Название | Sommerleithe |
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Автор произведения | Klaus Weise |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783939483618 |
Mein Vater hatte ein doppelt schweres Schicksal zu ertragen, denn er war nicht nur der einzige Nichtraucher, sondern auch der einzige Verheiratete in der Männerrunde und bekam von den Frauen, wenn er wieder mal mit seinen Gesellen zum Balkon hochschaute, um Dienstliches zu besprechen, den Spitznamen Hans-guck-in-die-Luft. Er hatte zwar auch noch einen zweiten Vornamen, Herbert, aber der war nicht spitznamentauglich.
Meine Mutter also stand mit den anderen Frauen, die gerade abkömmlich waren, in der Küche. Sie beobachteten die Männer und machten sich lustig über sie, derweil die neue, wassergetriebene Kartoffelschälmaschinentrommel rumpelte und pumpelte, die Kartoffeln von oben nach unten, zur einen, dann zur anderen Seite durcheinanderwirbelte, um ihnen die braune Haut samt ihrer Unreinheiten abzuschleifen. Die Kartoffeln waren mindestens so irritiert wie die Männer, auch sie wussten nicht, wie ihnen geschah. Sie waren es gewohnt, einzeln in die Hand genommen und liebevoll-gekonnt von Hand geschält und nicht grob-maschinell abgerieben zu werden. Also schauten sie sich – jawohl, Kartoffeln besitzen Augen, das sind die Sprossknospen der Knollen – an und fragten sich, was die rumorende Unruhe zu bedeuten habe. Sie redeten durcheinander, ohne sich zu verstehen, polterten lauter und lauter, je schneller die schmirgelpapierraue Drehscheibe sie durcheinanderwirbelte, doch gegen das Durcheinander, das ihren plumpen Knollenkörpern angetan wurde, gab es, dem Gelärme ihres Protestes zum Trotz, kein Ankommen. Also schauten sie hilfesuchend zu den Frauen, die zu den Männern schauten, die zu Frau Pavel schauten, die, um die Gier der Männer und den Neid der langweiligen Haus- und Arbeitsfrauen zu steigern, nach einem Glas griff, die roten Lippen über den Strohhalm stülpte, daran zutschelte und ein rotes Getränk aus dem Glas in ihrem Mund verschwinden ließ. Alle, die das sahen, waren empört. Sie hatte das rote Etwas, das, wie Rudi bemerkte, bestimmt kein Himbeersaft war, ex getrunken!
Dann schaltete sie das Transistorradio an und hörte Schlager. Doch die Musik hätte es nicht gebraucht. Sie spielte längst in den Männern, deren Blicke Frau Pavel auf sich zog, spielte in allen dieselbe Melodie. Du weißt, ich küsse heiß, du weißt, ich brenne gleich, du weißt, dass ich immer alles, alles erreich, ich bin ein Mann, hey jey jey, ich bin ein Mann! Doch Frau Pavel ließ nicht locker. Sie nahm eine Illustrierte und durchblätterte sie in demonstrativer Langeweile mit lackierten Fingernägeln, Seite für Seite. Die Fotos schauten Frau Pavel an. Doch die Blicke der abgebildeten Frauen interessierten Frau Pavel nicht. Sie war selber eine Frau. Und wusste, was für eine. Also schaute sie die Männer an. Die Männer schauten weg und einander an, dann zu den Frauen im geöffneten Küchenfenster; diese lachten die Männer an, dann schauten auch sie weg und schauten einander an – und mit einem leicht resignierten Blick, in dem ein kleines Fragezeichen zu lesen stand, und einem Seufzer gingen sie wieder an die Arbeit; nur meine Mutter blieb stehen. Sie schaute die Kartoffeln an. Doch die konnten nicht mehr zurückschauen. Die neue Kartoffelmaschine hatte ihnen die Kartoffelaugen abgerieben.
Später musste ich erfahren, dass keine Deutsche, sondern Catherine Deneuve die Ikone der Déesse sei. Welch ein Irrtum! Die wahre Déesse war Frau Pavel auf dem Balkon im Ruhrgebiet, vierter Stock, in Mülheim-Dümpten.
Eines Tages waren Herr und Frau Pavel verschwunden. Die Citroën-Niederlassung war noch da. Sie wird einen neuen Betreiber gefunden haben. So wie die Wohnung mit dem Balkon Nachmieter. Aber keiner hat je wieder hochgeschaut. Und selbst wenn dort oben Catherine Deneuve im Bikini erschienen wäre, in der einen Hand eine Muratti Privat rauchend und mit der anderen in kühler Laszivität aufs Geländer gestützt, gegen Frau Pavel hätte sie keine Chance gehabt. Wer Frau Pavel einmal gesehen hat, trägt sie als Phantom der Erinnerung, als Fata Morgana stimulierender Phantasie, als erotischen Prägestempel und lebenslängliche sexuelle Behinderung durch sein amouröses Leben, sämtlichen Phantasmen und Wirklichkeiten anderer Weiblichkeit haushoch – vier Stockwerke – überlegen. Claudia Cardinale? Sophia Loren? Marilyn Monroe? Nein! Nein! Nein!
