Sommerleithe. Klaus Weise

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Название Sommerleithe
Автор произведения Klaus Weise
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939483618



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zu werden, wie es letztes Jahr in den Ferien fast geschehen wäre, wenn ich nicht eingegriffen und es verhindert hätte? Mein Vater hatte das Taxi erreicht und schaute noch einmal zurück. Zu ihr? Zum Haus? Würde er jetzt zornig? Aber nichts dergleichen geschah. Auch er stand da. Wir standen einfach alle nur da: Vati, der Taxifahrer, Renate, ich und Mutti. Nur, dass sie woanders stand als wir. Irgendwie waren wir alle ratlos.

      Dann drehte sie sich um und wandte uns den Rücken zu. Was tut sie? Sie schaut auf die Tür. Die sie doch schon so viele Male gesehen hat. Nichts war neu, nichts hatte sich verändert. Die Tür war, was sie immer war. Eine Tür. Eine Haustür. Die Tür zu unserem Haus. Durch die wir nach dem Urlaub unser Haus wieder betreten würden. Und wenn sich sonst nichts verändert hatte – Mutti hatte sich verändert. Mein Vater wurde ungeduldig. Und auch der Taxifahrer wollte nicht länger auf der Straße herumstehen. Er wollte endlich einsteigen und losfahren.

      Würde Mutti jetzt den Hausschlüssel aus der Handtasche nehmen, die Tür aufschließen, ins Haus gehen und sie hinter sich verschließen? Für immer darin verschwinden? Würde Vati ihr folgen, und alles würde wieder werden und bleiben, wie es immer war in unserem Haus? Nur ohne Urlaubsreise. Oder würde er ohne sie wegfahren? Und was geschähe dann mit Renate und mir? Wir schauten uns an. Würden wir bei Mutti bleiben oder mit Vati allein in den Urlaub fahren? Oder sollten wir uns trennen, um weder Vati noch Mutti allein zu lassen? Doch wer sollte bei Mutti bleiben, wer bei Vati? Dann geschah die Erlösung. Mutti drehte sich zu uns um, kam durch den Vorgarten zum Taxi, stieg ein, und wir fuhren los.

      Da geschieht etwas Unerwartetes. Was hat es zu bedeuten? Wir sind noch nicht lange unterwegs, als der Fahrer ein außerhalb von Gera gelegenes Waldschwimmbad ansteuert und hält. Wir Kinder schauen uns an und sind verunsichert. Jetzt steigen wir aus, bekommen von Mutti zwei Badetaschen in die Hand gedrückt, und Vati kauft an der Kasse vier Eintrittskarten. «Zwei Erwachsene, zwei Kinder.» Renate ist beleidigt. Sie ist kein Kind mehr. Zumindest will sie nicht mit mir auf eine Stufe gestellt werden. Vati zahlt. Er hat passendes Geld.

      Man muss sich das vorstellen: Gleich zu Beginn der Reise, lange bevor wir das Urlaubsziel erreichen, gehen unsere Eltern mit uns ins Freibad! Aber weder darf Renate ihren Badeanzug noch ich meine Badehose anziehen.

      «Was soll das?», denke ich bei mir, «warum gehen wir dann ins Schwimmbad?»

      Und schon kommt die Antwort: «Mutti hat zu Hause etwas vergessen, und da ist es doch besser, hier auf sie zu warten, als mit ihr hin- und herzufahren», sagt unser Vater und fügt hinzu: «zumal, wenn ich euch jetzt ein Eis spendiere.»

      Das Eis schmeckt gut. Trotzdem kann ich es nicht genießen. Denn ich befürchte, dass Mutti nicht zurückkommen wird, so komisch, wie sie sich heute früh benommen hat. Sie würde allein in unserem Haus zurückbleiben. Aber warum? Und sie würde traurig sein, dass ich nicht bei ihr bin und sie tröste. Vielleicht würde sie sogar weinen?

      Doch kaum haben wir unser Eis beendet, geschieht erneut etwas sehr Merkwürdiges. «Nehmt die Taschen und folgt mir!», spricht mein Vater, kaum sichtbar die Lippen bewegend, und dann, als habe er sich mit dieser Art zu sprechen verdächtig gemacht oder ein Geheimnis verraten – aber welches? –, in einem Tonfall, der entspannt wirken soll, es aber nicht ist: «Wir suchen einen ruhigen Fleck, an dem wir unsere Decke ausbreiten können.»

      Renate und ich folgen ihm – und sind überrascht, hinter einer Hecke jenseits des Zaunes, der das Waldschwimmbad umschließt, den Taxifahrer zu sehen, der doch Mutti nach Hause und zurück fahren sollte. Was ist passiert? Ein Unfall? Wo ist Mutti? Ist ihr etwas zugestoßen? Ist sie verunglückt? Ist sie tot?

      Der Fahrer nickt meinem Vater zu, und mein Vater nickt zurück. Renate und ich wissen noch immer nicht, was geschehen ist. Der Taxifahrer tritt hinter der Hecke hervor, einer Haselnusshecke, aus deren Ästen und Zweigen sich leicht Pfeil und Bogen schnitzen lassen, geht zu einem Eisentor, schließt es auf, unser Vater befiehlt leise: «Geht!», wir gehorchen, und Vati folgt uns. Der Taxifahrer verschließt das Tor. Vati blickt sich um. Als wolle er sich vergewissern, dass uns niemand beobachtet hat.

