Sommerleithe. Klaus Weise

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Название Sommerleithe
Автор произведения Klaus Weise
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783939483618



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Rahmen untrennbar verschweißt sein. Wieder ein Schlag. Jetzt bekommen auch Monika und ich es mit der Angst zu tun. Wir beginnen zu schreien: «Hilfe, Hilfe!», und weil auch wir plötzlich keine Luft mehr bekommen, schreien auch wir: «Wir ersticken, wir kriegen keine Luft mehr! Hilfe! Wir ersticken!», und je lauter und verzweifelter unsere Schreie, umso wütender und kraftvoller die Schläge, mit denen mein Vater die Tür zu öffnen versucht. Doch plötzlich änderte er seine Strategie. Er drosch nicht weiter auf das Schloss ein, sondern seine Attacke galt dem Türblatt selber, und nach zwei, drei weiteren Hieben hatte, unglaublich, der Axtkopf die Tür durchschlagen, blieb eingequetscht im Holz stecken und schaute uns an: Was hatte die Axt vor? Es schien, als suchte sie, als müsste sie herausfinden, hätte sie die Tür erst zertrümmert, wem zuerst, wem danach und wem zuletzt sie den Schädel spalten würde. Mir, Renate, Monika?

      Dann nickte die Axt dreimal mit dem Kopf, offenbar hatte sie sich entschieden. Sie wurde aus dem Schlitz, in dem sie steckte, herausgezogen und donnerte mit unglaublicher Wut erneut auf das Holz nieder. Wir schrien. Mit aller Kraft, zu der unsere Stimmen und Körper fähig waren. Jetzt hatten wir alle drei Angst, nicht mehr nur meine Schwester. Doch Angst ist das falsche Wort. Denn Angst hat man vor etwas, das erst noch kommt und nicht schon da ist. Doch das, was wir hatten, war da. Es war in uns. Auch wenn wir es nicht kannten. Es hatte von uns Besitz ergriffen, und wir waren ihm, was immer es war, ausgeliefert. Noch schlimmer: Unser Zustand fütterte das Ungeheuer, vor dem wir uns derart fürchteten, peitschte die Ausgeburt unserer Angst, katapultierte uns in atemlosen Taumel, dass wir herbeisehnten, wovor wir uns fürchteten, damit es endlich verrichte, wovon wir nicht wollten, dass es geschehe, und wovon wir doch wollten, dass es besser sofort geschehe als später: unsere Vernichtung. Der Zustand der uns zerreißenden Kräfte hatte einen Namen. Panik. Besinnungslose, pure Panik.

      Schließlich stand er da, unser Vater, die Axt in den Händen, eingerahmt von zersplittertem Holz, in dem Loch, das er selber aus der Tür herausgedroschen hatte. Unser Vater hatte einen Teil des Wohlstands, den er und meine Mutter unter Mühen und mit kontinuierlichem Fleiß aufgebaut hatten, zertrümmert. Sein Blick war nicht weniger wahnsinnig als der meiner Schwester und der von Monika und mir. Er verhieß nichts Gutes. Die zertrümmerte Tür war erst der Anfang einer unbändigen Zerstörungswut. Seiner. Gleich würde er uns in seiner Rage erschlagen und danach das ganze Haus dem Erdboden gleichmachen. Die Axt fest wie eine Waffe vor seiner Brust in den Händen haltend, brüllte er uns an: «Seid ihr verrückt geworden? Seid ihr völlig verrückt geworden?» Ich dachte, unser Vater sei verrückt geworden, wie er dort vor uns stand. In seiner Brutalität und Unberechenbarkeit; ein Vulkan kurz vor dem erneuten Ausbruch, noch zerstörerischer als der erste. So muss er ausgesehen haben im Krieg, von dem er aber nie anders berichten konnte als mit anekdotenhafter Leichtigkeit und einer Gemütlichkeit in der Stimme des noch einmal Davongekommenen.

      Meine Mutter hat sich durch die zersplitterte Tür gezwängt und umarmt Renate. Und Renate umarmt sie, fest. Und beginnt zu weinen. Und Mutter und Tochter, sich in den Armen liegend, weinen. Mein Vater, noch immer die Axt in den Händen, tritt ans Fenster und schaut zu den Leuten, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite versammelt haben und nicht wissen, ob sie soeben Zeugen eines abscheulichen Familiendramas geworden sind: «Alles in Ordnung. Alles ist in Ordnung. Ich weiß auch nicht, was da passiert ist! Die Kinder hatten sich eingeschlossen und plötzlich keine Luft mehr gekriegt.» Und dann, die Axt zum Beweis aus dem Fenster haltend: «Da musste ich die Tür einschlagen.»

      Meine Schwester. Sie fürchtete sich schon immer vor Vögeln und deren Geflatter. Nie hat sie ein Zimmer betreten, in dem auch nur ein Kanarienvogel frei herumflog. Außer, sie wusste es nicht. Hatte sie ihn entdeckt, schrie sie sofort hysterisch und flüchtete aus dem Zimmer. Meine Mutter fürchtete sich vor Schlangen. Und weil ich meine Mutter liebe, fürchtete auch ich mich vor Schlangen. Und fürchte mich noch immer. Ich mag sie einfach nicht. Ehe man es sich versieht, wird man hinterhältig gebissen und stirbt elendig. Am Gift. Oder ein Python fällt vom Baum, umschlingt deinen Körper und erwürgt dich.