Was aus dem Verkäufer der fahrbaren Göttin und aus seiner göttlichen Frau geworden ist, weiß ich nicht, wie ich übrigens auch nicht weiß, was den Diven der Fensterbank, Renate und der schwarzbuschigen Monika, in jener Nacht widerfuhr, in der ich vor ihnen in den Schlaf fiel, während sie noch verträumt «ihre» Gesellen mit den alten oder neuen Eroberungen beobachteten. Es muss Heftiges gewesen sein.
6.
Renates Anfall
Denn am nächsten Morgen, die Sonne schien friedlich in das Zimmer, in dem wir zu dritt geschlafen hatten, schrie uns etwas aus dem Schlaf: «Ich ersticke! Ich ersticke!» Renate. Sie war außer sich. Sie tobte. Sie war in Panik – und schrie, wie ich sie zuvor nie schreien gehört hatte. Sie schrie sich die Seele aus dem Leib, als sei der Teufel im Begriff, mit ihr wer weiß was zu tun, und sie müsste nicht nur ihren Körper retten, sondern auch noch ihre Seele, nur wüsste sie nicht, in welcher Reihenfolge, bevor er sie würgte, mit Haut und Haar verschlänge, Besitz von ihr nähme und sie zu seinem willfährigen Instrument machte. Sie sprang im Zimmer umher, sprang aufs Bett und vom Bett herunter, rüttelte an der Türklinke, pochte mit den Fäusten gegen die Tür. Vergebens. Sie konnte die Tür nicht öffnen. «Ich ersticke! Ich ersticke!» Dieses Eingesperrtsein, dieses Nicht-fliehen-Können machte sie rasend. Immer und immer wieder sprang sie gegen den Schrank und warf sich gegen die Wände, als könne sie durch sie hindurchspringen wie Armin Dahl im Fernsehen durch eine Glasscheibe, und schrie dabei: «Ich ersticke! Ich ersticke!» Sie schien den Verstand zu verlieren, wenn sie ihn nicht schon verloren hatte, gepeitscht vom Affentanz des Irreseins.
Monika und ich waren hilflos. Wir konnten nichts tun. Hätten wir versucht, sie anzufassen, um sie zu beruhigen, sie hätte uns mit einem Streich zerklatscht wie Fliegen. Noch nie hatte ich einen derartigen Vulkanausbruch eines Körpers erlebt, noch nie eine derartige, von besinnungsloser Angst gepeitschte Panik; es war, als blickte sie dem Tod ins Auge. Meine Schwester war ein Dynamitbündel im Augenblick der Explosion.
Der Anfall dauert bereits einige Minuten, als mein Vater gegen die Tür klopft und brüllt: «Was ist da los?! Verdammt noch mal! Was ist da los?!» Und meine Schwester brüllt zurück: «Ich ersticke! Ich ersticke!» – «Dann macht doch das Fenster auf! Monika, Dieter, seid ihr da?» – «Ja, wir sind hier!», schreit Monika, und ich: «Sie ist verrückt geworden! Vati, hilf uns, hol uns hier raus!» – «Ich ersticke, ich ersticke!» – «Macht verdammt noch mal das Fenster auf!» Monika stürzt zum Fenster, reißt es auf, und meine Schwester, als würde sie sich gleich aus dem Fenster stürzen, brüllt auf die Straße: «Ich ersticke, ich ersticke!» Monika schreit die Tür an, hinter der mein Vater steht und die er mit seinem Körper aufzudrücken versucht, und sie brüllt: «Das Fenster ist auf, das Fenster ist auf, Renate stürzt sich gleich auf die Straße! Hilfe, Hilfe!» – «Dann haltet sie fest, haltet sie fest, damit sie sich nichts antut!», brüllt er zurück, und mich brüllt er an: «Dieter, mach die Tür auf, los, macht die Tür auf!» Derweil hat Monika versucht, Renate vom Fenster wegzuzerren, doch die schleudert sie von sich, gegen mich, der vor der Tür steht, ich falle zu Boden und brülle: «Der Schlüssel ist weg, es gibt keinen Schlüssel» – «Dann such ihn gefälligst und schließ verdammt noch mal diese Scheißtür auf!» Inzwischen muss meine Mutter auf dem Flur erschienen sein, denn auch sie beginnt zu schreien: «Renate, was ist los? Hörst du mich? Antworte! Renate, Renate!» Doch Renate steht schon wieder vor dem geöffneten Fenster und brüllt, dass es die gesamte Nachbarschaft hören muss: «Hilfe, ich ersticke! Hilfe, ich ersticke!»
Auf der Straße haben sich an diesem sonnigen und an sich beschaulichen Sonntagmorgen bereits einige Leute versammelt. Ratlos schauen sie nach oben zum Fenster: «Was ist da los?» – «Nicht springen, nicht springen!» – «Ich ersticke, ich ersticke!» Meine Mutter: «Du erstickst nicht, Renate, du erstickst nicht! Beruhige dich!» In diesem Chaos denke ich, dass uns nur der Schlüssel retten kann, und beginne ihn zu suchen. Doch ich finde ihn nicht, und meine Schwester tobt und brüllt weiterhin. Plötzlich! – Was ist das? Ein ungeheurer Schlag kracht gegen die Tür und – Ruhe. Ruhe.
Renate, Monika und ich starren auf die Tür. Was war das?