Название | Der Himmel über Nirvana |
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Автор произведения | Charles R Cross |
Жанр | Изобразительное искусство, фотография |
Серия | |
Издательство | Изобразительное искусство, фотография |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783854454243 |
Sieben Jahre später sollte er über diese Zeit einen Song mit dem Titel „Something In The Way“ schreiben. Dieses „Etwas“ wird in dem undurchsichtigen Text nicht näher erklärt, aber es besteht wenig Zweifel daran, dass er es war, der da im Weg war. Aus dem Text geht hervor, dass der Sänger unter einer Brücke lebt. Wenn man Kurt um eine Erklärung bat, erzählte er immer die Geschichte, er sei zuhause rausgeworfen worden, von der Schule abgegangen und schließlich unter der Young Street Bridge gelandet. Diese Geschichte sollte schließlich einer der Ecksteine seiner Starbiografie werden, mit das stärkste Element von Kurts hausgemachter Mythologie, jenes Detail, das noch in der letzten Kurzbiografie, die irgendwo über Kurt geschrieben wurde, Erwähnung fand, und wenn sie nur einen Absatz lang war: Dieser Junge war so ungeliebt, dass er unter einer Brücke leben musste! Das war ein ebenso finsteres wie kraftvolles Bild, und es fand umso größere Resonanz, als Nirvana groß herauskamen und in Magazinen Fotos von der Unterseite der Young Street Bridge erschienen – in all ihrer widerlichen, stinkenden Pracht. Ein Troll, so konnte man angesichts dieser Fotos meinen, könnte unter so einer Brücke gehaust haben, aber doch unmöglich ein Kind. Die Brücke war gerade mal zwei Blocks vom Haus seiner Mutter entfernt, eine Entfernung, die, so Kurt, nicht mehr zu überbrücken war.
Die „Brückengeschichte“ war, wie schon die Episode „Gewehre gegen Gitarren“, von Kurt reichlich ausgeschmückt worden. „Er hat nie unter dieser Brücke gelebt“, beteuerte Krist Novoselic, den Kurt in diesem Jahr auf der Schule kennen gelernt hatte. „Er hing da rum, sicher, aber es war unmöglich, an dem schlammigen Ufer zu wohnen, nicht bei dem ständigen Auf und Ab von Ebbe und Flut. Das war reiner Revisionismus seinerseits.“ Seine Schwester ist derselben Überzeugung: „Er hat nicht unter der Brücke gelebt, nie und nimmer. Die Brücke war ein Treff, wo die Kids aus dem Viertel rumhingen und kifften, das ist alles.“ Wenn Kurt auch nur eine Nacht unter irgendeiner von Aberdeens Brücken verbracht haben sollte, so argumentieren Einheimische, dann unter der Sixth Street Bridge, eine weit größere Brücke eine halbe Meile weiter. Sie erstreckt sich über einen kleinen Canyon und wird von Aberdeens Obdachlosen frequentiert. Aber selbst in dieser Umgebung kann man ihn sich kaum vorstellen: Kurt war eine Heulsuse reinsten Wassers, und nur die wenigsten Heulsusen hätten wohl einen Frühling im Freien in Aberdeen überlebt, wo um diese Jahreszeit täglich geradezu monsunartige Regenfälle niedergehen. Trotzdem hat die Brückengeschichte ihre Bedeutung, und sei es nur deshalb, weil Kurt sie so oft und nachdrücklich erzählte. Irgendwann muss er wohl angefangen haben, sie selbst zu glauben.
Die Wahrheit darüber, wo er in dieser Zeit seine Tage und Nächte verbrachte, ist bitterer als selbst Kurts Brückenversion. Seine Odyssee begann auf Dale Crovers Veranda, wo er – eingerollt wie ein Kätzchen – in einem Karton schlief, der einmal eine Kühlschrankverpackung gewesen war. Als er den Leuten dort zu viel wurde, kamen ihm sein Einfallsreichtum und seine Gerissenheit zugute: Es gab in Aberdeen eine Menge alter Wohnblöcke mit Zentralheizung in den Fluren, und dorthin zog er sich nachts meist zurück. Er schlich sich spätabends ein, suchte sich einen breiten Flur, schraubte die Birne der Deckenlampe heraus und legte sich schlafen; morgens sah er zu, wieder aus dem Haus verschwunden zu sein, bevor die Leute zur Arbeit gingen. Am besten ist dieser Lebensabschnitt in einer Songzeile zusammengefasst, die er einige Jahre später schrieb: „Ich finde ihn erstaunlich, diesen Willen des Instinkts.“ Seine Überlebensinstinkte waren geschärft, sein Wille war stark.
