Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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Название Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden
Автор произведения Max R. Liebhart
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960180685



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so dringen oft brillant gespielte Kaskaden von Tönen aus den Fenstern. Nach dem Untergang der Republik wurde das Gebäude des größten Teils seiner kostbaren Ausstattung beraubt, abschnittsweise verkauft und auch in Mietwohnungen umgewandelt. Nur noch in den Räumen der Direktion gibt es ein paar verschlissene Reste der alten Wandbespannungen. Daneben existiert noch ein erstaunlich intakter zweistöckiger Ballsaal, der an ein Kapitel in Lampedusas „Il Gattopardo“ denken lässt.

      Links neben dem Palazzo Loredan wendet die Kirche S. Vidal (oder San Vitale) ihre Fassade schräg gegen den campo, wodurch eine besonders eindrucksvolle, kulissenhafte Wirkung entsteht. Die Säulenfront stammt von Andrea Tirali (1700), der sich der Formensprache Palladios bediente und sich stilistisch insbesondere an dessen Kirche S. Giorgio Maggiore anlehnte. Die Kirche selbst wurde im 12. Jahrhundert gegründet und im 18. Jahrhundert von Gaspari neu errichtet. Der campanile stammt dagegen aus dem 13. Jahrhundert. Lange war die Kirche geschlossen, Ausstattung bzw. Gemälde waren verstreut. Jetzt ist sie wieder zugänglich und dient für Ausstellungen und Konzerte. Der schlichte Saalraum, dessen Besuch sich in jedem Falle lohnt, besitzt ein Muldengewölbe, in das vier Thermenfenster eingeschnitten sind. Die Wände sind durch kraftvolle korinthische Halbsäulen gegliedert, zwischen denen Altäre stehen, das Gebälk ist kräftig verkröpft. Über den Altären hängen jetzt wieder einige sehr schöne Gemälde. Erwähnt sei am dritten Altar rechts ein Gemälde Piazzettas, der Erzengel Raphael mit den hll. Antonius von Padua und Ludwig aus dem Jahre 1730. Es ist in den schönen erdigen Tönen gemalt, die Piazzetta besonders liebte. Auf dem Hochaltar steht ein in leuchtenden Farben gehaltenes Gemälde Carpaccios von 1514, Der heilige Vitalis und acht Heilige, gestaltet in streng symmetrischer Komposition und mit fast aufdringlicher Anwendung kompositorischer Gesetze (der sogenannten „Drittelregel“, dies sowohl in horizontaler als auch in vertikaler Richtung). Bei den anderen Gemälden von geringerer Bedeutung mag man an Jakob Burckhardts Wort denken, als er einem Freund schrieb: „… wenn Du wieder in Zürich bist und der Schnee fällt, dann wärest Du froh, wieder vor einem Altarblatt fünfter Ordnung stehen zu können.“

      Rechts gegenüber der Kirchenfassade ragt der neugotische, recht eigenartige Anbau des mächtigen Palazzo Cavalli Franchetti aus einem Garten (Franchetti war auch Besitzer der Ca’ d’Oro und rettete diese vor dem Untergang). Auch dieser Palast befindet sich im Besitz des Istituto Veneto di Scienze Lettere ed Arti und wird seit 2005 für Ausstellungen genützt. Für den Besucher hält das Gebäude einige Überraschungen bereit. Schon das Treppenhaus bereitet einiges Erstaunen, denn es entspricht stilistisch dem neugotischen Anbau – und beinahe könnte man versucht sein, von einem venezianischen Neuschwanstein zu sprechen: Alles ist üppig, bunt, überladen, formal nicht geklärt. Die Räumlichkeiten des alten Teils des Palastes sind weitgehend verändert und größtenteils ebenfalls neugotisch umgestaltet. Sie besitzen kostbare intarsierte Parkettfußböden, die für sich gesehen sehr schön sind, in einem venezianischen Palazzo aber unpassend wirken. Der östlich vom Portego gelegene Raum hat noch einen reich verzierten und vergoldeten Soffitto aus der Renaissance, und in einigen Räumen hängen prächtige Murano-Leuchter. Das Schönste an dem Palast ist zweifelsohne seine wundervolle Fassade, die sehr gut von der Accademia-Brücke aus zu überblicken ist. Die ist mit ein paar Schritten zu erreichen, und von ihrem Scheitel bieten sich herrliche Blicke über den Canal Grande bis zur Salute-Kirche auf der einen, bis zur Ca’ Rezzonico auf der anderen Seite und ebenso über die Dächer des Dorsoduro.

      Von der Mitte des Campo S. Stefano zweigt die Calle del Spezier nach Osten ab und führt in Blickrichtung des Denkmals gemäß der Wegweisung nach S. Marco.

      An der Ecke dieser calle zum campo befand sich früher eine Apotheke. Vor dem jetzigen Geschäft sind im Pflaster des Platzes ringförmige Vertiefungen zu sehen, für die es zunächst keine rechte Erklärung gibt. Der Überlieferung nach rühren sie von großen Mörsern her, die hier im 18. Jahrhundert standen und bei der Zubereitung der bereits erwähnten venezianischen Spezialität dieser Zeit benutzt wurden, der sogenannten Teriaca Fina di Venezia, auch einfach Teriaca genannt.

