Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden. Max R. Liebhart

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Название Venedig. Geschichte – Kunst – Legenden
Автор произведения Max R. Liebhart
Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783960180685



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Lido könnte als solches betrachtet werden. Weitere Zerstörungen von Siedlungen auf dem Festland erfolgten 637, die Städte Aquileia, Concordia und Altino gingen unter. Auch ein Bischof Magnus von Oderzo ging vom Festland fort und suchte Schutz in der Lagunenstadt Cittanova.

      Dieser Bischof Magnus war ein interessanter Mann. Denn um ihn rankt sich eine Reihe von Geschichten, von denen jede zur Gründungslegende einer Kirche auf den Inseln wurde, auf denen sich heute Venedig erhebt. So erschien dem Magnus zunächst einmal der hl. Petrus, der ihm befahl, eine Kirche dort zu bauen, wo er Rinder und Schafe würde weiden sehen. Magnus beobachtete das dann am östlichsten Ende der Inseln, nämlich auf der Insel Olivolo, wo er die Kirche S. Pietro (in Castello) erbauen ließ, die dann zwölf Jahrhunderte lang die Bischofskirche Venedigs war. Die zweite Erscheinung war die des Erzengels Raphael, der eine Kirche dort haben wollte, wo sich viele Vögel versammeln würden – es entstand daraufhin die Kirche San Raffaele Arcangelo auf dem Dorsoduro. Danach ordnete Christus selbst die Errichtung der Kirche San Salvador an und zwar an der Stelle, über der Magnus eine rosa Wolke am Himmel schweben sehen würde. Die Jungfrau Maria erschien dem Magnus als molto formosa, und die entsprechende Kirche wurde an der Stelle erbaut, über der er eine weiße Wolke hatte schweben sehen. Johannes der Täufer war noch anspruchsvoller, denn er forderte gleich zwei Kirchen, die eine für sich, die andere für seinen Vater – die entsprechenden Kirchen sind S. Giovanni in Bragora und S. Zaccaria. Auch die Zwölf Apostel erhoben Anspruch auf eine Kirche und erschienen dem Magnus in Form von zwölf Kranichen. Schließlich erbat sich eine Santa Giustina ein Gotteshaus, und zwar dort, wo man zu ungewöhnlicher Zeit reife Trauben finden würde (diese Kirche stand im östlichen Teil des Castello und existiert heute nicht mehr). Diese Fülle von außergewöhnlichen Geschichten lässt den Schluss zu, dass der Himmel damals der Erde und insbesondere Venedig eben noch viel näher war, als das heute der Fall ist. (Außerdem soll schon hier erwähnt werden, dass sich die Tradition solcher himmlischen Erscheinungen auch noch in späteren Jahrhunderten fortgesetzt hat. 700 Jahre später nämlich geschah das dem Dogen Andrea Dandolo, dem befohlen wurde, die Kirche SS. Giovanni e Paolo zu errichten.)

      Erste Selbständigkeit der Siedlungen

      Das Lagunengebiet stand politisch unter dem Schutz der Exarchen von Ravenna. Es war seit 539 Teil des oströmischen Reiches, das jedoch nur mit Mühe seine Besitzungen in Italien behaupten konnte. Der Exarch wiederum bestellte einen Militärtribun, der mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet war. Dieser Tribun wurde 697 durch einen selbstgewählten duca, seit 747 doge genannt, ersetzt, der zwar noch formell einer Bestätigung durch Ostrom bedurfte, faktisch aber bald selbständiger Volksführer und Kriegsherr war, wie es die Bezeichnung „Herzog“ auch ausdrückt. Vom ersten dieser Herzöge, dem ersten der insgesamt 120 Dogen Venedigs, ist heute nur noch der Name Paulutius Anafestus bekannt.

      828 war das Jahr der sogenannten translatio marci, bei der zwei venezianische Kaufleute den mutmaßlichen Leichnam des hl. Markus in Alexandrien geraubt und ihn nach Venedig überführt hatten. Auf diese Weise habe sich die Prophezeiung des Engels an den hl. Markus erfüllt, von der dieser (siehe oben) erfuhr, als er laut der Legende im 1. Jahrhundert in der Lagune weilte. Das Datum 828 erscheint deshalb von herausragender Bedeutung, weil der werdende Staat nicht nur eine Reliquie von außerordentlichem Wert bekam – Reliquien waren in der damaligen Zeit so etwas wie „himmlische Aktien“ (Lebe), und der Besitz des Leichnams eines Apostels war in seiner Bedeutung kaum zu überschätzen, – sondern auch weil Venedig eine Integrationsfigur erhielt, um die Staat und Bürger bis 1797 und darüber hinaus geschart blieben.

      Welche Bedeutung der hl. Markus für die Venezianer hatte, lässt sich aus der Tatsache ersehen, dass im Jahr 1442 ein Gesetz erlassen wurde, das jeden, der einen Fluch gegen Gottvater ausstieß, mit einer Strafe von drei Lire bedrohte, während ein Fluch gegen den hl. Markus mit fünf Lire geahndet werden konnte (das Gesetz wurde allerdings nach kurzer Zeit wieder zurückgezogen).

