Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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Название Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden
Автор произведения Max R. Liebhart
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960180685



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1172 wurde die bis dahin noch politisch aktive Volksvertretung entmachtet, und zwar zu Gunsten der Adelsvertretung, die sich nunmehr in Großem und Kleinem Rat konstituierte. 1192 musste Enrico Dandolo, der spätere Eroberer von Konstantinopel, eine erste promissio ablegen, worunter ein Eid auf die Verfassung zu verstehen ist, durch den Rechte und Pflichten des Dogen festgelegt waren. In diese Wahlversprechen wurden später immer mehr Einschränkungen und Auflagen aufgenommen. Ein Verstoß gegen sie galt als schweres, ja sogar als todeswürdiges Verbrechen. Der Große Rat war seit Ende des 12. Jahrhunderts oberste Instanz des Staates und blieb dies auch bis zum Ende der Republik. 1297 wurde die Macht der Adelsfamilien durch die schon erwähnte serrata, die Schließung des Großen Rates, zementiert. Das Goldene Buch blieb künftig grundsätzlich geschlossen, eine Regelung, von der Ausnahmen nur gegen die Zahlung exorbitanter Summen gemacht wurden. 1310 erfuhr die Republik noch einmal eine gewaltige Erschütterung durch die Verschwörung des Bajamonte Tiepolo, der einen der letzten Versuche unternahm, eine Erbmonarchie zu errichten, wie sie in anderen Städten Italiens üblich war, z. B. in Florenz mit den Medici. Dieser Aufstand, der niedergeschlagen wurde, führte zum Einsetzen einer obersten Kontrollbehörde, des „Rates der Zehn“, als Ergänzung und Gegengewicht zu den bis dahin schon bestehenden Gremien. Der Vollständigkeit halber sei noch die Verschwörung des Dogen Marino Falier angeführt, der derentwegen 1355 hingerichtet wurde.

      Im venezianischen Staatsgebilde herrschte das Prinzip des Misstrauens, das Kontrolle und Gegenkontrolle notwendig machte. Dabei überschnitten sich die Kompetenzbereiche der einzelnen Staatsorgane häufig und in retrospektiv ziemlich undurchsichtiger Weise. Um dem Einzelnen nicht zu viel Macht zuwachsen zu lassen, waren die Amtszeiten relativ kurz, und je wichtiger das Amt war, desto kürzer die Amtszeit. Für die capi des Rates der Zehn betrug sie beispielsweise nur einen Monat. Auf Lebenszeit gewählt wurden der Doge (der aber vom Großen Rat abgesetzt werden konnte), die Prokuratoren von San Marco, die politisch machtlos waren und im Wesentlichen nur zu repräsentieren hatten, und der Großkanzler, eine Art Bürochef des Dogen, der in keinem Gremium Stimmrecht besaß. Die einzelnen Gremien seien im Folgenden skizzenhaft dargestellt:

      Der Große Rat als oberstes Organ des Staates besaß grundsätzlich unbeschränkte Macht, insbesondere hinsichtlich der Gesetzgebung, des Einsetzens von Behörden und Beamten sowie der Entscheidung über Krieg und Frieden. „Die wohl wichtigste Aufgabe des Großen Rates war die Wahl des Dogen und aller höheren Staatsfunktionäre aus seinen eigenen Reihen.“ (Lebe) Er war aber auf Grund seiner Größe mit mehr als 2.000 Personen viel zu schwerfällig, um alle Entscheidungen selbst treffen zu können, weshalb er Aufgaben an Unterinstanzen delegierte, die natürlich alle aus Mitgliedern des Großen Rates bestanden. In den Großen Rat wurde man seit der serrata nicht mehr gewählt, sondern hineingeboren. Jeder mindestens 25-jährige Angehörige einer adeligen Familie war berechtigt, in das Gremium einzutreten.

      Der Doge war das Staatsoberhaupt und der oberste Repräsentant der Republik Venedig. Er wurde jedoch schon von Petrarca, also im 14. Jahrhundert, als Sklave der Republik bezeichnet und bildlich oft knieend vor dem Markuslöwen dargestellt. Er fungierte als primus inter pares, sein Einfluss war aber einfach dadurch größer als der anderer Staatsfunktionäre, dass er in allen Gremien den Vorsitz hatte. Die Dogenwahl erfolgte nach dem kompliziertesten System, das die Geschichte kennt, wodurch Bestechungen vermieden werden sollten. Wahlmänner waren alle Mitglieder des Großen Rates, von denen durch Los (das Losverfahren erfolgte durch ballotage, bei der ein Knabe, der ballotino del doge, aus einer Urne für jeden Wähler eine Kugel zog) zunächst 30 ausgewählt wurden. Erneut durch Los wurden von diesen dann 9 bestimmt, die wiederum 40 andere benannten. Von diesen wurden 12 durch Los gezogen, die dann 25 Personen bestimmten. Im nächsten Losverfahren blieben 9, die 45 Kandidaten ernannten. 34 davon wurden wieder durch Los eliminiert. Die verbliebenen 11 Personen schließlich ernannten die 41 eigentlichen Wahlmänner, die den Dogen aus den angetretenen Kandidaten auswählten, wofür eine Mehrheit von mindestens 25 Stimmen erforderlich war. Die ganze Wahlprozedur erfolgte unter den Bedingungen eines rigorosen Konklaves im Dogenpalast. Der Gewählte war verpflichtet, die Wahl anzunehmen. Er wurde der völlig entmachteten Volksvertretung, dem arrengo in San Marco zur Akklamation vorgeführt mit den Worten: „Dies ist euer Doge, wenn es euch beliebt“, ein Satz von lediglich rhetorischer Bedeutung, dem das Volk mit einem „Sia, sia!“ (es sei) zu antworten hatte. Ein leichtes Leben hatte der Gewählte dann nicht mehr, was sich einerseits an der Fülle seiner Aufgaben, andererseits angesichts der Einschränkungen, wie sie sich aus den Promissionen ergaben, gut nachvollziehen lässt. Im Laufe der Jahrhunderte wurde der Doge schrittweise entmachtet, bis er schließlich praktisch nur mehr als Repräsentationsfigur fungierte.

