Der Himmel über Nirvana. Charles R Cross

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Название Der Himmel über Nirvana
Автор произведения Charles R Cross
Жанр Изобразительное искусство, фотография
Серия
Издательство Изобразительное искусство, фотография
Год выпуска 0
isbn 9783854454243



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herauszustellen. Außerdem unterschieden sich die beiden Männer in ihren Ansichten über den Umgang mit Frauen. „Pat war ein Schürzenjäger“, sagte Kim, „und Kurt eben nicht. Kurt war Frauen gegenüber ausgesprochen respektvoll, auch wenn er nicht viele Freundinnen hatte. Er suchte jemanden, in den er sich verlieben konnte.“ Endlos belehrte Pat Kurt, ein Mann müsse ein Mann sein und sich auch wie ein Mann verhalten. Wenn Kurt Pats Maßstäben nicht gerecht wurde, beschimpfte der ihn als „Schwuchtel“. Eines Sonntags im April 1984 hackte er besonders vehement auf dem Sohn seiner Freundin herum: „Warum bringst du eigentlich nie ein Mädchen mit nachhause?“, fragte er Kurt. „Als ich in deinem Alter war, gaben sich die Mädels bei mir den Bettzipfel in die Hand.“

      Mit dieser Perle männlichen Rats im Hinterkopf ging Kurt auf eine Party. Dort traf er zufällig Jackie Hagara. Als sie und ihre Freundin Shannon sich zu gehen anschickten, schlug Kurt vor, sie könnten doch zu ihm nachhause mitkommen – vielleicht sah er hier eine Möglichkeit, Pat etwas zu beweisen. Jedenfalls lotste er sie heimlich und leise nach oben, ohne die Erwachsenen zu stören. Shannon war ziemlich betrunken, kippte auf dem Bett im Spielzimmer, durch das man in Kurts Zimmer kam, zur Seite und schlief sofort ein. Da ihre Freundin nicht mehr in der Lage war, nachhause zu gehen, sagte Kurt zu ­Jackie: „Du kannst hier pennen.“

      Und mit einem Mal war der Augenblick gekommen, auf den Kurt gewartet hatte. So lange schon hatte er sich danach gesehnt, seine halbwüchsigen Sexfantasien hinter sich zu lassen und seinen Klassenkameraden an der Highschool ohne Flunkern verkünden zu können, dass er keine Jungfrau mehr war (wie die meisten Jungs in seinem Alter log er seinen Freunden in dieser Angelegenheit bereits seit einigen Jahren etwas vor). Aufgewachsen in einer Welt, in der Männer sich – abgesehen von dem gelegentlichen Klaps auf die Schulter – nur selten berührt sahen, hungerte er danach, die Haut eines anderen Menschen an der seinen zu spüren. In Jackie hatte er dafür nun eine mehr als willige Partnerin gefunden. Obwohl erst fünfzehn, hatte sie bereits Erfahrungen gesammelt, und an dem Abend, an dem sie in Kurts Zimmer landete, befand sich ihr fester Freund gerade in Polizeigewahrsam. Sie wusste, was als Nächstes passieren würde, als sie mit Kurt in dessen Zimmer ging. Jackie erinnerte sich später an einen Augenblick, als ihre Blicke sich trafen und das Verlangen zwischen ihnen anschwoll wie ein auf Touren kommender Motor.

      Kurt machte das Licht aus, die beiden zogen sich aus, sprangen aufgeregt ins Bett und hielten einander fest. Es war das erste Mal, dass Kurt eine ganz und gar nackte Frau in den Armen hatte – ein Augenblick, von dem er lange geträumt hatte, ein Augenblick, den er sich als halbwüchsiger Onan in eben diesem Bett ausgemalt hatte. Jackie begann ihn zu küssen. Und in dem Augenblick, als ihre Zungen sich berührten, flog die Tür auf, und Kurts Mutter platzte herein.

      Wendy war alles andere als begeistert darüber, ihren Sohn mit einem nack­ten Mädchen im Bett zu sehen, ganz zu schweigen davon, dass nebenan ein offenbar ohnmächtiges zweites Mädchen lag. „Mach, dass du rauskommst!“, schrie sie. Sie war nach oben gekommen, um Kurt auf das Blitzen aufmerksam zu machen – dass draußen ein gewaltiges Gewitter tobte, war dem jungen Liebespaar völlig entgangen –, und fand ihren Jungen mit einem Mädchen im Bett. „Scher dich verdammt noch mal aus dem Haus!“, schrie sie, als sie die Treppe wieder hinunterpolterte. Pat hielt die ganze Zeit über den Mund, weil er wohl wusste, dass jede Bemerkung seinerseits Wendy nur noch mehr auf die Palme bringen würde. Kurts Schwester Kim hörte den Radau und kam aus ihrem Zimmer. Sie sah Kurt und Jackie einem bewusstlosen Mädchen Schuhe anziehen. „Was ist denn hier los?“, fragte sie. „Wir gehen“, sagte Kurt. Er und Jackie schleppten Shannon die Treppe hinunter und traten hinaus in einen der schwersten Gewitterstürme des ganzen Jahres.

