Ein Leben mit Freunden. Cornelia Weidner

Читать онлайн.
Название Ein Leben mit Freunden
Автор произведения Cornelia Weidner
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783866749061



Скачать книгу

Autobiographie und damit unschätzbare Dokumente und Informationsquellen für die vorliegende Arbeit.

      Morgenstern war kein passionierter Tagebuchschreiber. Nach Überwindung jener Lebenskrise, die ihn zum Tagebuchschreiben brachte, stellte er es offensichtlich sofort wieder ein. In den fünf Jahren der Krise, von 1945 bis 1950, entstanden insgesamt fünfzehn Hefte, von denen allerdings nur drei erhalten sind: zwei ›Amerikanische Tagebücher‹ aus den Jahren 1949/50 und ein ›Pariser Tagebuch‹ aus dem Jahr 1950, das Morgenstern auf seiner ersten Europareise nach dem Krieg führte. Die übrigen zwölf Hefte sind vermutlich verlorengegangen. Dennoch enthalten auch diese wenigen Hefte wichtige Hinweise, die auf den Entstehungsprozeß von Morgensterns ›autobiographischen Schriften‹ schließen lassen, vor allem auf den der beiden Bände über Alban Berg und Joseph Roth.

      Hinter dem vom Herausgeber der Edition eingeführten Begriff der ›Briefberichte‹ verbirgt sich eine Reihe von Briefen, in denen Morgenstern ähnlich wie in Alban Berg und seine Idole und Joseph Roths Flucht und Ende Auskunft über weitere prominente Zeitgenossen und Freunde gibt. Es handelt sich hier nicht um Briefe aus der privaten Korrespondenz Morgensterns – die Adressaten kannte er zum Teil gar nicht persönlich –, sondern um Personenporträts, die er auf die besondere Bitte der Adressaten hin verfaßte. Bei den in den Briefen porträtierten Persönlichkeiten der literarischen Prominenz jener Zeit handelt es sich um den deutschen Philosophen Walter Benjamin und die beiden österreichischen Schriftsteller Robert Musil und Ernst Weiß.

      Ein Konvolut von dreizehn Briefen, in denen Morgenstern seine Erinnerungen an Walter Benjamin schriftlich festgehalten hat, bildet den umfangreichsten Teil der ›Briefberichte‹. Die Briefe stammen aus den Jahren 1970 bis 1975 und sind an den jüdischen Religionshistoriker Gershom Scholem adressiert, mit dem Morgenstern persönlich bekannt war und mit dem er seit Anfang der sechziger Jahre in regelmäßigem Briefkontakt stand. Scholem hatte sich im Juni 1968 mit der Bitte an Morgenstern gewandt, ihm über seine Zeit mit Walter Benjamin in Marseille zu schreiben. Scholem, der als überzeugter Zionist bereits 1923 nach Palästina ausgewandert war, hatte Benjamin im Jahr 1915 kennengelernt und war bis zu dessen Selbstmord im September 1940 eng mit ihm befreundet gewesen. Er war offensichtlich vor allem an Einzelheiten über Benjamins letzte Jahre im französischen Exil interessiert, insbesondere an den genaueren Umständen seines Selbstmordes. So schreibt er am 30. Januar 1973 an Morgenstern: »Er [Brief Morgensterns] kam gestern an und hat mich tief beeindruckt, vom inhaltlichen großen Interesse Ihrer Mitteilungen ganz zu schweigen. Ich bitte Sie herzlich und inständig, in Ihrer Erzählung an mich fortzufahren. Sie retten dadurch Vieles, was ohne Ihre Mitteilungen verloren ginge. Und natürlich ist alles, was gerade die letzte Zeit Benjamins angeht, also Paris 38–40, von besonderem Gewicht.«91

      Morgenstern hatte Walter Benjamin Mitte der zwanziger Jahre in Wien durch Theodor Wiesengrund-Adorno kennengelernt. Ihre Wege kreuzten sich Ende der dreißiger Jahre wieder, als beide Emigranten in Paris waren. Dort hatte Morgenstern sich, wie er am 21. Dezember 1972 an Gershom Scholem schreibt, mit Benjamin angefreundet.92 Diese Freundschaft wurde noch vertieft, als sich die beiden nach Morgensterns Flucht aus dem Internierungslager in Marseille wiederbegegneten. Die Freundschaft war freilich nur von kurzer Dauer. Nur zwei Monate nach Morgensterns Ankunft in Marseille Ende Juli 1940 beging Benjamin Selbstmord.

      Der zweite Komplex der ›Briefberichte‹ befaßt sich mit Morgensterns Erinnerungen an Robert Musil. Die fünf Briefe aus den Jahren 1973/74 entstanden auf Bitten des deutschen Journalisten und Schriftstellers Karl Corino, der zahlreiche Werke über Robert Musil veröffentlicht hat und sich Anfang der siebziger Jahre im Zuge der Recherchen für seine Studien zu Robert Musils Vereinigungen an Morgenstern gewandt haben dürfte.93