      Neben dem Großen Rat gab es den Kleinen Rat, der am Anfang aus sechs consiglieri, Räten aus den sechs Stadtbezirken Venedigs, bestand. Diese Männer umgaben – und überwachten – den Dogen bei allen seinen Amtshandlungen. Dieser ursprünglich Kleine Rat wurde im 13. Jahrhundert um die drei Vorstände der quarantia erweitert. Im 14. Jahrhundert kam noch die sechzehnköpfige Kommission der savi, der „Weisen“ hinzu, wodurch die Signoria, die „Herrschaft“, entstand. Der signoria kam eine besondere politische Bedeutung zu und sie besaß bis zur Gründung des Senats die Funktion der obersten Staatsführung. „Die Hauptaufgabe der Signoria bestand darin, die Aufgaben eines Staatsoberhauptes mit dem Dogen zu teilen. Die Dogenberater und die Capi der Quarantia waren somit nicht nur Berater des Dogen, vielmehr konnte der Doge seine Aufgaben nur in Zusammenarbeit mit der Signoria erfüllen. Der Doge war Primus in der Signoria, gleichzeitig aber das Objekt der Kontrolle durch diese.“ (Heller)

      Der Senat entstand im 13. Jahrhundert auf Grund der Schwerfälligkeit des Großen Rates und setzte sich zunächst aus 60 Mitgliedern zusammen, die natürlich alle Adelige waren. Er wurde bis zum 16. Jahrhundert schrittweise auf 300 Mitglieder erweitert. Zu seinen Mitgliedern gehörten auch die der Signoria, also auch der Doge. Der Senat war bis zum 16. Jahrhundert wichtigstes politisches Organ des Staates, in dem nahezu alle Fragen der äußeren und inneren Politik diskutiert und entschieden wurden. Er besaß umfassende Kompetenzen. Als sich schließlich erwies, dass auch der Senat zu groß und damit zu unflexibel geworden war, sah sich dieser gezwungen, einzelne Aufgabe zu delegieren. Das geschah durch Gründung von Kommissionen, die meist nur aus drei oder fünf Mitgliedern bestanden. Diese Kommissionen wurden meist als collegio bezeichnet, ihre Mitglieder hießen provveditori oder auch savi, Bezeichnungen, denen jeweils eine Kurzbezeichnung der Aufgaben folgte (z. B. provveditori alle acque, sopra gli ospedali, sopra banchi).

      Der Rat der Vierzig, die quarantia, war ursprünglich eine Kommission des Großen Rates, besaß im 13. Jahrhundert umfangreiche Kompetenzen und entwickelte sich im 14. Jahrhundert zum obersten Gerichtshof Venedigs und Berufungsgericht. Im 15. Jahrhundert wurde sie in vier mit verschiedenen Zuständigkeiten verbundene Abteilungen aufgegliedert, von denen die quarantia criminale die wichtigste war. Seit dieser Zeit büßte dieses Gremium langsam an Bedeutung ein. So verfügte der Kleine Rat seit dieser Zeit über das Recht, bestimmte Verfahren an sich zu ziehen. Erwähnt seien in diesem Zusammenhang auch die signori di notte, die „Herren der Nacht“. Es handelte sich dabei um einen Strafgerichtshof, der für Sicherheit und Sittlichkeit zuständig war und Gassen und Kanäle der Stadt nachts überwachte.

      Der Rat der Zehn, der consiglio dei dieci, wurde 1310 nach dem Umsturzversuch Bajamonte Tiepolos zunächst als eine vorübergehende Einrichtung gegründet. Er entwickelte sich jedoch rasch zu einer hochbedeutenden Regierungsbehörde, der fünften neben Großem und Kleinem Rat, Senat und dem Rat der Vierzig. Im Jahre 1335 wurde er zur ständigen Einrichtung erklärt. Er wurde zum wichtigsten Kontroll­organ, wobei letztlich alle anderen Staatsorgane seiner Kontrolle unterlagen. Man könnte auch vom obersten Verfassungsschutz sprechen, dessen Kompetenzen faktisch uneingeschränkt waren. Es handelt sich um das Gremium der Republik, um das sich die meisten, überwiegend gruseligen Geschichten ranken.

      „Die undurchsichtige Tätigkeit des Rats der Zehn, die nächtlichen Verhöre und mitunter auch Folterungen, die er im Dogenpalast durchführen ließ, das von ihm entwickelte Informations- und Erkundungssystem sowie die von ihm verwendeten – nur zum Teil finsteren – Kerker im Dogenpalast haben dieses Verfassungstribunal natürlich bald zum Gegenstand phantasievoller und abenteuerlicher Spekulationen im Volk, im Ausland und später besonders in der Literatur gemacht. Um so mehr, als im 16. Jahrhundert dann aus den Dieci die venezianische Staatsinquisition hervorging,