komm, deutete der Nachbar, als die Männer vor dem Haus weg waren, wir müssen fort. Er nahm Szymon bei der Hand und zog ihn fort von dem Schreckensbild. Vorsichtig, um möglichst kein Geräusch zu verursachen, gingen sie die Treppe hinunter. Sie drückten sich dabei eng an die Wand. Der Nachbar spähte immer zuerst um die Ecke in die langen Gänge hinein, ob auch niemand zu sehen sei, bevor sie zum nächsten Treppenabsatz huschten. Sehr gefährlich war es dann im Flur des Hauses, denn das Eingangstor stand weit offen – jemand hatte einen der Türflügel mit einem Holzstück verkeilt und der andere war aus den Angeln gerissen worden und lag in der Einfahrt. Draußen hetzten Menschen vorbei, die durften sie nicht sehen. Einige davon waren aus der Straße, die liefen nur vorbei, dann kamen wieder Stiefelmänner, die stehenblieben und in die Einfahrt schauten, ob das Haus auch ordnungsgemäß geräumt sei.

      Irgendwann fasste sich der Nachbar ein Herz, hob Szymon hoch und rannte, ohne sich umzudrehen, nach hinten in den Hof. Sie kamen an Gerümpel vorbei und an einigen seltsam verdreht liegenden Körpern mit offenen Augen. Einen kannte Szymon – es war der kleine alte Mann vom ersten Stock. Er starrte sie stumm an, den ganzen Weg, bis Szymon im Arm des Nachbarn die kleine Tür an der hinteren Seite des Hofes erreichte. Der Nachbar trat dagegen, sie sprang auf und die beiden verschwanden dahinter. Schwer atmend blieb er stehen und ließ Szymon wieder hinunter auf den Boden. Vor ihnen lag eine Treppe, die in den Keller führte. Szymon hatte Angst vor dem dunklen Loch, in dem sich die Stufen verloren. Er fasste instinktiv nach der Hand des Mannes – sie war groß und fest. Langsam stiegen sie die Tritte hinunter, die feucht und glitschig waren, vorsichtig tastend, um nicht zu stolpern. Halbblinde Lampen warfen ein diffuses Licht gegen die Mauern. Sie erreichten einen muffigen Gang, der anscheinend endlos alle Häuser untereinander verband. Dort trafen sie einige andere Männer, die es aus den umliegenden Wohnblocks bis hierher geschafft hatten. Gemeinsam gingen sie ein Stück weiter, dann verschwanden die Männer wieder in verschiedene Richtungen.

      Nach mehreren Abzweigungen, die meisten Gänge lagen im Stockdunklen, erreichten sie unbehelligt den Keller eines Hauses. Hier schob der Nachbar Szymon in einen kleinen Raum, in dem Licht von außen durch ein schmales Fenster unter der Decke fiel. Er zeigte auf eine Gartenbank, die an einer der Wände lehnte.

      »Bleib hier«, flüsterte er, »ich komme bald wieder.«

      Der Junge wollte ihn zurückhalten, die schützende Hand nicht hergeben, doch der Mann drückte ihn sanft auf die Bank und verschwand hinaus.

      Szymon saß still in dem Halbdunkel des Kellerraumes. Langsam beruhigte er sich und nach einer Weile versiegten seine Tränen. Die Bilder der letzten Stunde sollte er jedoch behalten und sie würden ihn sein weiteres Leben begleiten.

      Irgendwie roch es eigenartig in dem Raum. Muffig abgestanden, nach Staub und Holz, aber auch noch anders – seltsam süßlich. Der Kleine schaute sich um und entdeckte unter dem schmalen Fenster eine Stellage mit mehreren dunklen Brettern, auf denen flache Kisten aus Holz standen. Über den Rand der Kisten schaute etwas hervor, das wie rote Kugeln aussah. Szymon lauschte – in dem Keller und draußen vor dem Haus war es still. Angezogen von dem Duft und der Farbe stand er vorsichtig auf und ging hinüber zu dem Regal. Nun war es eindeutig, der Geruch kam von den roten Dingern. Szymon nahm eines von ihnen heraus. Es fühlte sich gut an, so wie