      Als Kurt und seine beiden Begleiterinnen sich auf den Weg die First Street hinunter machten – die frische Luft hatte die betrunkene Freundin wieder auf die Beine gebracht –, begann es zu regnen, und obwohl das nach einem schlechten Omen aussah, sollte Kurt seine Jungfräulichkeit noch vor Sonnenaufgang verlieren. Er zitterte sichtlich, seine tobenden Hormone brodelten in einem Gemisch aus Zorn, Scham und Angst. Es war erniedrigend gewesen, sich vor Jackies Augen wieder anziehen zu müssen, noch dazu mit seiner Erektion. Wie schon bei seiner Begegnung mit dem zurückgebliebenen Mädchen prallten in ihm Lust und Scham aufeinander – ein hoffnungslos verworrenes Knäuel von Emotionen.

      Sie gingen zum Haus von Jackies Freundin, und kaum waren sie durch die Tür, kam auch schon Jackies Freund hinterdrein, den die Polizei gerade hatte laufen lassen. Jackie hatte Kurt vor der Gewalttätigkeit ihres Lovers gewarnt, und um eine Konfrontation zu vermeiden, gab Kurt sich als der Freund des anderen Mädchens aus. Als Jackie und ihr Freund weg waren, verbrachten Kurt und das andere Mädchen, Shannon, schließlich die Nacht zusammen. Es war nicht gerade der tollste Sex, so jedenfalls erzählte sie es später Jackie, aber es war Verkehr, und das war alles, was Kurt gewollt hatte. Er war endlich durch die Tür getreten, die große vaginale Pforte, und brauchte in sexueller Hinsicht nicht länger eine Lüge zu leben.

      Kurt verließ das Haus früh am nächsten Morgen, um im ersten blassen Tageslicht durch Aberdeen zu spazieren. Der Sturm hatte sich verzogen, die Vögel zwitscherten, die ganze Welt erschien ihm lebendiger als zuvor. Stundenlang lief er durch die Stadt, ließ sich alles durch den Kopf gehen, wartete, dass die Schule anfing. Er beobachtete den Sonnenaufgang und fragte sich, in welche Richtung sein Leben wohl gehen würde.

      –5–

      DIESER WILLE DES INSTINKTS

      Aberdeen, Washington, April 1984 bis September 1986

      Ich finde ihn erstaunlich, diesen Willen des Instinkts.

      – Aus dem Text von „Polly“, 1990.

      An jenem Montagmorgen lief Kurt an seinen Fingern schnuppernd durch Aberdeen. Um den Akt noch einmal zu erleben, brauchte er sich nur die Finger in die Hose zu stecken und daran zu riechen – ihr Geruch war nach wie vor da, geradezu berauschend für jemanden, der von Gerüchen regelrecht besessen war wie er. Er begann bereits zu vergessen, dass seine sexuelle Initiation eine veri-­table Katastrophe gewesen war, und machte in seiner Erinnerung daraus einen Triumph. Die tatsächlichen Umstände spielten keine Rolle – lausiger Sex hin oder her, er war keine Jungfrau mehr. Als Romantiker, der er im Grunde seines Herzens war, ging er davon aus, dass seine erste sexuelle Begegnung nur der Beginn weiterer vergnüglicher Stunden mit dem Mädchen sein würde, dass er die Erwachsenenphase seines Sexuallebens eingeleitet hatte und Sex von nun an ein Balsam sein würde, auf den er bauen konnte wie auf Alkohol oder Pot, um sich seinem tristen Los zu entziehen. Auf dem Weg zur Schule stahl er eine Blume aus einem Garten. Jackie sah Kurt mit einem schüchternen Grinsen auf die Raucherecke vor der Schule zukommen, mit der einen Rose in der Hand, und sie dachte, sie sei für sie, Kurt aber überreichte sie dem Mädchen, mit dem er geschlafen hatte, das so gar nicht beeindruckt war. Kurt kapierte einfach nicht, dass Jackie sich in ihn verliebt hatte. Dem anderen Mädchen aber war seine Taktlosigkeit und Unbedachtheit peinlich, und die Blume genierte sie nur noch mehr. Das Ganze war eine schmerzliche Lektion, und einen so sensiblen Menschen mit dem Bedürfnis nach Liebe wie Kurt verwirrten die Komplikationen, die ein erwachsenes Sexualleben mit sich brachte, nur noch mehr.

      Nach der Schule gab es Dringenderes zu erledigen; ganz obenan stand die Suche nach einer Wohnung. Buzz Osborne fuhr mit ihm nachhause, um seine Sachen zu holen. Wie Kurt schon geahnt hatte, unterschied sich dieser Krach mit seiner Mutter von den anderen davor; als sie nachhause kamen, war sie nach wie vor fuchsteufelswild. „Seine Mutter hat sich total aufgeführt, sie schrie rum, was für ein Loser er sei“, erinnerte sich Osborne. „Er hat nur immer wieder gesagt: ‚Okay, Mom, okay.‘ Sie hat klargestellt, dass sie ihn nicht mehr im Haus haben wollte.“ Als er seine über alles geliebte Gitarre und den Verstärker zusam­menklaubte und seine Klamotten in ein paar Müllsäcke stopfte, begann für Kurt, physisch wie emotionell, die endgültige Flucht vor seiner Familie. Er war schon öfter davongelaufen, und schon kurz nach der Scheidung seiner Eltern war ihm Rückzug zur Gewohnheit geworden, aber fast immer war es seine Entscheidung gewesen. Diesmal war er machtlos, und der Gedanke, wie er über die Runden kommen sollte, machte ihm aufrichtig Angst. Er war siebzehn Jahre alt, im dritten Highschooljahr, machte aber die meiste Zeit blau. Er hatte noch nie einen Job gehabt, und seine ganzen Habseligkeiten steckten in vier Müll­säcken. Es war klar für ihn, dass er