Die Normalität des Absurden. Heinz Schneider

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Название Die Normalität des Absurden
Автор произведения Heinz Schneider
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783939043706



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abgelöster Vorgänger in meiner Funktion wurde von einem mir nicht bekannten Vertreter des damaligen Landesvorstands in der Zeit meiner Wahlperiode gebeten, die Geschäfte der FDJ-Oberschulgruppe doch wieder zu übernehmen, um deren Moral zu stärken und „die Karre aus dem Dreck zu ziehen“. Mir selbst sind damals allerdings keine Anzeichen irgendwelcher Unzufriedenheit des Kreis- oder Landesvorstands an meiner Leitung aufgefallen oder mitgeteilt worden. Im Gegenteil: Ich erhielt sogar die „Friedensmedaille der FDJ“, eine relativ hohe Auszeichnung, und eine Buchprämie vom Ludwigsluster Kreisvorsitzenden der FDJ. Die Kampagne gegen die „Junge Gemeinde“, deren Mitglieder als „Kugelkreuzler“ bezeichnet wurden, begann erst nach meinem Ausscheiden aus der Funktion des FDJ-Vorsitzenden der Zentralen Oberschulgruppe. Mit ihr hatte ich nichts zu tun.

      Nach meinem achtzehnten Geburtstag befand ich mich in der elften Klasse und nur noch ein halbes Jahr in der Dömitzer Oberschule. Man hat mich damals wohl bedrängt, zur „Polizei“ zu gehen. Ich kann mich aber beim besten Willen nicht daran erinnern, dass irgendjemand versuchte, mich für die SED zu werben. Nachdem Vater ebenfalls der Ansicht war, dass es gut wäre, wenn ich als Sohn eines Arbeiters zur „Volkspolizei“ ginge, habe ich mich schließlich dazu – ohne jede Begeisterung – entschlossen. Am Sonnabend, dem 5. Juli 1952, war mein letzter Schultag in der elften Klasse. Ich wurde in die zwölfte Klasse versetzt und ergriff laut Abschlusszeugnis den „Beruf eines Volkspolizisten“.

      Zwei Tage später trug ich die damals noch dunkelblaue Uniform der Volkspolizei, kam nach Schwerin in die Dienststelle Stern-Buchholz. Schon nach wenigen Tagen sah ich innerhalb dieser Einheit einige DDR-Panzer vom Typ T-34 und schnell wurde mir klar, dass es sich gar nicht um eine Polizeiformation, sondern um eine neue, im Aufbau befindliche Armee handelte, die zudem offensichtlich schon seit einigen Jahren als „Hauptverwaltung für Ausbildung“ bestanden hatte.

      Ich verpflichtete mich zunächst für drei Jahre, mein erster Dienstgrad war „VP-Anwärter“. Ich lernte zu schießen, zu marschieren, den Schrank in Ordnung zu halten, und erfüllte auch die sonstigen militärischen Übungen zur vollen Zufriedenheit meiner Vorgesetzten. Im Politunterricht erfuhren wir viel vom „Klassenfeind“, der jenseits der Demarkationslinie die Deutsche Demokratische Republik ständig bedroht. Diese Propaganda wiederholte sich in stets monotoner Weise, war allen hinreichend seit Jahren bekannt und wirkte bald ausgesprochen langweilig. Manche Kameraden schliefen beim Politunterricht regelmäßig ein. Zudem war der Intelligenzgrad mancher Politoffiziere damals erstaunlich niedrig, sodass man es als ehemaliger Oberschüler schwer hatte, diese stundenlange „Belehrung“ im Sinne einer typischen Schwarz-Weiß-Malerei bei voller Konzentration über sich ergehen zu lassen.

      Als Verbündete der ruhmreichen Sowjetunion galten auch wir stets als die Sieger der Geschichte, während aus der Sicht der DDR der Westen in Form der Bundesrepublik nur die Politik der verbrecherischen Nazis fortführte und alle positiven Veränderungen im Osten Deutschlands, wie die Bodenreform, die demokratische Schulreform, die Enteignung der Kapitalisten usw., rückgängig machen wollte. Aber wir als die legitimen Vertreter der deutschen Arbeiterklasse würden dem Machtstreben unserer Klassenfeinde schon einen Riegel vorschieben und unsere Republik wirkungsvoll – gemeinsam mit der Sowjetunion – schützen und im Bedarfsfall mit der Waffe in der Hand verteidigen. Denn niemandem sollte es erlaubt werden, das Rad der Geschichte jemals zurückzudrehen. Dafür würden wir schon sorgen.

      Ich war damals der Meinung, dass wir in der DDR eine Armee brauchten, und betrachtete die Republik als die einzige nur denkbare positive Nachkriegsalternative für unser geschundenes Land. Natürlich bemühte ich mich um gute militärische Leistungen. In meinem Inneren aber war ich, von unseren verantwortungsvollen, hochintelligenten Dömitzer Lehrern, wie Dr. Schimke und Hermann Harras, dazu erzogen, eher ein Pazifist. Das aber behielt ich geflissentlich für mich. Es war auch sicher besser so.

