Wagners Welttheater. Bernd Buchner

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Название Wagners Welttheater
Автор произведения Bernd Buchner
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783534729951



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und Elend dieser oberfränkischen Mittelstadt.“9 Eine Besonderheit des Phänomens Bayreuth liegt mithin darin, dass eine ganze Stadt von einer herausragenden Kulturinstitution absorbiert worden ist. So hat die internationale Bedeutung der Festspiele zur Folge, dass der eher abgelegene Ort in diesem Zusammenhang gar nicht mehr als peripher wahrgenommen wird. Als ein deutscher Kulturjournalist jüngst eine Reise durch die vielfältige Opernprovinz der Bundesrepublik unternahm, erwähnt er in seinem Buch zwar permanent Wagner und die Wagnerstadt, doch einen Besuch in Bayreuth selbst spart er glatt aus.10 Der Ort zählt für ihn nicht mehr zur Provinz. Der Komponist ist daran nicht ganz unbeteiligt, denn schließlich war er es, der Bayreuth zum Schauplatz seines Welttheaters11 gemacht hat. Die Vorstellung eines Theatrum mundi, in dem die Menschen ihre Rollen vor Gott zu spielen haben, als Marionette oder in freier Selbstbestimmung, war schon in der Antike und im frühen Christentum verbreitet. Pedro Calderón de la Barca (1600–1681) hat sie 1675 in El gran teatro del mundo (Das große Welttheater) wieder aufgegriffen und popularisiert. Wie zahlreiche Erwähnungen in Wagners Schriften zeigen, schätzte er den berühmten spanischen Barockschriftsteller und dessen Autos sacramentatles sehr. In seiner Dresdner Bibliothek hatte er selbstverständlich auch eine achtbändige Ausgabe von Calderóns Werken – auch wenn der Spanier im 19. Jahrhundert als Inbegriff der katholischen Dichtung galt, was dem protestantischen Agnostiker und notorischen Jesuitenhasser Wagner suspekt erscheinen musste.12

      Der Komponist deutete Welttheater ohnehin anders. Er ersetzte dessen ursprünglich religiösen Grundgedanken durch Kunstpolitik und politische Kunst. Bayreuth – das unterscheidet den Ort am Roten Main auch von Hofmannsthals „Großem Salzburger Welttheater“ von 1922 – war Wagners Form von Weltpolitik. Seine Idee war: Kunst ist die eigentliche Politik und Religion, und Musik ist die höchste Form der Kunst. Ich errichte ein Theater, und das, was dort aufgeführt wird, soll der Welt nicht nur erklären, was sie ist, sondern sogar die Welt selbst sein. Meine Kunst tritt als zentrales Medium einer neuen Gesellschaft an die Stelle der Politik.13 So wurde der Komponist zum „Paradigma welterobernden Künstlertums“ (Thomas Mann)14. Die Vorstellungen Wagners entsprangen der politischen Romantik des 19. Jahrhunderts und weisen zurück auf den Idealisten und Anarchisten, der in der freiheitlich-nationalen Revolution von 1848/49 auf den Dresdner Barrikaden stand und alle gesellschaftlichen und politischen Institutionen scharf ablehnte.15 Den Gedanken, Kunst könne Politik ersetzen, wird man indes damals wie heute schlichtweg als irrational bezeichnen. Ohnehin hat sich der Komponist selbst über die Wechselwirkungen von Kultur und Politik zeitlebens widersprüchlich geäußert. Wie in vielen anderen Dingen hatte er auch hier keine klare Philosophie, sondern passte sich den jeweiligen Umständen und Erfordernissen an. In der Mitteilung an meine Freunde von 1851 etwa klassifizierte er die Menschen in unkünstlerisch-politische und künstlerisch-unpolitische Typen.16 Später schrieb er hingegen in Deutsche Kunst und Deutsche Politik über das „nicht uninteressante Problem des Verhältnisses der Kunst zur Politik im allgemeinen, der deutschen Kunstbestrebungen zu dem Streben der Deutschen nach einer höheren politischen Bedeutung im besonderen“.17 Im Denken und Schaffen Wagners lassen sich ästhetische und politisch-gesellschaftliche Momente nicht trennen. Der Komponist hat Kunst und Gesellschaftstheorie stets zusammengedacht und ihre Verflechtungen intensiv wie kein anderer reflektiert.18 Absicht und Wirkung von Wagners Bayreuther Welttheater sind deshalb weit über die Oper hinaus auch als ein politisches Phänomen zu verstehen – zumal der Künstler selbst eine beträchtliche politische Wirkungsgeschichte hat, zu der auch die Festspiele gehören.

