Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

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Название Der Himmel über Nirvana
Автор произведения Charles R Cross
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454243



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vor „freiberuflich“, wie er sich ausdrückte, „ein anständiger Mensch zu sein“. Es gab noch weitere Parallelen zum Leben bei den Reeds: Die Shillingers aßen gemeinsam zu Abend, verbrachten Zeit als Familie miteinander und unterstützten die musikalischen Bemühungen ihrer Söhne. Kurt wurde in die Familiengemeinschaft eingebunden und bekam, wie alle anderen auch, Aufgaben im Haushalt zugeteilt, die er ohne Murren erledigte, dankbar, bei etwas dabei zu sein. Die Shillingers hatten etwas wenig Platz im Haus, weil sie selbst schon sechs Kinder hatten, darum nächtigte Kurt auf einem Sofa im Wohnzimmer und verstaute seinen Schlafsack tagsüber dahinter. Er verbrachte Thanksgiving und den Weihnachtsmorgen 1985 bei den Shillingers. Lamont kaufte Kurt eine neue Levi’s, die er auch dringend brauchen konnte. Später am Weihnachtstag besuchte Kurt Wendy, die vor kurzem seine Halbschwester Brianne zur Welt gebracht hatte. Das neue Baby hellte die Stimmung im Haus der O’Connors etwas auf, über eine Rück­kehr von Kurt wurde aber nie gesprochen.

      Im Dezember 1985 begann Kurt einige der Songs zu proben, die er geschrieben hatte; Dale Crover stand am Bass, Greg Hokanson saß an den Drums. Es war seine erste richtige Band, sie hießen Fecal Matter. Er konnte Crover überreden, ihn zu Tante Mari zu begleiten, um ein paar der Songs aufzunehmen. „Er kam mit einem dicken Notizbuch voller Texte“, erinnerte sich Mari. „Ich zeigte ihm, wie man dies und das einstellte, wie man die Bandmaschine bediente, und er machte sich gleich an die Arbeit.“ Kurt nahm zuerst die Stimme auf, dann spielten er und Crover Gitarre, Bass und Drums über seinen Gesang. Mari machte sich ein bisschen Sorgen wegen des Texts zu „Suicide Samurai“, tat ihn dann aber als typisches Teenagergedöns ab. Außerdem nahmen die Jungs „Bambi Slaughter“ auf (die Geschichte eines Jungen, der die Eheringe seiner Eltern versetzt), „Buffy’s Pregnant“ (womit Buffy aus der TV-Serie Lieber Onkel Bill gemeint war) sowie die Songs „Downer“, „Laminated Effect“, „Spank Thru“ und „Sound of Dentage“. Zurück in Aberdeen, zog Kurt mit dem Tapedeck der Shillingers Kopien der Aufnahmen. Das Band in der Hand zu halten war für ihn ein greifbarer Beweis dafür, dass er Talent hatte – es war das erste Mal, dass die Musik ihm so etwas wie Selbstwertgefühl gab. Trotzdem lösten Fecal Matter sich auf, ohne auch nur einen einzigen Gig gespielt zu haben.

      Trotz der widrigen äußeren Umstände verlief Kurts innere, künstlerische Entwicklung rasant. Nach wie vor drehte er Filme mit der Super-Acht-Kamera. In einem kurzen Stummfilm aus dieser Zeit sieht man Kurt in einem T-Shirt des Radiosenders KISW („Seattle’s Best Rock“) durch ein verlassenes Haus gehen, während er versucht, dabei mit seiner Panoramasonnenbrille wie Jean-Paul Belmondo in Atemlos auszusehen. In einem anderen setzt er eine Mr.-T.-Maske auf, um dann scheinbar eine riesige Menge weißen Pulvers wegzusniffen, das wie Kokain aussieht – ein Spezialeffekt, den er mit Mehl und einem Staubsauger umsetzte. Zwei Dinge hatten seine Filme durch die Bank gemein: Sie waren einfallsreich und – wie alles, was Kurt kreierte – zu einem gewissen Grad verstörend. In diesem Frühjahr versuchte er ein Geschäft daraus aufzuziehen, Skateboards mit Graffiti zu bemalen. Er schlug sogar Flugblätter in der Stadt an, aber nur ein einziger Teenager ließ sich sein Skateboard von ihm bemalen – er wollte einen explodierenden Kopf. Kurt kam dem Wunsch nur allzu gern nach – dieses Motiv war seine Spezialität –, aber der Kunde bezahlte nie, und das Unternehmen schlief ein.

      Am 18. Mai 1986 kümmerte sich wieder die Polizei von Aberdeen um Kurt. Um halb ein Uhr nachts wurde eine Streife zu einem verlassenen Haus in der West Market Street 618 gerufen, und Officer John Green sah Kurt, offenbar unter dem Einfluss von Drogen oder Alkohol, auf einem Dach herumklettern. Green erinnerte sich, Kurt sei „ein netter Junge“ gewesen, wenn auch „etwas verängstigt“. Kurt bekam eine Anzeige wegen Hausfriedensbruchs und – er war ja noch minderjährig – Alkoholbesitzes. Als die Polizei feststellte, dass gegen Kurt noch eine Anzeige wegen Sachbeschädigung offen stand (er hatte das Bußgeld für die Graffitigeschichte nie bezahlt) und er schon einmal in Seattle wegen eines Alkoholdelikts festgenommen worden war, nahmen die Polizisten ihn in Gewahrsam; für die Kaution fehlte ihm das Geld. Die Zelle, in die man Kurt steckte, schien direkt aus einem alten Gangsterfilm zu stammen: Eisengitter, Betonboden, keine Lüftung. Auf seinem Aussageformular führte Kurt unter dem Punkt „gesundheitliche Probleme“ einen „schlimmen Rücken“ an, in seiner Selbstbeschreibung stand: „Neunzehn Jahre alt, einundsechzig Kilo, einhundertfünfundsiebzig Zentimeter, braunes Haar und blaue Augen.“ Er hatte sowohl bei der Größe als auch beim Gewicht übertrieben.

