Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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      »Tina, ist noch ein Kaffee da?«

      »Wie immer.«

      »Tina, trinkst du einen mit?«

      »Hab zu tun. Danke.«

      »Und nachher, Tina? Machen wir am Mittag eine Pause?«

      »Bin schon verabredet.«

      Schon verabredet?

      »Hast du Lust auf heute Abend?«

      »Hast du heute nicht deinen Stammtisch?«

      Hatte er, stimmte schon. Hatte sie aber nicht kapiert, dass sie etwas Besonderes war, dass er für sie einiges ändern würde im Leben? Konnte sie, wenn sie so aussah, überhaupt nicht kapieren, dass sie etwas Besonderes war? Hätten alle Frauen auf einmal von der Erde verschwinden müssen und er hätte nur eine einzige retten dürfen von allen Frauen, er hätte Tina genommen. So war das, an diesem Morgen.

      »Dann halt ein anderes Mal.«

      »Vielleicht.«

      »Versprochen.«

      Sie widersprach nicht.

      Das Telefon klingelte.

      Trimalchio war dran. Was wollte er?

      Ein Mord war geschehen.

      *

      Der Tag war schnell vergangen, sein erster mit Zeitung, sein dritter im Geschäft. Das mit der Zeitung hatte ihn glücklich gemacht. Er hatte seinen Wecker früh gestellt und war doch ausgeschlafen, weil er rechtzeitig die Lampe gelöscht hatte am Abend zuvor. Kein Messer fiel ihm aus der Hand, kein Nutella verschmierte ihm die Finger, kein Kaffee tropfte ihm aufs Blatt. Er war zum Zeitungskasten gegangen und hatte sie sich herausgeholt, als ob das die normalste Sache der Welt wäre, die Millionen von Deutschen jeden Morgen verrichteten, ohne irgendetwas dabei zu verspüren. Wie Zähneputzen zum Beispiel.

      Es gibt Tage, da möchte man an sich verzweifeln oder an der Welt oder an seinem Verhältnis zur Welt, wenn man grundsätzlich dazu in der Lage ist. Da schlägt man seine Zeitung auf und nichts, was da drin steht, nichts, was irgendwo anders passiert ist, interessiert einen einen Dreck. Birne hielt sich beim Leben nicht viel mit Philosophieren auf, ursprünglich zu einer Zeit, die er als seine Jugend bezeichnete, schon ziemlich oder was heißt ziemlich, dass es halt noch normal war. Nach und nach war ihm das Zeug aber lästig geworden oder albern vorgekommen – er hatte es weggeschmissen. Einer der wenigen Sätze, die ihm geblieben waren, die ihm hin und wieder noch ein Ziehen in der Seele verursachten, war einer des Griechen Aristoteles: »Wegen des Staunens haben die Menschen angefangen zu philosophieren.« Birne sah in dem Satz eine Aufforderung, sich für alles interessieren zu müssen, nicht weil er Philosoph werden wollte – der Zug war abgefahren –

      nein, weil der, der nicht staunt, ein Nicht-Philosoph ist und früher oder später zum Depp wird. Ein Depp wollte Birne nicht sein, das wollte keiner sein. Keiner hält sich selbst für bescheuert. Man merkt aber auch nicht, wenn man bescheuert wird. Jedem kann es passieren, schon lange vor Alzheimer und dann – Scheiße – zeigen die Jungen mit Fingern auf einen im Bus und man meint, es liege am neuen Hut oder einem Zahnpastarest im Mundwinkel, dabei wird man für einen Depp angesehen und ist zufrieden mit einer Zahnpastaerklärung, wo man doch am gescheitesten sofort anfinge, an sich zu arbeiten, dass der Depp rausgeht aus einem.

      Andrerseits hat kein Mensch die Zeit, sich für alles zu interessieren, außer vielleicht beim Warten auf den Bus, wenn er lange nicht kommt und die Langeweile Gestalt annimmt und die Werbung ohne schöne Frau auf dem Plakat auskommt. Eine Zeitung komplett durchzulesen, entzöge einen dem Alltag, dann existierte man nur noch zwischen Papier und Druckerschwärze, was an sich nicht die schlechteste aller Daseinsformen wäre, man müsste sich nur trauen.