      Kultur und Politik

      Das Verhältnis von Kultur und Politik, mithin von Geist und Macht, gilt in Deutschland aus historischen Gründen als brisant. Kulturelle Ausdrucksformen verstanden sich seit dem romantisch-biedermeierlichen Rückzug des 19. Jahrhunderts gerne als unpolitisch, zumal im staatlich zersplitterten Deutschland das Konzept der Kulturnation eine wesentlich größere Bedeutung erlangte als die französisch konnotierte Staatsnation. Im Zeitalter der Industrialisierung mit ihren massiven sozialen und gesellschaftlichen Umwälzungen waren die Künste Ausdrucksmittel von Verunsicherung und Antimodernismus bis hin zur schlichten Verneinung der Gegenwart.19 Politik wiederum wurde oft in demonstrativer Kunstferne betrieben wie im Kaiserreich von 1871 und konnte im Zeitalter des Nationalsozialismus in kulturlose Barbarei münden. Doch strebt Kunst in ihrer Funktion, gesellschaftliche Entwicklungen abzubilden, sie kritisch zu begleiten und zu transzendieren, von vornherein nach Öffentlichkeit und damit in den politischen Raum. Die Politik ist umgekehrt zur eigenen gesellschaftlichen Legitimierung und Rückversicherung auf ein Mindestmaß ästhetischer Grundierung, auf stabile Beziehungen zur Kulturwelt und die Herausbildung einer politischen Kultur angewiesen. Zugleich steuert sie durch die Vergabe öffentlicher Gelder wichtige Teile des Kunstbetriebs. Eine kulturfreie Herrschaft gibt es deswegen ebenso wenig wie eine unpolitische Kunst. Das galt schon in der Antike. Wenn Sokrates vor übertriebenen kulturellen Neuerungen warnt, begründet er dies mit der Sorge um das staatliche Gleichgewicht: „Denn eine neue Art Musik einzuführen muss man sich hüten, da hierbei das Ganze auf dem Spiele steht. Werden doch nirgends die Tonweisen verändert ohne Mitleidenschaf der wichtigsten staatlichen Gesetze“.20 Unter umgekehrten Vorzeichen hat Friedrich Nietzsche diesen Gedanken in seiner Schrift Richard Wagner in Bayreuth aufgegrifen, mit der er die ersten Festspiele von 1876 kulturphilosophisch untermauern wollte: „Es gibt Menschen, welche diesen Zuruf verstehen, und es werden ihrer immer mehr; diese begreifen es auch zum ersten Male wieder, was es heißen will, den Staat auf Musik zu gründen“.21

      Einen ganzen Staat auf Musik zu gründen, scheint eine ähnlich abwegige Idee zu sein, wie Kunst an die Stelle von Politik setzen zu wollen. Gleichwohl ist die Bedeutung der Tonkunst in den nationalen Bewegungen des 19. Jahrhunderts kaum hoch genug einzuschätzen. Nicht umsonst lässt Thomas Mann im Zauberberg den italienischen Humanisten Settembrini eine „politische Abneigung gegen Musik“ hegen.22 In der Musikgeschichte gibt es zahlreiche Fälle enger politisch-gesellschaftlicher Verflechtungen. Vor allem das Medium der Oper ereignet sich niemals im „luftleeren Raum“ (Hans-Klaus Jungheinrich)23. So wurde die belgische Revolution von 1830 durch eine Oper ausgelöst, Daniel Aubers Die Stumme von Portici. Dvořák und Smetana setzten den böhmischen Freiheitswillen in Töne, Mussorgski und Tschaikowski grundierten mit ihren Werken das Nationalgefühl in Russland, die Auseinandersetzung über das symphonische Schaffen von Schostakowitsch ist geradezu ein Abbild der Frühgeschichte der Sowjetunion. Auch die italienische Einigungsbewegung wäre ohne die Symbolfigur Verdi mit Sicherheit anders verlaufen. Den Schauplatz seiner 1859 uraufgeführten Oper Ein Maskenball musste der Komponist nach Boston verlegen, weil die neapolitanische Zensur auf der Bühne keinen Königsmord sehen wollte, selbst wenn es sich um einen schwedischen Herrscher handelte, dessen Tod Jahrzehnte zurücklag. George G. Windell meint sogar, in der Aida sei „far more nationalism and blatant militarism“ als in jeder Wagneroper.24 Und noch in den Kriegs- und Nachkriegsgesellschaften des 20. Jahrhunderts konnte Musik geradezu „hegemoniale Strukturen“ herausbilden.25

      „Keine Musik ist unpolitisch“, stellt Eckhard John deshalb prägnant fest. Jede Musik könne nach Gehalt oder Funktion politisch sein, wenn dies auch nicht grundsätzlich und zu jeder Zeit der Fall sein müsse.26 Doch für das Deutschland des 19. und frühen 20. Jahrhunderts trifft dies sicherlich zu. Die politikferne Kulturnation stilisierte die Musik angesichts der Weltgeltung von Tonschöpfern wie Bach, Mozart oder Beethoven zur herausragenden und repräsentativen deutschen Kunstform – und führte damit die romantische Auffassung von der Musik als zeitloser, autonomer und selbstbezogener Kunst ad absurdum. Lange vor dem Auftreten des „Führers“, schrieb Joachim Schumacher 1940 provokant, gab es den „Konzertführer“ mit einem „Arsenal national geharnischter Phrasen“, der den Gedanken von der Weltgeltung der Musik „nie aussprechen konnte, ohne gleichzeitig an die Reichweite Kruppscher Kanonen zu denken“.27 Schon in der Weimarer Republik brandmarkten reaktionäre Kräfte die neuen Musiktendenzen pauschal als jüdisch-bolschewistisch und zogen sie in den politischen Tageskampf hinein. Sie zeichneten das Zerrbild von den linksradikalen Revolutionären, die die Musik „zum Zwecke politischer Agitation und zum Schaden der Kunst“ missbrauchten.28

      Doch die Politisierung der Musik beginnt in Deutschland keineswegs erst nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, sondern spätestens mit Richard Wagner.29 Bei keinem anderen Komponisten