Die Normalität des Absurden. Heinz Schneider

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Название Die Normalität des Absurden
Автор произведения Heinz Schneider
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783939043706



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Krieg) gewonnen?“ Dennoch kann ich mich an eine zielgerichtete nationalsozialistische Erziehung in der Schule, bis auf den Biologieunterricht, wirklich nicht erinnern. Und der aus Köln stammende Dechant Beys, unser Dorfpfarrer, war keinesfalls ein Hitler-Befürworter. Auch das Deutsche Jungvolk (DJ) bestimmte unseren Alltag nicht.

      Das Gebiet um Karlsbad war bis zum Kriegsende nicht von fremden Truppen besetzt worden, es herrschte „Ordnung“. Die Ansprüche auf Lebensmittel, die man laut Lebensmittelkarten beziehen konnte, wurden vollständig abgedeckt. Die Nationalsozialistische Volkswohlfahrt (NSV) verkaufte sogar in großen Mengen billig Wein, blaugrauen Militärstoff der Luftwaffe und neue Filzstiefel. Mein Onkel (Himmel) Pepp, der in Rodisfort Vorsitzender der NSDAP gewesen war, kümmerte sich in seiner braunen Uniform um die zahlreichen Flüchtlinge, die mit ihren Trecks aus Niederschlesien bis zu uns gelangt waren und stets in westliche Richtung weiterzogen. Auch in der Wehrmacht, die bei uns zuletzt vom legendären Generalfeldmarschall Schörner geführt worden war, schienen aus meiner Perspektive Ordnung und Disziplin zu herrschen. So erlebte ich das unmittelbare Kriegsende zunächst nicht als die „Befreiung“ von etwas Schrecklichem durch die gegnerischen Soldaten. Erst später erkannte ich das große Unrecht, das die Nationalsozialisten der Welt, aber auch unserem Volk angetan hatten.

      Es war im Sommer 1945, als meine Mutter, aus Haid kommend, mit meiner damals erst fünfjährigen Schwester Gerti auf das Sitzbrett des Panjewagens eines russischen Soldaten stieg, der beide mit seinem Pferdegespann in das ca. vier Kilometer entfernte Rodisfort mitnahm und vermutlich nur hilfsbereit war. Unterwegs ließ er gesprächsweise erkennen, dass er am Nationalgetränk der Russen, Wodka, interessiert war. Als Gegenleistung bot er Schweinefleisch, welches mit unserer sehr knapp bemessenen „Lebensmittelkarte für Deutsche“ im Sommer 1945 gar nicht beziehbar war.

      Wir hatten keine entsprechende Spirituose zu Hause und hochprozentige Alkoholika waren in unserem Haushalt verpönt. Meine praktisch denkende Mutter hatte aber – noch im April 1945 – bei der NSV relativ billig mehrere Flaschen Wein erstanden, denn offenbar wurden die letzten Reserven im April 1945 verkauft. Zum Feiern war den Erwachsenen unmittelbar nach Kriegsende sowieso nicht zumute, denn in der desolaten Lage und bei dem völlig ungewissen Schicksal der Männer bestand dafür kein Grund. Somit konnten wir den Wein, bevor ihn Tschechen beschlagnahmten, gut entbehren. Für fünf Flaschen Wein erhielten wir von dem freundlichen russischen oder ukrainischen Soldaten ca. fünfzehn Kilogramm frisches Schweinefleisch und fragten natürlich nicht, woher er es hatte. Mutter weckte das meiste davon ein. Bis zum Jahresende hatten wir drei genügend Fleisch, sodass ein eigentlicher Hunger gar nicht erst aufkam und sich das Tauschgeschäft für unsere kriegsbedingt entstandene Kleinfamilie als wahre Glücksquelle entpuppte. Dennoch habe ich mich dafür geschämt, dass die Mutter mit einem Angehörigen der Besatzungsmacht im offenen Wagen durch unser schönes Dorf Rodisfort fuhr, während sie sich nachts – zusammen mit anderen Frauen – im Akazienhain des Stengelbergs vor den gleichen, meist angetrunkenen Besatzern versteckte, um einer drohenden Vergewaltigung zu entgehen.

      Ich konnte es damals einfach nicht fassen, dass fremde Mächte den Krieg gewonnen hatten, obwohl unsere Soldaten so tapfer gewesen waren und in meinen Kindesaugen die Wehrmacht die besten Waffen der Welt besessen hatte. Dass wir ein Jahr später über den Krieg hinaus auch unsere schöne Heimat verlieren würden, konnten wir zu dieser Zeit noch nicht ahnen. Und von den Potsdamer Beschlüssen erfuhren wir so gut wie nichts, da wir unsere Radios abgeben mussten.

      Die meisten Tschechen waren sicher damals nicht daran interessiert, dass wir Sudetendeutschen von der Art und Weise unserer geplanten Vertreibung erfahren, die als „humane“ und nicht als „wilde“ Vertreibung erfolgen sollte –, eine Vertreibung, die durch nichts zu begründen ist, nachdem unsere Landsleute mehr als siebenhundert Jahre in Böhmen und Mähren in friedlicher Eintracht mit den Tschechen gelebt und durch fleißige Arbeit den Reichtum des Landes gemehrt hatten.