      Wie eng diese ›Briefberichte‹ mit den Erinnerungsbänden an Alban Berg und Joseph Roth zusammenhängen, zeigt der erste und zugleich längste der fünf Briefe an Karl Corino.94 Morgenstern schildert hier, wie er Robert Musil im Jahr 1922 beim Nachmittagstee im Hause des ungarischen Schriftstellers Béla Balázs persönlich kennengelernt hat. Morgenstern und Musil kannten sich zu diesem Zeitpunkt bereits etwa zweieinhalb Jahre vom Sehen, da beide häufig im Café Herrenhof verkehrten. An jenem Nachmittag bei Bela Balázs begegnete Morgenstern nicht nur Robert Musil zum ersten Mal persönlich, sondern auch dem ungarischen Literaturkritiker Georg Lukács. Zu viert debattierten sie stundenlang über Literatur. Morgenstern schildert diese Debatte nicht nur in besagtem Brief vom November 1973 sondern auch in den Erinnerungen an Alban Berg. Dort erscheint diese Episode in verkürzter und modifizierter Form im Kapitel ›Kaffeeklatsch unter Nachbarn‹.95

      Das letzte Exemplar im Komplex der ›Briefberichte‹ ist einem Brief entnommen, den Morgenstern im April 1975 an den Ernst-Weiß-Forscher Peter Engel geschrieben hat. Engel hatte sich zuvor seinerseits mit einer brieflichen Anfrage an Morgenstern gewandt. Morgenstern gibt hier Auskunft über sein Verhältnis zu Ernst Weiß, den er, wie er schreibt, durch Stefan Zweig in Wien kennengelernt hatte und dem er erst im Pariser Exil wiederbegegnet war. Morgensterns Beziehung zu Ernst Weiß war zunächst noch recht reserviert, da Weiß anfänglich Vorbehalte gegenüber Morgensterns Sympathie für Kafka hegte. Weiß hatte offensichtlich schlechte Erfahrungen im Umgang mit Franz Kafka gemacht und nahm Morgenstern dessen unbedingtes Eintreten für Kafka und dessen Werk übel. Nachdem dieses Mißverhältnis aus dem Weg geräumt war, sahen sich Weiß und Morgenstern bis zu dessen Internierung im Mai 1940 fast täglich im Hôtel de la Poste. Morgensterns Brief wurde 1975 in den ›Weiß-Blättern‹, deren Herausgeber Peter Engel zu jener Zeit war, unter dem Titel Erinnerungen an Ernst Weiß veröffentlicht. Darüber hinaus fand er in den von Peter Engel herausgegebenen Essay-Band über Ernst Weiß Eingang.96

      Diese insgesamt neunzehn Briefe fügen sich nahtlos in den Komplex der Erinnerungsbände ein und sind wie diese stark autobiographischen Charakters. Sie vervollständigen und ergänzen aber nicht nur die Schilderungen der Bände über Alban Berg und Joseph Roth, sondern bestätigen auch die Richtigkeit der vorgenommenen Zuordnung des Romanberichts Flucht in Frankreich zum Komplex der ›autobiographischen Schriften‹. Vor allem aus den ›Briefberichten‹ über die Zeit mit Walter Benjamin in Marseille erfährt der Leser wertvolle Details über Morgensterns Zeit in französischer Internierungshaft sowie Einzelheiten über seine Flucht aus dem Lager von Audièrne, die eine wichtige Ergänzung zum Romanbericht Flucht in Frankreich darstellen. Nach der erfolgreichen Flucht aus dem Lager von Audièrne begegnete er Walter Benjamin in Marseille ›auf der Straße‹, wie er in oben zitiertem Brief an Gershom Scholem schreibt.97 Bis zu dessen Selbstmord im September 1940 traf Morgenstern regelmäßig mit Benjamin zusammen. Neben Gesprächen, die Morgenstern und Benjamin über ihre aktuelle Lage als Flüchtlinge in Marseille führten, erzählte Morgenstern dem Freund häufig Anekdoten über das Leben im Internierungslager. In den Mitlagerinsassen, die Morgenstern Benjamin gegenüber erwähnt, sind eindeutig Figuren aus seinem Romanbericht Flucht in Frankreich zu erkennen. Daneben läßt Morgenstern in die Berichte immer wieder auch Begebenheiten aus der Vorkriegszeit einfließen – aus den Jahren des Pariser Exils wie auch aus seiner Wiener Zeit. Diese Episoden wiederum komplettieren die in den Erinnerungen an Alban Berg und Joseph Roth versammelten Anekdoten und Darstellungen.

      Zum Abschluß dieses einleitenden Kapitels, das den Leser mit Morgensterns Leben und Werk bekannt machen sollte, sei der Vollständigkeit halber noch die bereits existierende Forschungsliteratur vorgestellt, wenn diese auch bislang noch nicht sehr umfangreich ist. Alfred Hoelzels im Sammelband Deutschsprachige Exilliteratur seit 1933 veröffentlichter Artikel über Morgenstern ist in diesem Zusammenhang bereits erwähnt worden. Daneben entstanden Ende der neunziger Jahre an der Universität Wien die ersten wissenschaftlichen Arbeiten über Soma Morgenstern und dessen Werk als Reaktion auf die seit 1994 erscheinende Morgenstern-Werkausgabe. Irmgard Anglmayers Diplomarbeit aus dem Jahr 1997 trägt den Titel Soma Morgenstern im Exil. Sie versteht sich als »erste umfangreiche literatur- und sozialgeschichtliche Darstellung der Exiljahre Soma Morgensterns zwischen 1938 und 1976.«98 In diesem Zusammenhang geht es der Autorin in erster Linie darum, »produktionsästhetisch relevante Faktoren in Morgensterns Schaffen aufzuzeigen und seine Rezeptions- und Wirkungsmöglichkeiten zu analysieren.«99 Eine inhaltliche Werkanalyse tritt hier zugunsten des sozialgeschichtlichen Aspektes in den