      Mit dem einen Anruf, der ihm zustand, rief er Lamont Shillinger an und bat ihn, die Kaution für ihn zu zahlen. Lamont kam zu dem Schluss, dass seine Elternrolle Kurt Cobain gegenüber weit genug gegangen war und dass Kurt selbst zusehen sollte, wie er aus diesem Schlamassel wieder herauskam. Lamont besuchte ihn am nächsten Tag, und obwohl das gegen seine religiöse Überzeugungen ging, kaufte er Kurt eine Stange Zigaretten. Weil Kurt nicht in der Lage war, die Kaution aufzubringen, blieb er acht Tage im Knast.

      Jahre später stilisierte Kurt um dieses Erlebnis eine Legende, die sowohl seine Intelligenz als auch seine Anpassungsfähigkeit zeigte. Während seiner Zeit im Knast, so Kurt, habe er pornografische Bilder als Onaniervorlagen für die anderen Häftlinge gezeichnet. Seine hausgemachten Pornos seien derart gefragt gewesen, dass er sie gegen Zigaretten eintauschen konnte, und es hätte nicht lange gedauert, da hätten sich die Zigarettenvorräte des ganzen Trakts in seiner Zelle angesammelt. Spätestens an diesem Punkt, so Kurts Geschichte, sei er „der Typ“ gewesen, „der den Laden schmiss“. Diese frei erfundene Geschichte traute er sich nur Leuten zu erzählen, die ihn nicht kannten; seine Freunde in Aberdeen erinnern sich noch heute, wie viel Angst Kurt all die Gefängnisfilme eingejagt hatten, die er über die Jahre gesehen hatte, und dass er die ganze Woche nicht ein einziges Wort mit einem seiner Mithäftlinge zu wechseln wagte.

      Kurts Zeit bei den Shillingers neigte sich dem Ende zu. Er war nun ein Jahr lang bei ihnen gewesen, und mit seinen neunzehn Jahren – ein gutes Stück über das Alter hinaus, in dem ein junger Mensch selbstständig werden sollte – weder Blutsverwandter noch offizielles Pflegekind der Familie. Immer öfter stritt er sich mit Eric Shillinger, dessen Ansicht nach er nun wirklich lange genug bei ihnen gewesen war. Einmal fuhren die Shillingers ohne Kurt in einen Wochen­end-Kurzurlaub und mussten bei ihrer Rückkehr feststellen, dass Kurt irgendwie ihre beiden Hunde dazu gebracht hatte, auf Erics Bett zu kacken. Aber diese Schmähung war noch nicht einmal der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Der fiel eines Abends im August 1986, als Eric und Kurt wegen einer Totino’s-Minipizza in Streit gerieten. Allen Berichten nach zu urteilen war dies die heftigste Auseinandersetzung, in die Kurt je in seinem Leben geraten war, er ging sogar mit einem massiven Stück Holz auf Eric los. „Ich habe Eric am nächsten Tag gesehen“, erinnerte sich Kevin Shillinger, „er hatte ein blaues Auge. Und Kurt hatte zwei.“ Kurt verließ das Haus noch am selben Abend, das Gesicht verschwollen, und zog sich in den Übungsraum der Melvins zurück. Am nächs­ten Tag gab er Steve zehn Dollar, damit der ihm seine restlichen Sachen bei den Shillingers abholte und zu Crovers Haus brachte. Kurts Leben schien nunmehr nach dem mittlerweile sattsam bekannten Schema Intimität – Konflikt – Ausweisung – Isolation abzulaufen.

      Einer der wenigen Lichtblicke blitzte auf, als Krist Novoselic Interesse zeigte, eine Band zu gründen. Krist war einer der Ersten gewesen, denen Kurt sein Fecal-Matter-Tape anvertraut hatte. „Er hatte so ein kleines Demotape, auf dem auch ‚Spank Thru‘ war“, erinnerte sich Krist. „Ich fand, das war ein richtig guter Song.“ Krists Freundin Shelli Dilly war schon seit der Highschool mit Kurt befreundet, und die beiden boten Kurt an, er könne hinter dem Haus in Krists VW-Bus schlafen. „Ich sah immer zu, dass er genug Decken hatte, damit er uns nicht erfror“, sagte Shelli. Außerdem gab sie ihm umsonst etwas zu essen, wenn er bei dem McDonald’s vorbeikam, in dem sie arbeitete.

      An einem Spätnachmittag Anfang September 1986 hörte Hilary Richrod, Bibliothekarin bei der Aberdeen Timberland Library, ein Klopfen an ihrer Haustür. Sie spähte durchs Schlüsselloch und sah einen hoch aufgeschossenen Jungen mit roten Augen und Kurt, den sie erkannte – er verbrachte des Öfteren seine Nachmittage in der Bibliothek, las oder schlief. Ihr war nicht recht wohl beim Anblick dieser beiden schrägen Typen vor ihrer Tür, in einer Stadt, in der Einbruch und Raub an der Tagesordnung waren. Trotzdem machte sie auf. Sie zuckte zusammen, als Kurt die Hand unter seine Jacke schob, aber was er da zum Vorschein brachte, war eine kleine Taube, deren Flügel gebrochen war. „Sie ist verletzt und