      Im August oder September 1945 hatten sudetendeutsche Antifaschisten bei den tschechischen Behörden und dem aus Roßbach im Sudetenland stammenden und aus dem Exil in der Sowjetunion zurückgekehrten Freund meines Vaters Rudolf Dölling (* 1902, † 1975) erwirkt, dass sudetendeutsche Kommunisten keine weiße Armbinde mehr zu tragen brauchten, bessere Lebensmittelkarten (sogenannte Tschechkarten) erhielten und auch ihre Kinder in eine tschechische Schule schicken durften. Gleiche Bedingungen erreichten auch die Sozialdemokraten.

      Statt der Armbinde trug ich jetzt am linken Revers meiner Jacke ein rotes Nummernschild mit einer vierstelligen Zahl in Weiß. In Ermangelung tschechischer Sprachkenntnisse hatten wir jedoch zu den neuen Machthabern keinerlei Kontakt. Aus dem ehemaligen „Protektorat Böhmen und Mähren“, wie die restliche Tschechei nach dem 15.3.1939 offiziell geheißen hatte, waren gleich nach Kriegsende zwei nach dort geflüchtete Geschwister meines Vaters mit ihren Angehörigen nach Rodisfort zurückgekehrt, darunter mein Onkel Wenzel Schneider, der früher einmal Ortsvorsteher in Rodisfort gewesen war, und Tante Milly, die vor dem Krieg den Onkel Franz Lebr, einen tschechischen Gerichts- oder Justizangestellten aus Karlsbad, geheiratet hatte. 1938 hatten ihn die Nationalsozialisten einige Monate in Zwickau inhaftiert, ohne dass ich bis heute die wahren Gründe kenne. Da wir jetzt im gleichen Haus wohnten, hatten wir nach dem Krieg sicher einen gewissen Schutz vor etwaigen tschechischen Zugriffen. Sie kümmerten sich in aufopferungsvoller Weise um meine hochbetagten Großeltern und konnten immerhin verhindern, dass sie im hohen Alter unsere schöne Heimat noch verlassen mussten und aus Rodisfort vertrieben wurden.

      Mutter fand Arbeit in der ehemaligen Zwirnfabrik Willy Melzer in Wickwitz, die jetzt dem tschechischen Staat gehörte. Da wir unser Fahrrad gleich nach Kriegsende abgeben mussten, legte sie täglich den weiten Weg zu Fuß zurück. Das von ihr verdiente Geld reichte zum Lebensunterhalt gerade aus, sodass wir eine eigentliche Not in dieser Zeit nicht erlebten.

      Ich besuchte die sechste Klasse der tschechischen Schule, die nur einen einzigen Lehrer, Pan Koloros, hatte, der sich als ein wahrhaft guter Mensch erwies und redlich bemühte, uns wenigen deutschen Schülern die tschechische Sprache beizubringen, ohne dass er auch nur ein einziges deutsches Wort mit uns sprach oder sprechen durfte. Die Vermittlung der uns völlig fremden Sprache war ihm relativ gut gelungen. Er lehrte uns mindestens zwei Dutzend melodisch schön klingende tschechische Volkslieder, von denen ich einige noch heute in der Originalsprache beherrsche, ohne sie allerdings zu verstehen. Im Sommer 1946 beherrschten wir den Stoff der sechsten Klasse. Ein Zeugnis erhielten wir jedoch nicht. Zu den tschechischen Mitschülern, die in immer größerer Zahl in die ehemalige Rodisforter Dorfschule aufgenommen wurden, hatten wir hingegen keinerlei persönlichen Kontakt.

      Irgendwann – vermutlich im Sommer 1945 – musste die gesamte gehfähige deutsche Bevölkerung in Karlsbad eine Ausstellung besuchen, in der uns anhand schrecklicher Bilder aus den Konzentrationslagern die Gräuel der Nationalsozialisten demonstriert wurden. Wer nicht in diese Ausstellung ging, sollte künftig keine Lebensmittelkarten erhalten. Da wir den Weg zu Fuß bewältigen mussten, denn Deutsche durften zu dieser Zeit einen Bus nicht benutzen, erschienen mir der Hin- und Rückweg von ca. 24 Kilometern über Haid und Dallwitz ziemlich lang.

      Im September 1946 erfolgte unsere Aussiedlung, wobei wir als Antifaschisten sogar unsere Möbel mitnehmen durften und zu unserer großen Überraschung den künftigen Wohnsitz zwischen der amerikanischen und sowjetischen Besatzungszone selbst wählen konnten. Da der Vater ein überzeugter Kommunist war, bevorzugten wir selbstverständlich die Sowjetische Besatzungszone Deutschlands, was aber zur langfristigen Trennung von unseren in Bayern lebenden Verwandten führte und aus heutiger Sicht sicher eine falsche Entscheidung gewesen war, denn die meisten Verwandten haben wir nie mehr gesehen. So landeten wir nach einem sechswöchigen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Nähe des Ludwigsluster Bahnhofs schließlich in Dömitz an der Elbe, einer bis auf die beiden Elbbrücken unzerstörten Mecklenburger Kleinstadt. Trotz der den Mecklenburgern allgemein sicher zu Unrecht zugesprochenen Sturheit wurden wir freundlich und ohne Vorurteile aufgenommen und schlugen als Kinder schnell Wurzeln.

      In der Festung Dömitz wurde uns in dem Haus, in dem 107 Jahre zuvor der berühmte niederdeutsche Dichter Fritz Reuter (*1810, † 1874) wegen angeblicher Majestätsbeleidigung zunächst