      Die erste Brücke nach der Calle del Spezier heißt Ponte S. Maurizio, von der aus zu sehen ist, wie der rio die Apsis von S. Stefano unterquert. Die Gasse führt, kurz bevor sie sich zum Campo S. Maurizio öffnet, an der früheren Scuola degli Albanesi vorbei, deren Fassade Reliefs aus dem Jahre 1540 trägt. Der Campo S. Maurizio wird von hohen, strengen, überwiegend gotischen Palastfassaden umstanden. Der Palast an der Ecke stammt aus dem 16. Jahrhundert und trug Fresken Veroneses, die heute verloren sind. Alessandro Manzoni, der Dichter der „Promessi sposi“ wohnte hier 1803–04.

      Auch auf einen Giorgio Baffi, der außerhalb Venedigs wohl weitgehend unbekannt ist und der hier 1694–1768 lebte, verweist eine Inschrift. Sie bezeichnet ihn als „poeta dell’amore, che ha cantato con la massima libertà e con grandiosità di linguaccio – Dichter der Liebe, der mit größter Freiheit und der Großartigkeit eines Lästermauls geschrieben hat“. Tatsächlich sind seine überwiegend erotischen Gedichte, die er im venezianischen Dialekt verfasst hat, außerordentlich freizügig. Guillaume Apollinaire bezeichnete den Autor der Gedichte als „le plus grand poète priapique – größten Dichter der Fruchtbarkeit“. Baffis Werke waren sehr bekannt und wurden „in allen Cafés vorgetragen“ (Corto Maltese). Heute soll ihre Beliebtheit völlig unvermindert sein – allerdings sind sie wohl nur Muttersprachlern zugänglich.

      Die 1806–26 erbaute Kirche S. Maurizio stellt nach Meinung der Mehrzahl der Autoren eine Replik der Sansovino-Kirche S. Geminiano dar, die der Ala Napoleonica an der Piazza weichen musste. Nach anderen Quellen (Brusegan) waren Antonio Diedo und Gianantonio Selva die Architekten. Die Kirchengründung geht bis auf das 9. Jahrhundert und die Familie der Candiano zurück. Ein Vorgängerbau von 1560 wurde 1806 abgerissen. Das jetzige Gebäude entstand in den Jahren bis 1828. Die Kirche ist heute profaniert und enthält ein kleines Museum alter Musikinstrumente. Der Raum zeigt den Typus der Kreuzkuppelkirche in reinster Form und ist so ausgewogen und harmonisch, dass man ihn fast melodisch nennen möchte. Er ist von einem feinen Schwingen beseelt, das von den vertikal und horizontal verlaufenden Bögen ausgeht. Besonders belebend wirken die mächtigen Dreiviertelsäulen, die die zentrale Pendentiv-Kuppel tragen.

      Weiter in Richtung S. Marco liegt der Campo S. Maria Zobenigo (oder S. Maria del Giglio). Die Namen erinnern an das ausgestorbene Gründergeschlecht der Jubanico, beziehen sich aber auch auf die Lilie, mit der der Erzengel Gabriel vor Maria erscheint. Die

      ► Kirche S. Maria del Giglio (San Zobenigo)

      ist dem Geheimnis der Verkündigung geweiht. Sie geht auf das 9. Jahrhundert zurück und wurde mehrfach, zuletzt im 17. Jahrhundert, komplett umgestaltet. Die Familie der Barbaro hat die Kirche in dieser Zeit mit großen Stiftungen bedacht und finanzierte auch die von Giuseppe Sardi entworfene Fassade. Diese Schaufront ist ungewöhnlich dadurch, dass ihre Statuen nicht wie üblich Heilige, sondern vielmehr Angehörige der Familie Barbaro darstellen. Auch die Reliefs mit Plänen venezianischer Festungen (so z. B. die von Zara, Padua, Korfu, Spalato) nehmen auf diese Familie Bezug, die dort Besitzungen hatte. Den plastischen Schmuck der Fassade schuf Justus le Court. Sie wird durch kräftige Säulenpaare und klar gezogene Gesimse gegliedert, ein Motiv, das vom römischen Barock übernommen wurde. Der Innenraum ist ein schlichter Saal mit jeweils drei flachen Seitenkapellen und hohem, einteiligem Presbyterium.

      Ausstattung: Zu beiden Seiten des Haupteingangs hängen vier Sibyllen Salviatis, weiter rechts an der Eingangswand ein Auferstandener Christus von Giulio del Moro aus dem 16. Jahrhundert. Dahinter ist ein kleines Relief Hl. Hieronymus in der Felsengrotte zu sehen, das Pietro Lombardo zugeschrieben wird. Nach dem ersten Seitenaltar findet sich der Eingang zur Cappella dei Molin, über deren Türe eine Büste eines Gerolamo Molin von Vittoria zu sehen ist; auf dem Altar der Kapelle steht eine schöne Pietà von del Moro. Vor der Rückwand der Kapelle ist eine Heilige Familie von Peter Paul Rubens aufgestellt, das einzige Gemälde des Malers in Venedig. Es ist „ein Bild mit leuchtender Körperlichkeit der Figuren“, wie es in dem Führer des Chorus-Projekts heißt. Trotz dieser klangvollen Beurteilung gehört das Bild sicher nicht zu den stärksten Werken des Malers. Den Höhepunkt der Ausstattung stellen die ehemaligen Orgelflügel dar, die von Tintoretto mit Darstellungen der vier Evangelisten bemalt wurden und die sich im Presbyterium befinden. Es handelt sich um Frühwerke aus dem Jahre 1550, die noch aus der manieristischen Phase