Die Normalität des Absurden. Heinz Schneider

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Название Die Normalität des Absurden
Автор произведения Heinz Schneider
Жанр Биографии и Мемуары
Серия
Издательство Биографии и Мемуары
Год выпуска 0
isbn 9783939043706



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umgesiedelt.

      1946 wurde ich in die Dömitzer Einheitsschule aufgenommen. Meine Mutter konnte nicht erreichen, dass ich in die siebente Klasse kam, denn die tschechische Schule in Radošov, wie Rodisfort nach dem Kriegsende hieß, hatte den wenigen deutschen Schülern mit antifaschistischer Herkunft keine Zeugnisse ausgestellt. Somit konnte ich keinen gültigen Beleg für den Besuch der sechsten Klasse vorweisen.

      Vom Inhalt her war der Unterricht in der Nachkriegstschechei keinesfalls schlechter als in Dömitz. Da die Dömitzer Lehrer den Unterricht in einer fremden Sprache dem Deutschen als nicht gleichwertig erachteten, musste ich die sechste Klasse – jetzt in der Roggenfelder Straße – ein zweites Mal besuchen, nun in meiner Muttersprache, ohne dass ich zuvor sitzengeblieben war.

      Die Mitschüler und die Klassenlehrerin, Frau Griem, nahmen mich freundlich auf, ich fühlte mich sofort wie zu Hause. Der überwiegende Teil der Schüler war ebenfalls aus der Heimat vertrieben worden und stammte entweder aus Pommern, Ost- oder Westpreußen oder auch aus dem Wartheland. Aus dem Sudetenland war ich zunächst allein. Wir hatten jetzt neben Englisch auch Russisch, ein Fach, das damals unter den meisten Schülern nicht sonderlich beliebt war. Arbeiterkinder wurden gegenüber Kindern mit bürgerlicher Herkunft weder bevorzugt noch benachteiligt.

      Das Schulklima kann als durchaus harmonisch bezeichnet werden. Meine neuen Freunde wurden neben dem Schlesier Peter Nimptsch die Mecklenburger Orchi Schulz, ein Kaufmannssohn, und Fritz Henning, der ebenfalls eine kleinbürgerliche Herkunft aufwies und sehr belesen war. Mit ihnen hatten wir 1947 eines Nachts mit Ölfarbe das Wort „Hunger“ an die Mauer rechts neben einem Milchgeschäft in der Nähe der Apotheke geschrieben, welches nicht übertüncht wurde und noch lange erkennbar war. Beide Freunde waren fast täglich in meinem Elternhaus zu Gast, in dem allerdings oft die tägliche Diskussion von meinem Vater auf die aktuelle Tagespolitik gelenkt wurde. Auch mit den Mitschülerinnen Miken Stolle, Dödi Götting und Lotti Saß verstand ich mich gut. Wir wirkten nach Unterrichtsschluss in einer vom Dömitzer Werner Timm gegründeten Laienspielgruppe mit und wurden mit dem zeitkritischen Stück „Die Dachluke“ sogar als Kreis- und Landesmeister und schließlich 1949 als Ostzonenmeister anlässlich des III. Parlaments der FDJ in Leipzig ausgezeichnet. Werner Timm setzte es durch, dass wir einmal in Zinnowitz an der Ostsee einen kostenlosen prächtigen Ferienaufenthalt verbringen konnten, wodurch unser Zusammengehörigkeitsgefühl erheblich gestärkt wurde. So war die Grundschule in einer von Enthusiasmus und Harmonie geprägten Zeit 1949 für mich in Dömitz zu Ende gegangen. Im Februar 1949 war ich freiwillig der FDJ beigetreten, die damals noch eine überparteiliche Organisation zu sein schien und Ähnlichkeiten mit dem sowjetischen Komsomol nicht erkennen ließ.

      Die Motive meiner Teilnahme an der Jugendweihe waren weder edel noch hehr – Grund war der Wunsch nach einem Anzug für meinen Bruder, der sich verloben wollte. Außer zwei englischen Uniformen aus der Zeit seiner Kriegsgefangenschaft besaß er keinerlei dafür brauchbare Oberbekleidung.

      Zur Konfirmation erhielt damals jeder Teilnehmer in Dömitz einen Bezugsschein für einen Anzug. Für mich als katholisches Flüchtlingskind kam so eine Unterstützung nicht infrage, da für das gleiche Alter eine analoge katholische Feier nicht anstand und meine Mutter trotz intensiver Bemühungen keinen entsprechenden Bezugsschein für mich erhalten konnte.

      Folglich beschloss der Familienrat, dass ich mich an der im März stattfindenden Jugendweihe mit kurzer Hose zu beteiligen hätte, damit die Stadtoberen an meiner frostigen Reaktion erkennen sollten, dass ich ebenfalls dringend einen Anzug benötigte. Die Rechnung ging auf, denn meine Mutter erhielt nach meiner Teilnahme prompt die Berechtigung für den Bezug eines Anzuges. Mein Bruder konnte sich einen neuen Zellwollanzug kaufen und ich hatte meine Schuldigkeit getan. Als Gegenleistung erhielt ich seine beiden warmen britischen Militäruniformen aus reiner englischer Wolle, die mir bis in die neunte Klasse wertvolle Dienste leisteten. Damit hatte sich die Jugendweihe für unsere Familie als wertvolle Bereicherung erwiesen.

