Название | Erfahrungen in einem sozialen Netzwerk |
---|---|
Автор произведения | Edith Zeile |
Жанр | Программы |
Серия | |
Издательство | Программы |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783957446527 |
Früher gab es in der wirklichen Welt das Gegenteil, das Spießrutenlaufen. Heute ist es der shitstorm.
Diese Diskussionen am SCHWARZEN BRETT sind beides: shitstorm und lovestorm. oder besser luststorm – die englische Sprache ist da sehr hilfreich. Im Namen der Eitelkeit! Im Namen der Gier, allen zu gefallen, den Märchenprinzen oder die Prinzessin zu finden und den Konkurrenten totzuquatschen.
DAS ist natürlich der Köder von SB, den vielen jungen Alten nach der ersten – oder xten – Trennung eine Spielwiese für Partnersuchende anzubieten. Kostenlos – im Gegensatz zu Parship oder Elitepartner.
Und in der Tat! Ein Foto genügt, um eine Kontaktanfrage auszulösen, und schon trifft man sich, wenn der eine nicht gerade auf Rügen und der andere auf der Insel Mainau im Bodensee wohnt.
Andererseits haben bedächtigere und ernsthaftere Sucher großartige Möglichkeiten, sich in langen tiefsinnigen Diskussionen kennenzulernen, so dass man sich später als gute Bekannte gegenüber stehen kann.
Speed-dating hat da doch Nachteile.
Vielleicht sollte einmal ein Gerontologe eine Magisterarbeit zu diesem Thema vergeben und die Frage klären lassen, wie viele Paare schon mithilfe von SB in den vergangenen zwei Jahren zusammen gefunden haben. Die Leitung der Community könnte das dann als Erfolgsmeldung an uns alle weitergeben.
So wird das uralte Spiel mit Raffinesse, Kalkül, Erotik-„Werkstätten“ (!?) und entsprechendem Bildmaterial gespielt, und in der letzten Zeit spürt man deutlich, dass die Atmosphäre immer schwüler wird. Manche hoffen auf ein Gewitter, andere verlassen sogar mit Pauken und Trompeten ihr vorher so geliebtes SB.
***
Neben diesem Thema Nr. 1 hat sich ein weiterer Schwerpunkt herauskristallisiert, der von einer Gruppe von Personen getragen wird, die alle nicht wissen, w e r sie sind, w a r u m sie hier sind und w a s sie überhaupt auf der Welt sollen: Ich meine die Philosophen.
Zu ihnen gesellen sich dann auch merkwürdige Außenseiter der Gesellschaft, die mit Spezialwissen in Esoterik auftrumpfen, oder Theologen und Gottesleugner, die ihre Positionen in ellenlangen Wortgefechten vertreten, sich gelegentlich auf die Füße treten oder die Contenance verlieren. Ohne eine Prise Toleranz geht das nicht. Dann geht das „alles am A… des anderen vorbei“, eine idiomatische Wendung, die heute zur normalen Ausdrucksweise erwachsener gebildeter Mitteleuropäer gehört.
Die höchste Stufe der Eitelkeit wird von denen erklommen, die einen sog. Beitrag in der THEMENWELT erstellen.
Das ist die Schatztruhe, von vielen noch gar nicht entdeckt, weil das Lesen eben anstrengt und das eigene Profilbild nur dann auftaucht, wenn man sich zu einem Kommentar aufgerafft hat.
Aber der Autor oder die Autorin kann hier einen Monolog halten wie ein Held oder eine Heldin in einem Shakespeare-Drama.
Und das Volk steht und klatscht und verteilt den Lorbeerkranz „Lesenswert“.
Erst als mir vor Kurzem von einem an sich netten User mitgeteilt wurde, wie selbstverliebt ich sei, weil ich ja mit dem Schreiben gar nicht mehr aufhörte, ging mir ein Licht auf: Unterwegs auf dem Jahrmarkt der Eitelkeit.
Was tun also? Tut man nichts, stellt man keine Fotos, keine Sprüche und Gedichte, keine Witze, keine autobiographischen Erotik-Offenbarungen, keine anspruchsvollen philosophischen Abhandlungen ein – so löst sich Seniorbook in N i c h ts auf!
Wir, die User, sind also so notwendig wie die Besucher auf einem Jahrmarkt. Die dürfen auch alle Buden besuchen, sich hypnotisieren oder aus der Hand lesen lassen. Sie machen den Jahrmarkt erst zu einem einträglichen Geschäft, sie sind nützlich, wenn auch ein bisschen eitel, frech, arrogant, aufreizend kokett und vulgär.
