Die Normalität des Absurden. Heinz Schneider

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Название Die Normalität des Absurden
Автор произведения Heinz Schneider
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783939043706



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nicht, war mir völlig egal. Das stieß natürlich auf komplettes Unverständnis.

      Es war an einem Wochenende 1955 in der Militärmedizinischen Sektion in der Greifswalder Pappelallee, als Kay Blumenthal-Barby, Herwig Zichel und ich, allesamt befreundete Medizinstudenten im fünften Semester, beschlossen, ein Wettessen im Sportlerheim in der Wolgaster Straße durchzuführen. Dort gab es an jedem Mittwoch für eine Mark jeweils vier Kartoffelpuffer in der Größe eines kleinen Bierdeckels, dazu einen winzigen Klacks Apfelmus. Kay meinte, dass Alkohol die Fettverdauung fördere, sodass er nach dem Genuss von jeweils vier Puffern und einem kleinen Wodka (40 %, 20 ml) mehr verzehren könnte als ich, der damals ein absoluter Alkoholgegner war und generell weder Wodka, Wein noch Bier zu sich nahm.

      Eine zeitliche Begrenzung des Wettbewerbs war nicht vorgesehen. Herwig wurde zum neutralen Schiedsrichter ernannt. Er durfte so viele kreisrunde Puffer „vertilgen“, wie er wollte, und auch Alkohol oder andere Getränke oder Speisen nach Belieben verzehren. Der Verlierer der Wette musste ihm und dem Sieger die Kosten der Zeche bezahlen.

      Schon am Montag beobachteten wir uns misstrauisch und aßen nur noch halb so viel wie sonst.

      Am Dienstag verzehrten wir wegen der „spezifisch-dynamischen Wirkung“ nur noch etwas extrem fettarmes Rindfleisch, welches Kay damals von guten bäuerlichen Bekannten aus einem Dorf bei Greifswald besorgt hatte, denn es gab zu dieser Zeit noch Lebensmittelkarten, über die wir als kollektiv verpflegte KVP-Medizinstudenten nur im Urlaub verfügten. Der Effekt dieser stark proteinhaltigen Kost sollte nach damaliger Auffassung bewirken, dass die am Folgetag aufgenommene Kost schneller verdaut würde, sodass wir hofften, mehr Puffer als sonst essen zu können. Den wissenschaftlichen (oder pseudowissenschaftlichen?) Zusammenhang, den wir im Fach Physiologie noch an der Universität in Leipzig dargestellt bekamen, vermag ich als heute fast 81-Jähriger nicht mehr zu erklären.

      Nach circa dreieinhalb Stunden war die Wette zu Ende. Bis zum sechsten Teller herrschte auch zeitlich noch Gleichstand. Dann blieb Kay deutlich zurück. Während ich nach dem „Genuss“ von achtundzwanzig bereits verzehrten Puffern triumphierend die nächsten vier bestellte und tatsächlich noch aufaß, kapitulierte Kay, nur leicht beschwipst, beim achtundzwanzigsten Kartoffelpuffer. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt bereits den neunten Teller erhalten und von den mir kredenzten sechsunddreißig Puffern schon vierunddreißig verzehrt. Damit wurde ich von Herwig zum Sieger erklärt.

      Meine Speiseröhre war ausgestopft. Ich hatte ein widerwärtiges Globusgefühl im Hals und konnte nicht mehr laufen. Selbst beim großzügigsten Wettangebot hätte ich keinen Bissen mehr herunterbekommen. Auch Kay hatte seine Probleme. Meine Freunde nahmen mich in die Mitte, hakten sich bei mir ein und zerrten mich, singend, „nach Hause“ in das ehemalige Luftwaffenlazarett, die etwa siebenhundert Meter entfernte KVP-Dienststelle. Ich konnte in die fröhlichen Lieder nicht einstimmen, obwohl mir so richtig übel eigentlich nicht war. Irgendwie war mir aber die Luft knapp. Erst nach zwei Tagen konnte ich wieder „normal“ essen.

      Herwig hatte zwölf Puffer verdrückt und damit sicher mehr gegessen als üblicherweise, denn er erhielt sie ja umsonst. Auch trank er mehrere Gläser Pils (0,25 l), von dem damals eines – übrigens bis zum Mauerfall – nur einundfünfzig Pfennige kostete. Den pseudowissenschaftlichen Studentenstreich haben wir noch oft erwähnt und unter den Zuhörern stets allseitiges Lachen, meist verbunden mit leichtem Kopfschütteln, ausgelöst.

      Im Jahre 1956 erstand ich zu meiner großen Überraschung in der Universitätsbuchhandlung in der Langen Reihe in Greifswald das in der BRD editierte Buch von Jawaharlal Nehru „Weltgeschichtliche Betrachtungen“, das er als Häftling für seine Tochter Indira Gandhi geschrieben hatte. In ihm fand ich ein Testament W. I. Lenins aus dem Jahr 1922/23, das in der DDR nicht bekannt war oder geheim gehalten wurde. Darin wurde von Lenin der in der SED angefeindete und 1940 von der Tscheka in der Nähe von Mexiko-City ermordete Leo Trotzki als der fähigste Mann im ZK der russischen Kommunisten betrachtet und für die leitende Funktion nach Lenins Tod als privilegiert angesehen, während J. W. Stalin aufgrund seiner Grobheit und Launenhaftigkeit als weniger geeignet erschien.