      In Korea tobte ein schrecklicher Krieg und die dortige Volksarmee befand sich auf dem Rückzug, nachdem die USA in dieses Gemetzel eingegriffen und die Nordkoreaner aus dem fast vollständig eroberten Süden der Halbinsel wieder zurückgedrängt hatte. Auch die sogenannten chinesischen „Volksfreiwilligen“ konnten einen Sieg der bereits geschwächten Nordkoreaner nicht herbeiführen, sodass der Krieg am 27.7.1953 mit einem Waffenstillstand am 38. Breitengrad ungefähr dort endete, wo er begonnen hatte. Die Kommunisten hatten eine schwere Niederlage erlitten. Gott sei Dank blieb dem geteilten Nachkriegsdeutschland, vermutlich aufgrund der Erfahrungen aus Korea, ein ähnlich hartes Schicksal erspart.

      Des Öfteren dachte ich an meine Mitschüler, die sich sicher mit gemischten Gefühlen nach ihren letzen Sommerferien jetzt auf ihr Abitur und ein Studium vorbereiteten. Gerne wäre ich dabei gewesen. Dass ich auch im Rahmen der Armee meinen einstigen Traumberuf, Arzt, ergreifen könnte, stand damals noch absolut in den Sternen. Allerdings wurde ich später kein Truppenarzt, da mich die NVA noch vor Beginn des Staatsexamens wegen eines „nicht klassenmäßigen Verhaltens“ am 7.3.1958 zwangsexmatrikulierte und aus ihren Reihen ausschloss. So konnte ich mein Studium als Zivilstudent erst nach einjähriger „Bewährung in der Produktion“ fortsetzen und 1959 in Greifswald beenden.

      Immerhin wurde ich nach der Rückkehr aus Priemerwald (s. u.) innerhalb der Kasernierten Volkspolizei in Stern-Buchholz zum Sanitäter ausgebildet, worüber ich sehr froh war. Mein Lehrer und Ausbilder war damals der Internist Hauptmann Dr. H.-U. Krüger, den ich fünfzehn Jahre später als Bezirksdiabetologe von Schwerin wieder traf, während ich als Chefarzt einer Diabetesabteilung im Kreiskrankenhaus Prenzlau inzwischen die gleiche Funktion im Bezirk Neubrandenburg ausübte.

      Von der Dienststelle der Kasernierten Volkspolizei in Schwerin Stern-Buchholz wurden wir als VP-Anwärter nach Abschluss unserer militärischen Grundausbildung im Rahmen einer Nacht- und Nebelaktion in getarnten Lkw in die „Taiga“ (gängiger Armeeausdruck für ein dünn besiedeltes Waldgebiet im Norden der DDR) verlegt. Nach der Fahrt von einigen Stunden landeten wir irgendwo – ein Zielort war uns nicht mitgeteilt worden – in einem Kiefernwald, bauten unsere Zelte auf, in denen wir auf Stroh schliefen.

      Nach einem schönen Ruhetag im Wald wurden wir in der nächsten Nacht barsch von einem Unteroffizier geweckt, brauchten nur einige hundert Meter zu marschieren und landeten an einer inoffiziellen Bahnstation namens „Priemerwald“. Dort erwartete uns schon ein langer Güterzug mit der Aufschrift an einem Waggon: „Eier für unsere deutschen Freunde.“ Offenbar kam er direkt aus der Sowjetunion. Wir entluden Waggons voller Munition, darunter zahlreiche mit kyrillischer Schrift versehene, 84 kg schwere Holzkisten mit je einer Artilleriegranate. Wir schleppten sie ca. 80 m weit in besenreine unterirdische Bunker, die scheinbar die Nazizeit unbeschädigt überstanden hatten.

      Nach einigen Wochen avancierte ich zum Schreiber der Kompanie, erhielt ein Extra-Einzelzelt und sogar als einziger aller Kameraden ein Feldbett, unter dem ich die begehrten Ausgangskarten und weitere wichtige Papiere verstaute. Während alle anderen Kameraden jede Nacht heraus mussten, um neue, gerade eingetroffene Munition einzubunkern, hatte ich nach wenigen Wochen gleichartiger Tätigkeit ein sehr schönes Leben und konnte jede Nacht in Ruhe schlafen. Ich musste allerdings ein Lagerfeuer vor meinem Zelt hüten und begrüßte – sicher von vielen ob meines bequemen Jobs beneidet – an jedem Morgen gegen 4.30 Uhr die heimkehrende, singende Truppe, die einen körperlich extrem schweren Nachteinsatz hinter sich hatte und nach einem provisorischen Frühstück bis zum frühen Nachmittag in ihren Zelten schlafen konnte.

      Eines Morgens im August 1952 gab es ein besonderes Vorkommnis. Ein lauter Doppelknall erschütterte das gesamte Zeltlager, gefolgt von einem sehr lauten, herzzerreißenden Schmerzensschrei eines jungen Kameraden von ca. 20 Jahren, wie ich vorher noch nie einen gehört hatte. Was war geschehen? Der Soldat hatte einen Schabernack geplant und mich erschrecken wollen, indem er zwei Zwei-Zentimeter-Granaten – vermutlich Fundmunition aus dem Zweiten Weltkrieg – in das leicht glimmende Lagerfeuer warf. Sie krepierten sofort, kurz hintereinander und –eine zerfetzte mein Zelt, ohne mich zu beschädigen. Die zweite durchschlug unmittelbar danach die Bauchwand des Werfers, der sich sehr schwer verletzte, aber anfangs noch ansprechbar war. Er wurde sofort in eine chirurgische Klinik – vermutlich nach Güstrow – verlegt und starb dort zu unserem großen Bedauern einen Tag später.