Tatort Alpen. Michael Gerwien

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Название Tatort Alpen
Автор произведения Michael Gerwien
Жанр Триллеры
Серия
Издательство Триллеры
Год выпуска 0
isbn 9783734994869



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wäre geflogen, hätte das neue Leben nach einer Woche abgebrochen, wieder ein neues angefangen, hätte sich kurz gefragt, ob das den Rest jetzt so weiterginge, dass man mehr anfängt als führt. Und so weiter.

      »Das musst du nicht so ernst nehmen«, hatte Werner gesagt, als sie draußen waren.

      »Ist der immer so?«

      »Eigentlich nicht.«

      Werner meinte es ehrlich gut mit ihm. Birne spürte das, Birne war so etwas auch wichtiger als der Job und die Karriere, die konnte er immer noch machen, aber zwischenmenschlich musste es passen, sonst ging einem da oben irgendwann die Luft aus und es würde dich zusammenhauen und runterziehen.

      »Ich hab mir gedacht, ich bring ihm morgen Ferrero Rocher mit und entschuldige mich in aller Form.«

      »Der alte Sekretärinnen-Umwickler. Der Mann versteht was von den Menschen. Gute Idee.«

      Birne hätte gerne gewusst, wie ernst Werner das meinte, hatte sich aber nicht zu fragen getraut. Sie waren nach wenigen Metern getrennte Heimwege gegangen. Birne war gar nicht so schlechter Laune, wie er gedacht hatte. Er hatte sich aus dem Supermarkt ein Weizen mitgenommen und, nachdem das weg war, beschlossen, es mit dem Studio zu versuchen.

      Birne hatte gedacht: Nichts. So billig bin ich nimmer, mach nicht mehr, was am nächsten liegt, den Tag vollends versaufen, sondern erst, was das dritte oder vierte ist, wo­rauf einer jetzt gekommen wäre. Er hatte seinen Geldbeutel gepackt und war los zum Studio, hatte den Preis für ein Vierteljahr hingelegt, gerade um sich für die Schweinerei auf dem Anzug des Chefs zu strafen: Wenn die nämlich Konsequenzen hätte, wären die Euro fürs Studio auch für den Arsch. Innerlich hatte Birne also schon gebüßt. Wusste der Chef natürlich nicht, mit dem Selbstbewusstsein konnte ihm Birne aber morgen begegnen. Mit dem Selbstbewusstsein und vor allem ohne Alkohol im Geruch. Birne lachte über die doppelte Fliege.

      Er hatte ein Handtuch und einen Haustrainings­anzug mitgenommen, den er gern anzog, wenn er in den Fernseher schaute – wenn er in den Fernseher schaute. Der Anzug stank noch nicht, obwohl er ihn zwei Jahre sicher nicht gewaschen hatte. Er roch schon, er stank halt nicht.

      Birne war allein da. Birne wollte eine tolle Frau kennenlernen. Zunächst nur reden, sich höchstens später und im Idealfall bei einem Ausgehen in eine Freundin von ihr verlieben.

      Die wiesen ein, sagten ihm, wie er anfangen sollte, wenn er noch nie da war, und wie er sich dann steigern sollte. Sie maßen ihm den Blutdruck.

      Die anderen, die noch da waren und nicht so verloren schauten, die waren auch einmal zum ersten Mal da gewesen, die wussten doch, was die einem sagten, der zum ersten Mal da war, wie er anfangen sollte und wie er sich steigern könnte. Für sich sah Birne wie einer aus, der zum ersten Mal da war, tausend Meter gegen den Wind, ohne dass sein Anzug stank. Birne gab die Hoffnung auf, hier gleich eine tolle Frau kennenzulernen, hier war kein Ort, an dem Verlierer eine Chance bekamen. Zum Verlieren ging man woanders hin.

      Da drüben lachte eine zu ihm herüber, sie musste ihn auslachen, er passte nicht hierher. Nebenan der Mann, den konnte sie auch meinen, auch wenn das unwahrscheinlich war und sie dazu ein bisschen hätte schielen müssen, was er auch nicht glaubte, dass hier eine war, die schielte. Nebenan der Mann, der steckte in einem blau-metallic-glänzenden Body und hatte seine schwarzen Locken im Zaum mit einem weißen Stirnband. Und einen Schnauzbart – Birne hasste ja Schnauzbärte und Frauen, die sich von Schnauzbärten angezogen fühlten. Der Mann wäre zu dick gewesen, wenn er nicht trainiert hätte. Aber das tat er ja, der Schnauzbart-Mann, trainieren, dass es krachte, und Birne bekam einen Hassanfall, dass er gar nicht wusste, woher auf einmal, und hätte aufhören müssen oder seine Energie bündeln und sich gleich beim ersten Mal richtig steigern. Der Hass kam, und Birne konnte ihn nicht erklären dadurch, dass die Frau den Mann neben ihm auch hätte meinen können mit ihrem Grinsen.