      Ich wandte mich daraufhin an den Politoffizier Oberst Herold und bat ihn um eine Erklärung dieses mir bis dahin völlig unbekannten Sachverhalts, womit ich buchstäblich in ein Wespennest getreten war. Trotzkis bedeutende Rolle während der russischen Oktoberrevolution und in der unmittelbaren Zeit danach wurde in der DDR stets geleugnet und er wurde ähnlich wie ein gefährlicher „Volksfeind“ angesehen. Ausgerechnet Lenin, der politische Halbgott (oder besser Übervater?) der Kommunisten, sollte diesen von der KPdSU (Kommunistische Partei der Sowjetunion) geächteten Gegner der Partei gelobt haben. Ich brachte damit die „führenden SED-Genossen“ der Militärmedizinischen Sektion in Greifswald, allesamt Altstalinisten, in arge Erklärungsnot und hatte sie buchstäblich kalt erwischt. Dass sie in der Folgezeit für mich kaum noch Sympathie empfinden würden, war mir klar. Für die Partei war ich künftig so etwas wie ein rotes Tuch. Doch Pandit Nehru war der Gründungsvater der Blockfreien, die in der DDR damals gut angesehen waren. Ich lobte ihn, so gut ich konnte. Und das meinte ich durchaus ehrlich.

      Eine Blockfreiheit für ein wiedervereinigtes Deutschland analog zur Republik Österreich (1955) hätte ich mir schon 1952, dem Jahr der Stalin-Noten, durchaus gewünscht, konnte mir aber beim besten Willen nicht vorstellen, dass die Sowjetunion das Uranvorkommen in der DDR nicht weiterhin ausbeuten wollte. Somit hielt ich den sowjetischen Vorschlag, der auf eine Neutralität Gesamtdeutschlands ausgerichtet war, wohl eher für eine Farce. Nebenbei bemerkt: Eine Antwort auf meine vermutlich als provokant angesehene Frage erhielt ich von den Politoffizieren nie.

      Die älteste und traditionsreichste Studentenkneipe Greifswalds war die „Falle“. Wegen der zahlreichen historischen Bilder an den Wänden und der interessanten Gäste – meist Studenten anderer Fachrichtungen – war sie auch bei uns sehr beliebt. Allerdings sollten wir als ehemalige Studenten der Kasernierten Volkspolizei (KVP), damals einer Neuheit in der Universitätsstadt, sie nach Ansicht unserer Dienststellenleitung nicht betreten. Sie befand sich in der Fischstraße 8, ihr damaliger Inhaber war Bruno Krauskopf. Irgendjemand musste Lothar, Herwig, Kay und mich, alle vier stolze, frisch gekürte „Kandidaten der Medizin“ des fünften Semesters, dazu motiviert haben, an diesem Ort der reichen Studententradition etwas Schriftliches zu hinterlassen. Tatsächlich trugen wir uns mit einem frivolen Trinkspruch in ein uns vorgelegtes Album der sehr schönen Gaststätte ein:

      „Gryps, 29.1.56

      Der Herr, der die Bäume begipfelt,

      der Herr, der die Männer bezipfelt,

      der Herr, der die Frauen gespalten,

      lang möge er uns diesen Trunk erhalten.

      Prostata, Prostata, es lebe die Gebärmama!

      cand. med. Herwig Zichel

      cand. med. Kay Blumenthal

      cand. med. Lothar Peter

      cand. med. Heinz Schneider (ein Dunkles)“

      Nach über 55 Jahren konnten wir uns – mittlerweile hochbetagte Altersrentner – nicht einmal im Ansatz mehr an das Ereignis der schriftlichen Fixierung des lustigen Trinkspruchs erinnern. Erst der Medizinhistoriker Prof. Günter Ewert, ein einstiger Kommilitone aus dem damaligen dritten Semester, fand in einem kurzfristig von einem Kollegen ausgeliehenen Buch des einstigen Fallenwirts unsere damalige Eintragung auf gelbem Albumpapier. Als wir unseren Frauen kürzlich stolz diesen Trinkspruch präsentierten, hielten sie den Inhalt für „typisch schweinisch“. Da die Schrift eindeutig als uns zugehörig erkennbar war, konnten und wollten wir unsere Mittäterschaft an der Eintragung des Reims auch nicht leugnen. Insgeheim waren wir selbst als alte Männer sogar etwas stolz auf dieses wiederentdeckte unbekannte Schriftstück aus längst verflossener Jugendzeit, die leider nie mehr zurückkehrt.

      Wie die damals sicher recht fröhliche Zeche aussah und endete, wissen wir heute nicht mehr. Auch ist uns der Verfasser des gut formulierten Gedichts unbekannt,