Der alte Thackeray war einfach ein zu strenger Kritiker. Hätte er gewusst, wie eitel WIR im 21. Jahrhundert sind, hätte er sich sicher für einen barmherzigeren Titel entschieden. :-)
Seniorbook – Leiden und Leidenschaften
Der Begriff „Seniorbook“ ist eine analoge Bildung zu „Facebook“, das einen optischen Aspekt betont – das Gesicht –, eine ebenso simple wie geniale Bezeichnung, denn sie erlaubte jedem Menschen, der ein Gesicht hat, sich dort mit anderen „Gesichtern“ zu treffen.
So wurde Facebook zu einem Riesenerfolg.
Seniorbook setzte bei seiner Gründung vor zwei Jahren auf den Zeitbegriff des ALTERS und damit auf Seriosität.
Die Zielgruppe war nun eingeschränkt, der demografische Wandel versprach aber stetigen Zulauf älterer Menschen, die ihre Lebenserfahrungen untereinander austauschen würden.
***
Als ich vor einem halben Jahr bei Facebook einen Hinweis auf Seniorbook entdeckte, fand ich das Angebot verlockend genug.
Im weltweiten Netz würden einem die Freunde zwar auch wegsterben wie in der Welt der Wirklichkeit, aber sie würden sicher schneller ersetzt werden können. Niemals zuvor war Kommunikation so einfach wie in unserer Zeit.
Noch vor einer Generation genügte oft ein kleiner Berg, um Nachbarn voneinander zu trennen.
Heute ist die ganze Welt durchlässig geworden, Barrieren gibt es nur noch im geistigen und seelischen Bereich, aber darüber lässt sich eben diskutieren.
Auch das zweite Wort des Kompositums Senior-book klingt seriös, fast ein wenig altmodisch, obwohl das e-book immer noch behauptet, ein Buch zu sein.
Auf so viel Seriosität kann man sich einlassen. Der Zugang verpflichtet zu nichts, er kostet nichts, er verspricht nichts. Er bietet stattdessen Rollenspiele an: den Witzbold am SCHWARZEN BRETT, den Voyeur, den Stalker, den Kontakte-Sammler, den Berichterstatter, den Poeten, den Märchenerzähler, den Exhibitionisten, den Philosophen, den Astrologen …
Ein Buch ist geduldig, es öffnet seine Seiten für alles, für einen ungelenken Vers oder ein romantisches Lied. Virtuosen des Wortes haben ihre Fans, die auf den Knien ihre Huldigung in Form von „Lesenswert“ darbringen. :-)
***
Stellen wir uns vor, dieser Beobachter von Seniorbook sitzt, metaphorisch gesprochen, an einem Meer, dessen glatte Oberfläche im Licht der Sonne flimmert.
Hält man sich längere Zeit an diesem Meer auf, so spürt man, wie aus der blaugrünen Tiefe plötzlich Fangarme nach oben greifen, Schlingpflanzen sich plötzlich besitzergreifend emporrecken. Gerade kann man noch seinen Fuß in Sicherheit bringen.
Und man spürt plötzlich eine Art Sog, der einen erfasst, als gäbe es da im Meer von SB eine verborgene Strömung, vielleicht eine Nixe, die auf diesen einzigen Moment gelauert hat, den Fischer herabzuziehen. Auch ein unheimlicher Bewohner des Meeresbodens möchte eine Gefährtin in die Dunkelheit der Tiefe herablocken.
Leidenschaften, die wie Wellen heranrollen, Schaumkronen, Gischt und der Geruch nach Tang und Fischen.
Da werden Kuss-Smileys großzügig in alle Windrichtungen geworfen, alle Teile des menschlichen Körpers, die der Erotik zu Diensten sind, werden detailliert begutachtet, verglichen, gewogen, gemessen und angepriesen. Wer bietet mehr? Spieglein, Spieglein an der Wand, wer ist … und so weiter.
Ob ein Montagmorgen-Quickie oder ein Freitagabend-Slowly, oder Abschiedsküsse unter dem Regenschirm und einem weinenden Himmel, Schluchzen am Telefon nach der dritten Trennung – alles wird der Welt im 21. Jahrhundert mit geradezu exhibitionistischer Offenheit erzählt, berichtet, gemalt!
***
Doch da lauern noch andere Ungeheuer in den Seelen der Diskutanten, die oft zu Kontrahenten werden, die ihre Position mit messerscharfer verbaler Munition verteidigen. Urinstinkte werden wach, Reviere werden abgesteckt, umzäunt, mit Riegeln und Schlössern verbarrikadiert: „Das Überschreiten der Grenzen für Christen verboten, für alle anderen irrationalen Spinner ebenfalls.“
Der