Wenn alle Stricke rissen, ging Kurt mit einem anderen Jungen namens Paul White den Hügel hinauf zum Grays Harbor Community Hospital. Dort schliefen sie dann im Wartesaal. Kurt, der der Verwegenere oder vielleicht auch nur der Verzweifeltere der beiden war, stellte sich frech in die Schlange an der Cafeteria und ließ die Mahlzeiten für irgendwelche erfundenen Zimmernummern anschreiben. „Im Wartezimmer gab es einen Fernseher, da konnten wir den ganzen Tag glotzen“, erinnerte sich White. „Die Leute dort dachten immer, wir warteten auf jemanden, einen Patienten, der krank war oder starb, also stellten sie einem auch keine Fragen.“ Das war denn also die wahre Geschichte hinter der emotionellen Wahrheit von „Something In The Way“ und womöglich die größte Ironie in Kurts Leben – er war wieder dort gelandet, wo alles angefangen hatte, in dem Krankenhaus mit dem tollen Blick über die Bucht, in dem er siebzehn Jahre zuvor zur Welt gekommen war. Und jetzt schlief er dort im Wartezimmer wie ein Flüchtling, klaute in der Cafeteria Brötchen, spielte den untröstlichen Verwandten eines kranken Patienten – und war doch selbst krank vor Einsamkeit.
Nach etwa vier Monaten auf der Straße kehrte Kurt zu seinem Vater zurück. Es fiel ihm nicht leicht, und dass er überhaupt auf die Idee kam, wieder zu einem seiner Eltern zu ziehen, zeigt, wie verzweifelt und am Ende er war. Don und Jenny erfuhren, dass Kurt auf der Straße lebte, und fanden ihn auf einem alten Sofa in einer Garage gleich gegenüber von Wendys Haus. „Er war damals so wütend, auf alles, auf Gott und die Welt, und er wollte, dass jedermann dachte, keiner wollte ihn haben. Und so war es ja letztlich auch“, erinnerte sich Jenny.
Wieder in Montesano, kehrte Kurt in seinen Keller im Haus in der Fleet Street zurück. Die Autoritätsprobleme mit seinem Vater eskalierten – es war, als hätte ihn die Zeit, in der er Don nicht gesehen hatte, in seiner Entschlossenheit nur bestärkt. Allen Beteiligten war klar, dass das Arrangement nicht auf Dauer sein konnte – sie hatten sich einander entfremdet, sie brauchten, ja sie wollten einander nicht mehr. Die Gitarre machte Kurt das Leben erträglich, und er übte täglich Stunden am Stück. Sowohl seinen Freunden als auch der Familie fiel auf, dass er langsam, aber sicher immer besser wurde. „Er konnte jeden Song nachspielen, nach einmaligem Anhören, alles, von Air Supply bis John Cougar Mellencamp“, erinnerte sich sein Stiefbruder James. Die Familie lieh This Is Spinal Tap aus, und Kurt und James sahen sich das Video fünfmal hintereinander an. Es dauerte nicht lange, und Kurt rezitierte ganze Dialoge aus dem Film auswendig und spielte die Songs der Band.
In der Zeit, in der Kurt wieder bei Don und Jenny wohnte, kam es zu einem weiteren Selbstmord in der Familie. Kenneth Cobain, Großvater Lelands letzter verbliebener Bruder, verzweifelte nach dem Tod seiner Frau und schoss sich mit einer Kleinkaliberpistole in die Stirn. Für Leland war dieser Verlust schier nicht mehr zu ertragen. Die Anhäufung tragischer Todesfälle in seiner Familie – seines Vaters, seines Sohnes Michael und seiner drei Brüder – stürzte den bislang eher temperamentvollen Mann in eine tiefe Melancholie. Wenn man davon ausgeht, dass Ernest sich bewusst zu Tode getrunken hat, haben sich alle drei Brüder Lelands das Leben genommen, die anderen beiden hatten sich erschossen.
Kurt hatte diesen Onkeln nie sehr nahe gestanden, aber wie ein Schleier legte sich eine düstere Stille über das Haus; in der Luft lag ein Gefühl, als laste ein Fluch auf der Familie. Seine Stiefmutter versuchte für Kurt einen Job als Gartenarbeiter aufzutreiben, die einzige Branche neben der Holzwirtschaft, in der in Monte Stellen zu haben waren. Kurt mähte ein paar Rasen, langweilte sich aber bald. Ein-, zweimal sah er die Jobanzeigen durch, aber viel hatte Monte in dieser Richtung, wie gesagt, nicht zu bieten. Der größte Arbeitgeber in der Region, das Atomkraftwerk am Satsop, war Pleite gegangen, noch bevor es überhaupt ganz fertig war, was der Stadt eine Arbeitslosenquote von fünfzehn Prozent bescherte, doppelt so hoch wie der Staatsdurchschnitt. Im Hause Cobain kam es zur Krise, als Don Kurt eröffnete, wenn er schon nicht zur Schule gehen oder arbeiten wolle, dann müsse er eben zum Militär. Schon am nächsten Abend lud Don einen Rekrutierungsoffizier der Marine ein, der sich mit Kurt unterhalten