      Der translatio vorausgegangen war eine für Venetien außerordentlich gefährliche Situation durch die Auseinandersetzungen mit Ostrom einerseits, mit den Langobarden und etwas später mit den Franken unter Pippin dem Kleinen und dessen Sohn Karl dem Großen andererseits. Letzterer dehnte 788 sein Reich bis nach Istrien aus, was zu einer Umklammerung Venedigs führte. 809 schließlich griff Karls Sohn Karlmann (der sich später wie sein Großvater ebenfalls Pippin nannte) Venetien an und siegte dabei offensichtlich auf ganzer Linie, wenngleich eine Eroberung der Lagunenregion in der venezianischen Geschichtsschreibung später bestritten und die tatsächlichen Ereignisse dahingehend umretuschiert wurden, dass die Eroberung eigentlich doch gar nicht stattgefunden habe. De facto aber waren die Veneter vorübergehend Untertanen des Kaisers in Aachen. Allerdings erreichte Byzanz auf diplomatischem Wege – und zwar im Friedensvertrag von Aachen von 812 – unter anderem die Rückgabe Venetiens, indem es die Kaiserwürde Karls des Großen als gleichberechtigt mit der des oströmischen Kaisers anerkannte.

      Seit dieser Zeit saß Venedig quasi zwischen zwei Stühlen – was sich in diesem Fall jedoch nicht als Nachteil erwies, sondern als Chance gesehen und genutzt wurde. Die Stadt konnte sich im Machtvakuum zwischen dem westlichen und dem immer schwächer werdenden östlichen Reich formen und stabilisieren und schließlich auch expandieren.

      Wirtschaftlicher und politischer Aufschwung

      Etwa ab dem Jahr 1000 begann dann ein märchenhafter Aufstieg, der in erster Linie durch die Brückenfunktion Venedigs zwischen Ost und West begründet war. Der Aufstieg betraf sowohl die wirtschaftliche als auch die kulturelle Seite. 1177 erlebte die Stadt den ersten Höhepunkt ihrer Geschichte, als der Doge Sebastiano Ziani in der Stadt die Versöhnung zwischen Kaiser Friedrich Barbarossa und Papst Alexander III. herbeiführte, ein Ereignis, das zur Selbstdarstellung genutzt und mit einer märchenhaften Prachtentfaltung verbunden wurde. Die weitere geschichtliche Entwicklung, von massiven Provokationen Venedigs durch Byzanz erheblich gefördert, gipfelte in der Eroberung von Konstantinopel im Jahr 1204 durch den 90-jährigen, angeblich blinden Dogen Enrico Dandolo, der trotz Blindheit und Alter an der Erstürmung der Mauern an der Spitze seines Heeres beteiligt war. Dem Dogen war es gelungen, das Heer des Vierten Kreuzzuges, das sich auf dem Lido versammelt hatte, um mit venezianischen Schiffen ins Heilige Land transportiert zu werden, umzulenken und für seine Ziele zu verwenden. Die Kreuzfahrer hatten mit der Republik einen Vertrag über den Transport des Heeres geschlossen. Für 85.000 Silbermark sollten 4.500 Ritter, 9.000 Knappen, 20.000 Mann Fußvolk sowie Tausende von Pferden ins Heilige Land gebracht und auf der Fahrt verpflegt werden. Doch als es so weit war, kamen weit weniger als ursprünglich angenommen, nämlich nur etwa ein Drittel. Weil dieses kleine Heer die vertraglich vereinbarte Summe nicht aufbringen konnte, erhielt Dandolo die Möglichkeit, dem Heer Bedingungen zu diktieren und die Zielrichtung des Kreuzzuges zu ändern. Nicht verschwiegen werden soll, dass sowohl die Kreuzfahrer als auch die Venezianer bei der Eroberung und der anschließenden mehrtägigen fürchterlichen Plünderung Konstantinopels vor keiner Freveltat zurückschreckten. Venedig übernahm von Byzanz außer unermesslichen Reichtümern das sogenannte „Venezianer-Drittel“ („ein Viertel und die Hälfte eines Viertels“), zu dem auch die Inseln der Ägäis einschließlich Kreta und die Peloponnes gehörten. Außerdem setzte nach 1204 ein Strom von Kunstgegenständen (z. B. die Pferde von San Marco) und antiken Spolien nach Venedig ein, mit denen die Stadt geschmückt wurde – so besteht die säulengeschmückte Fassade von San Marco fast durchweg aus Material, das aus Byzanz stammt. Auf längere Sicht gesehen war der militärische Erfolg Venedigs jedoch von zweifelhaftem Wert, da sich Konstantinopel von dieser Niederlage und der erlittenen Plünderung nie mehr erholte und schließlich 1453 von den Osmanen eingenommen wurde, welche schon seit langem begonnen hatten, Schritt für Schritt venezianische Besitzungen zu erobern.

      Die drei Jahrhunderte von 1204 bis etwa 1508 waren die Epoche der größten Machtentfaltung in der Geschichte der Republik, die sich 1297 mit der sogenannten serrata, der endgültigen Festlegung der Namen der politisch entscheidungsberechtigten Adelsfamilien im Goldenen Buch der Stadt, eine bis 1797 nicht mehr wesentlich veränderte Verfassung gab, die allerdings niemals kodifiziert wurde. Natürlich gab es in diesem langen Zeitraum auch einige größere Probleme: 1310 einen Umsturzversuch durch Bajamonte Tiepolo (den Enkel eines Dogen) und 1355 eine Verschwörung des amtierenden Dogen Marino Falier, der eine Monarchie nach Vorbildern in Mailand, Padua oder Verona anstrebte und nach kurzem Prozess hingerichtet wurde. Daneben