      Wie verlief die Jugendweihe 1948? Wir waren fünf männliche Teilnehmer unter vermutlich 130 Gleichaltrigen aus Dömitz und der näheren Umgebung. Eine Vorbereitung auf diese Feierstunde gab es nicht. Die anderen Beteiligten aus den nahe gelegenen Dörfern waren mir unbekannt. In der Schule wurde über das Ereignis nicht gesprochen. Es gab einen kleinen Dömitzer Chor und einen Festredner, der eine gute und völlig unpolitische atheistische Rede hielt, in der die künftige und offenbar bald erwartete Einheit Deutschlands viel Raum erhielt, das Wort „Sozialismus“ aber nicht vorkam. Die Organisation lag in den Händen der Ortsgruppe der Dömitzer SED, die vom Genossen Konrad Meier geleitet wurde. Jeder Teilnehmer erhielt ein Buch und einen Spruch, der für das künftige Leben von Bedeutung sein sollte. Mein Buchtitel lautete: „1933-1945. Wie konnte es geschehen?“ Auf dem Titelbild befand sich eine mitteleuropäische Landkarte mit Deutschland im Zentrum. Markierungen zeigten es in den Grenzen von 1937.

      Der Autor war Max Fechner (1897-1973), ein bekannter sozialdemokratischer Politiker, der als späterer SED-Funktionär von Oktober 1949 bis Juli 1953 der erste Justizminister der DDR war. Er verteidigte nach dem 17. Juni 1953 im „Neuen Deutschland“ das Streikrecht der Arbeiter und wurde als „Feind des Staates und der Partei“ verhaftet und zu acht Jahren Zuchthaus verurteilt. Drei Jahre später wurde er rehabilitiert, bekam aber keine vergleichbare Funktion mehr.

      Mein Spruch lautete: „Die Zeit braucht Deine Hände, halte Dich nicht fern.“ Dabei handelte es sich um ein Zitat des Berliner Arbeiterdichters Walter Dehmel (1903-1960). Nach der Feier, die ca. 90 Minuten dauerte, war die Festlichkeit zu Ende.

      Es war vermutlich im Sommer 1950, als ich von den Mitgliedern der FDJ nach der Funktionsaufgabe meiner Vorgängerin Ellen Schwenke mit vielen Gegenstimmen, aber der Stimmenmehrheit der Anwesenden in freier Wahl zum FDJ-Sekretär der Zentralen Oberschulgruppe gewählt wurde. Ich wurde erst auf der Versammlung – zu meiner eigenen großen Überraschung – als Kandidat nominiert und war mit Sicherheit nicht der Wunschkandidat der SED. Die anderen Kandidaten hatten noch mehr Gegenstimmen als ich, sodass ich – quasi in Form einer Kampfabstimmung – völlig demokratisch in die Funktion des FDJ-Sekretärs gelangt war.

      Als solcher gehörte es zu meinen Pflichten, auch am Abitur des Jahrgangs 1951, der nur elf Schüler umfasste, teilzunehmen und eine gesellschaftspolitische Beurteilung für jeden Abiturienten zu erstellen. Mein Deutsch- und Lateinlehrer, Hermann Harras, bot sich an, diese für mich, der die Schüler der zwölften Klasse kaum kannte, zu verfassen. Als damaliger Klassenlehrer des Abiturientenjahrgangs fertigte er die gesamten Einschätzungen persönlich an, ich brauchte sie nur noch zu unterschreiben. So konnte er gewährleisten, dass jeder Abgänger seiner Klasse eine gute gesellschaftspolitische Beurteilung erhielt und aus dieser Sicht keine Schwierigkeiten bei der Aufnahme des Studiums bekommen würde. Gerne war ich auf sein Angebot eingegangen, von dem niemand etwas erfahren durfte und erfuhr.

      Von den Mitgliedern der FDJ-Kreisleitung in Ludwigslust wurde ich permanent bedrängt, Oberschüler für den Dienst in der bewaffneten Streitmacht der DDR zu gewinnen, die sich damals noch „Deutsche Volkspolizei“ nannte. Es gelang mir jedoch nicht, auch nur einen einzigen Schulkollegen für den Dienst in der „Volkspolizei“ zu werben. Um selbst aber in den Augen der Schulkameraden nicht unglaubhaft dazustehen, blieb mir der eigene Eintritt in die bewaffneten Kräfte der DDR nicht erspart. Ähnlich erging es damals auch anderen FDJ-Sekretären.

      Mitglieder der SED gab es in der Dömitzer Oberschule damals nicht. Rudi Koszorek, der in der SED-Kreisleitung Ludwigslust tätig war, hatte mich mit Fritz Henning zum Anhören einer stundenlangen Radiosendung – der Debatte des Deutschen Bundestages – in seine Wohnung in die Dömitzer Walther-Rathenau-Straße eingeladen. Dr. Konrad Adenauer hielt eine lange eindrucksvolle Rede. Offenbar wollte Rudi Koszorek als „Weichensteller“ meine politischen Ansichten und den Grad meines „Klassenbewusstseins“ erkunden. Ich hörte mir die Sendung an und sagte – nichts.

      Sicher war ich für die Genossen der SED eher eine arge Enttäuschung. Das geht auch daraus hervor, dass ich – obwohl frei gewählt – auf Drängen höherer Stellen möglicherweise