      Birne blätterte durch diese erste Zeitung in der neuen Stadt – es war da draußen außerhalb seines kleinen Kosmos nichts, absolut nichts von Belang passiert. Birne freute sich trotzdem an jeder Kleinigkeit, er roch an jedem Artikel, bevor er ihn las. Er führte ordentlich und ausgiebig ab, er genoss dabei dermaßen seine Lektüre, dass er vom Geruch der eigenen Exkremente beinahe nichts mitbekam. Er las folgende völlig unspektakuläre Geschichte:

      Noch vor 20 Jahren, in den 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts, beherrschte ein Thema unsere Medien wie heute die Klimaerwärmung: Deutschland und die gesamte westliche Zivilisation war drauf und dran, im Müll zu ersticken, die Müllberge wuchsen ins Unermessliche und drohten umzukippen und ganze Landstriche unter sich zu begraben. Man schalt die Medien, dass sie aus Mücken Elefanten machten, jede Kleinigkeit ausschlachten, bis der letzte Leser übersättigt abwinkt, doch in dem Fall hat es was genutzt: Die Menschen haben umgedacht, sie haben begonnen, Müll einzusparen, sie recyceln – dieses Wort wurde damals geboren – und sie trennen ihren Abfall, was eine Menge ausmacht. Immerhin müssen wir über Müll schon lange nicht mehr reden, wir haben den Kopf frei fürs Klima, wir können anderes anpacken.

      Doch das ist zu schön gedacht. Leider. Immer mehr macht sich der Schlendrian breit. Müllmänner aus der ganzen Republik klagen über verschmierte Joghurtbecher­deckel im Papiermüll, Essensreste, ja und sogar echte Tierleichen im Gelben Sack. »Wenn wir so weiter machen, fallen wir zurück in die Steinzeit der 60er- und 70er-Jahre«, sagt ein Sprecher der Stadtwerke München. Die Bundesregierung will jetzt handeln. Müllsünder sollen ab heute stärker bestraft und vor allem strenger kontrolliert werden. Die Mülldetektive sind unterwegs und sie verhängen saftige Ordnungsgelder, damit uns in Zukunft nicht die Vergangenheit einholt.

      Birne schüttelte seinen Kopf und spülte.

      Sein erster Akt im Büro war der Gang mit der Schokolade zum Chef. Der hatte kaum aufgeblickt, einen dunkelblauen Anzug angehabt, »Guten Morgen« und »Das ist nett, stellen Sie es dorthin« gesagt und nicht mehr gesprochen vom Vorfall.

      Birne war heute fleißig und eifrig, wollte ihnen zeigen, dass das gestern eine Ausnahme war und am Bier von vorgestern gelegen hatte. Heute zeigte er es ihnen richtig.

      Erst gegen 11 Uhr wurde er ein bisschen müde und wäre eingenickt, wenn er sich nicht zerstreut hätte. Er besuchte eine Video-Seite im Internet, schaute sich eine Heavy-Metal-Band an, die ihm in der Früh im Feuille­ton seiner Zeitung anlässlich ihrer neuen Platte empfohlen worden war und stolperte dabei auf ein paar Jungs, die sich selbst mit dem Handy gefilmt hatten, wie sie sich Zigaretten auf dem Arm ausdrücken zur Musik eben jener Band. Das sah ziemlich brutal aus. Birne zwang sich hinzuschauen. Denen war es gelungen, ohne viel Aufwand einen Ekel in Birne zu erzeugen. Im Prinzip war er gegen so was, irgendwie reizte es ihn aber auch, weil es ihn immer reizte, wenn jemand in der Lage war, etwas in ihm auszulösen. Von den Machern dieses Videos gab es noch andere, auf denen zum Beispiel zu sehen war, wie sie sich aus zwei Metern Höhe in eine Hecke stürzten und auch gegenseitig warfen. Dann Nahaufnahmen der Kratzwunden, ganz nah dran und wirklich böse. Die stellten Jackass nach, jene MTV-Sendung, in der sich professionelle Stuntmen die übelsten Sachen antaten. Gut inszeniert, fand Birne, so gut, dass die Deppen hier meinten, es sei echt und sich wirklich Schmerzen zufügten. Birne schnaufte einmal vor seinem nächsten Gedanken und schaute sich dann den Clip noch mal an, sehr genau: Was wäre, wenn das auch nur inszeniert war? Dann hätten sie ihn ebenfalls erwischt. Er hatte das geglaubt. Man konnte es nicht erkennen. Es sah echt aus. Es war ein pixliger Video-Clip. Birne fand es schlimm beim Anschauen, aber nur unter der Bedingung, dass es echt war. Aber ob es echt war, konnte er nicht wissen. Die Zeit hier vor dem Computer verging. Zeit, die vor dem Computer vergeht, ist eigenartig verlorene Zeit, diese Zeit verloren die Menschen vor 1000 Jahren nicht. Die starben zwar im Schnitt früher, hatten aber im Vergleich mehr erlebt.

      »Was ist? Korbinian?«, fragte Werner kurz nach 12.

      »Gerne«, antwortete Birne. »Muss nur noch das fertig machen.«

      »Alles klar, kommst dann halt rüber«, sagte der Kollege, der ihn abends mit auf die Jagd nehmen würde.

      Tim war in München, die Praktikantin dabei, Sigrid still an ihrem Platz an diesem Tag. Der Chef wollte nicht mit zum Essen, hatte wohl ein bisschen Respekt vor Birne bekommen. Hihi.

      Um 16.30 Uhr