      Birne warf ihr einen freundlichen Blick zu, und sie schaute ihn schon längst nicht mehr an, sondern schwitzte und sah ihrem Schweiß zu, wie er ihr zwischen die Brüste rann. Birne mochte das Wort drall und freute sich, endlich wieder eine Frau zu sehen, die er wem auch immer mit diesem schönen Wort hätte beschreiben können. Er starrte sie an und stellte sich eine Freundin von ihr vor. Er nahm sich vor, den Rhythmus herauszufinden, in dem sie herkam. Hatte sie einen Tag in der Woche, der reserviert war für den Sport oder richtete sie sich nach dem Mondkalender? Der Schweiß rann ihr nicht nur in den Ausschnitt, sondern klebte einen Teil ihrer blonden Locken auch an ihre Stirn, die über den großen und trotz der Anstrengung nachgeschminkten Augen thronte. Sie hatte ein kräftiges, aber noch kein maskulines Gesicht. Birne war gespannt auf ihre Freundin, vergaß beinahe, es beim ersten Mal nicht zu übertreiben, aber die Maschine erzeugte in ihm keine Schmerzen, noch nicht einmal eine Anstrengung. Sie schaute noch einmal zu ihm – eindeutig zu ihm – herüber, und sie schaute noch einmal eindeutig zu dem Schnauzbart herüber: Der Wettkampf war ausgebrochen. Birne fühlte sich mächtig, der Kaffeefleck des Nachmittags war ihm an diesem Abend nicht anzusehen. Heute war Leibesertüchtigung. Sie machten alles richtig, alle drei. Die besten zwei von ihnen würden den Tag als Könige beschließen.

      Birne war am späten Nachmittag heimgekommen, hatte schon gar nicht mehr mit einer Zeitung gerechnet und auch keine bekommen. Sie war ihm am zweiten Tag in Folge gestohlen worden. Das passte, Birne hatte nicht mehr mit einem Geschenk des Schicksals gerechnet und dann, als er sich frisch gemacht hatte nach der Leibesertüchtigung, auf dem Wartetisch neben dem Wartestuhl in seinem Studio eine zusammengefaltete, kaum gelesene Allgäuer Zeitung entdeckt. Er hatte sich gefreut und hingesetzt, war in den Neuigkeiten und Bildern buchstäblich versunken, hätte gar nicht mehr geglaubt, wie schön so etwas sein konnte, und das nach nur zwei Tagen, in denen man bestohlen worden war. Beinahe konnte er den Dieb verstehen. Eine Zeitung ist besser als manches Buch, dachte Birne, manchmal sogar besser als die Bibel. Er hatte sich vollgesaugt mit Druckerschwärze und dem Geruch grauen Papiers. Als er aufblickte, sah er sie noch einmal vorbeigehen, unglaublich elegant in ihrem rosafarbenen T-Shirt, die Locken klebten nicht mehr an ihrer Stirn, sondern wurden mit einem schwarzen Haarband gebändigt. Und das an seinem ersten Tag hier. Er war verliebt.

      Dann folgte auch noch der Schnauzbart, sah aus wie ein alkoholkranker Zuhälter. Birne hatte seinen größten Feind entdeckt und fühlte sich ihm zehn Meter überlegen.

      *

      Bruno Abraham hatte eine Zusage erhalten und zwischen hier und seiner umwerfenden Verabredung noch ein bisschen Zeit. Die würde er nutzen, dachte er sich und trat kräftig auf die Straße.

      *

      Birne ging noch einmal in den Supermarkt, kaufte Schokolade, ein Stück Fleisch und eine Halbe Bockbier. Das Fleisch briet er sich noch und trank das Bier, bevor er müde und viel besser gelaunt, als er es sein sollte nach allem, ziemlich früh die Augen schloss und nichts mehr mitbekam.

      Sie war früher gekommen als er und hatte ihn ziemlich ausgebremst, indem sie seine Frage, nachdem sie diesen irren Abend gehabt hatten gestern, mit einem »Ich kann mich nicht erinnern, ich kann mich nie erinnern« abgeschmettert hatte und seinen Übermut auf die Größe einer Zeckenbisswunde hatte schrumpfen lassen.

      Er hatte sie gefragt »Na, hast du auch so heiß geträumt wie ich?«, und saß nun da und dachte an die Arschlöcher, die mit ihrem Müll nicht umzugehen wussten. Sie sollten ihn doch am Arsch lecken und mit ihrem Dreck machen, was sie wollten. Tina von Martina erledigte ihren Job wie immer und das, wo sie gestern so geil essen und hinterher einen trinken waren, dass er schon geglaubt hatte, neue Zeiten brächen an. Bis spät in die Nacht waren sie unterwegs und heute Morgen das. Dieses Verhalten. Ob er sich in ihren Gefühlen für ihn getäuscht hatte? Sie sah so verdammt gut aus und war auf einmal so kalt geworden. Hatte er zu viel geredet, hatte er sich zu toll dargestellt? Was stimmte nicht an ihm? Hatte sie einen Freund und nun ein schlechtes Gewissen?

      Heute würde nichts passieren. Trimalchio würde kommen, sie würden sich ein raffiniertes Raster einfallen lassen, wie sie Leute einteilen und auf Streife schicken könnten, um die, die ihren Müll durcheinander und in eine Tonne warfen, zu erwischen und vor ihren verdienten Richter zu führen. Abraham dachte, dass er manchmal schon nur