      Meine Schwester, was sie wohl gepackt hatte in ihrer Not? Als sie schrie, sie bekomme keine Luft und müsse ersticken – während sie, die sich vor flatternden Vögeln fürchtete, selber wie ein flatternder Vogel durch ihr Mädchenzimmer flatterte? War es die Hitze, die Mädchen anfällt und sie zu Frauen macht und sie später – so wie meine Mutter sagte, sie habe die fliegende Hitze, von der ich dachte, sie müsse fliehende Hitze heißen – wieder verlässt und sie in einen Zustand versetzt, gegen den der Arzt Tabletten verschreibt, die Brustkrebs verursachen, an dem die Frauen später sterben – so wie meine Mutter? Wollte Renate das Zimmer ihrer Kindheit verlassen, während sie gleichzeitig Angst hatte, es zu verlassen? Ist das bei Frauen so? In diese Richtung gingen meine Fragen, ohne dass ich sie mir so hätte stellen können, damals.

      An diesem Sonntagmorgen gab es bei uns wie üblich zum Frühstück zwei Stück Torte für jeden und anschließend gebratene Eier mit Mettwurst und Kümmel, denn unser Vater behielt lieber den salzigen als den süßen Geschmack im Mund.

      7.

      Die Tage (Those were the days, my friend)

      Die Vorstellung, dass mein Vater mit der Axt die Tür einschlagen musste, weil er sich anders keinen Zutritt in die vom nächtlichen Aus-dem-Fenster-Gucken überhitzte Welt des Kinderzimmers verschaffen konnte, gefällt mir noch heute: der Kampf der Axt gegen die aufschäumenden weiblichen Hormone und ihre Gespinste.

      Unsere Gesellen wussten immer, wann «unsere Frauen» und später auch Renate, die eine Lehre zur Fleischfachverkäuferin in der elterlichen Metzgerei begonnen hatte, ihre Tage hatten. Ich wusste nicht, was es heißt, die Tage zu haben. Männer hatten nie ihre Tage. Oder sie hatten sie immer. Sie waren gut gelaunt, schlecht gelaunt, verkatert, je nachdem. Es musste sich also um eine spezifisch weibliche Angelegenheit handeln, die ich nicht verstand. Genauso wenig konnte ich mir einen Reim machen auf einen Spruch, dem ich im von mir geliebten Werbefernsehen begegnet bin und der ein großes Geheimnis barg, das weder ich noch mein Freund Paul, der im selben Haus wohnte wie wir und dessen Eltern anscheinend das Geld für einen eigenen Fernseher fehlte, enträtseln konnten:

      «Camelia plus – gibt allen Frauen Sicherheit und Selbstvertrauen.»

      Was ist das, und was hat es zu bedeuten? Hatte es mit Kamillentee zu tun, und wenn es heißt: «plus», mit einem besonders starken? Oder Kamillentee mit einem Zusatz? Aber mit welchem? Mit Traubenzucker? Und wieso sollten nur Frauen davon profitieren? Kamillentee tranken wir doch alle sehr oft abends. Und wenn ich ein Gerstenkorn am Auge hatte, was häufig der Fall war, und es nicht geholfen hatte, durch das Astloch eines Holzstückes zu schauen, dann musste ich mein entzündetes Augenlid mit Kamillentee spülen. Wieso sollte also Camelia plus ausschließlich bei Frauen Anwendung finden und nur ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen geben? Auch enthielt die Werbung keinen versteckten Hinweis auf des Rätsels Lösung, den Paul und ich übersehen hatten, denn der wäre unseren forschenden Blicken irgendwann aufgefallen. Also blieben wir allein mit den zufriedenen Gesichtern der Frauen im Schwarz-Weiß-Fernsehen der frühen 60er Jahre.

      Es musste aber etwas mit dem Schaum in dem Wasserbecken zu tun haben, in dem die Fleischwürste schwammen, damit sie frisch blieben und nicht austrockneten. Denn jedes Mal, wenn sich unbeabsichtigt Schaum auf der Wasseroberfläche bildete, sagten die Gesellen, eine der Verkäuferinnen, die ja ins Wasser greifen mussten, um die Fleischwurstringe zu fassen und herauszuholen, habe ihre Tage. Dieser Schaum im Wasserbecken der Fleischwürste, ob mit oder ohne Knoblauch, schien auch der Geheimpfad zu sein zu einem weiteren ominösen Wort: Die Binde. Bindfäden, auch Wurst- oder Metzgergarn genannt, gab es viele in der Fleischerei, rote, grüne, blau-weiße, naturfarbene und bunt gekringelte. Sie wurden benutzt zum Aufhängen der Ware und zur Markierung unterschiedlicher Zubereitung, also ob zum Beispiel die Fleischwust, der man es ja nicht ansehen konnte, mit oder ohne Knoblauch hergestellt war. Aber die Binde? Die Binde war ein Geheimnis, das ein Junge meines Alters sich nicht erklären konnte. Er – ich – konnte nur darüber spekulieren, und irgendwie landeten die Spekulationen immer wieder in der Hecke hinter unserem Bolzplatz, in der Hecke der irgendwie verschmierten Geheimnisse.

      Wir spielten viel Fußball. Zu viert, zu fünft, zu sechst, zu siebt, meist auf