      Hinter der Wegbiegung steht das Taxi. Mutti sitzt auf der Rückbank. Ich lasse den Badebeutel fallen und laufe zu ihr. Sie öffnet die Wagentür, ich werfe mich in ihren Schoß und weine. Vor Freude. Und aus Angst. Was dieser merkwürdige Tag, der mit keinem bisher erlebten zu vergleichen ist, noch alles bringen wird.

      Ich saß vorn zwischen Fahrer und Vater, die beiden Frauen saßen hinten. Es muss ein Wartburg 311 gewesen sein, mit dem wir fuhren. Ich weiß dies, denn der Fahrer erfüllte mehrmals meine Bitte, den Wagen zu beschleunigen, sodass die Tachonadel zu meiner Freude die magische Geschwindigkeit von 100 km/h anzeigte. 100 km/h, welch eine Geschwindigkeit! Unser Dreirad fuhr höchstens 50 km/h, wenn überhaupt, und knatterte dabei mit einem Höllenlärm vor sich hin, der, wenn das Dreirad hätte sprechen können, bedeutet hätte: Bitte, bitte quält mich nicht, ich kann nicht mehr! Außerdem hätten meine Schwester und ich samt unserem Gepäck auf der Ladefläche sitzen und darauf achtgeben müssen, dass nicht nur wir, sondern auch die Koffer und Taschen in den Kurven nicht hinunterrutschten. Denn wenn das Dreirad, das keine Federung zu haben schien, durch Schlaglöcher fuhr, hopsten wir wegen der Erschütterung jeweils für Momente unfreiwillig in die Luft und wären Gefahr gelaufen, dass in der Sekunde, in der wir mit dem Gepäck ohne Kontakt zur Ladefläche in der Luft schwebten, das Dreirad unter uns und den Koffern hinwegführe und wir auf der Straße, oder – wenn eine Kurve hinzukäme – im Straßengraben landeten und unsere Eltern weiterführen, ohne es zu bemerken.

      Im Wartburg fühlte ich mich sicher, und die schnelle Fahrt bereitete mir Freude. Eigentlich schade, dass Vati keinen Wartburg kaufen konnte, weil der so lange Wartezeiten hatte. Warum uns das Taxi aber nach Ostberlin fuhr und nicht zum Geraer Bahnhof, damit wir von hier mit dem Zug nach Berlin hätten weiterfahren können, blieb trotz der Erklärung der Eltern, so sei es komfortabler, merkwürdig.

      Was soll’s. Jedes Mal, wenn die Tachonadel 100 km/h anzeigte, freute ich mich, denn ich zählte mit, wie oft der Wagen diese ungeheure Geschwindigkeit auf unserer Fahrt nach Berlin erreichen würde. Manchmal kam eine Kurve, ein anderes Mal ein entgegenkommendes Fahrzeug, dann eine Ortschaft, der Fahrer musste abbremsen und ich auf den nächsten Höchstgeschwindigkeitsrausch hoffen. Glückte dieser, schaute ich freudig erregt zu meiner Mutter. Sie lächelte mich an. Doch ihr Lächeln war nicht ehrlich. Auch meine Schwester schien die Freude am Rausch der Schnelligkeit nicht zu teilen. Wusste sie, weil sie älter war, mehr als ich? Es herrschte eine gedrückte Stimmung im Wagen. Mein Vater bemühte sich, sie mit Gesprächen aufzulockern, in die er den Taxifahrer zu verwickeln suchte, doch dieser wollte sich nicht mit überflüssigen Gesprächen von der Konzentration auf die Geschwindigkeit ablenken lassen. Da hatte er natürlich recht. Denn reden konnte man ja immer – so schnell fahren nur höchst selten.

      Es waren schöne Alleen, durch die wir fuhren. Die Bäume, die Wolken, der Himmel, die Landschaft – alles spiegelte sich auf dem Lack der Motorhaube und in der Windschutzscheibe und rauschte an uns vorüber, ohne dass ich mich daran sattsehen konnte. Irgendwann, ich war wohl eingeschlafen, hielt der Wagen an, und ich erwachte. Pipi machen und Butterbrote essen – und schon ging die Fahrt weiter Richtung Berlin. Wir passierten Leipzig, ohne Tante Marie und Onkel Fritz zu besuchen. Wie lange die Fahrt dauerte, die aus irgendeinem Grund über Landstraßen und nicht über die Autobahn führte, weiß ich nicht, aber irgendwann kamen wir in Berlin an. Ich war wieder eingeschlafen und erwachte erst durch die Stille des Motors, der abgeschaltet worden war oder seinen Geist aufgegeben hatte. Verloren wie ein gejagtes Tier am Ende seiner Kräfte, stand unser Taxi auf einem weiten grauen Platz, sichtbar für alle und zum Abschuss freigegeben. Doch die wenigen Autos, die vorüberfuhren, und die wenigen Menschen, die mehr über den Platz huschten, als dass sie gingen, nahmen von uns nicht die geringste Notiz. Weder schienen wir willkommen zu sein noch zu stören. Wir waren nicht vorhanden. Wir existierten nicht.

      Auch den Gebäuden, die mich auf den ersten Blick annehmen ließen, sie umzingelten uns, und wir seien in eine Falle geraten, waren wir gleichgültig – und vielleicht noch nicht einmal das. Wie Verwundete waren sie mit sich selbst beschäftigt. Hilflos. Sollten sie Menschen überhaupt zur Kenntnis genommen haben, dann, um sie abzuweisen. Zu schwer trugen sie an ihrer eigenen Last, als dass sie sich auch noch um Menschen hätten kümmern