Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов

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Название Der Mann mit den 999 Gesichtern
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895935



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allein als neue Intendantin des Festivals »Greizer Theaterherbst«, sondern machte auch, laut Visitenkarte ganz öffentlich, tipptopp Figur als »Beauftragte des Landrats für Europäische Angelegenheiten«. Sparkasse und Landratsamt waren in umtriebige Hände gelegt, und die neuen politischen Parteien erblühten mit reichlich bewährten Kadern im gehobenen Personal zu schönstem Pluralismus auf allen Ebenen. Zwischen dem Anschluß und 1993 hatten es die Greizer mit drei Bürgermeistern und vier Landräten versucht, und die Umstände dieser flotten Wechsel wie auch einzelne Projekte der so schnell verschlissenen Stadtoberen rückten Greiz gefährlich nahe an die alten Geschichten aus der Stadt Schilda.

      In Sachen Kultur wurden allerhand neue Wege eingeschlagen, häufig populistisch ausgerichtete, sogar ein opulent besetzter Gospelchor schmetterte nun regelmäßig Gottgefälliges so inbrünstig auf die erfreuten Greizer ein, als sollte die obligatorische Gottlosigkeit der zurückliegenden SED-Jahrzehnte mit allerschrillsten Mitteln gesühnt werden. Michel im Vorübergehen am offenen Fenster des Übungssaals der Gosplerer: »O weh, jetzt machen sie’s sich schön, die ehemals Geknechteten – mit Kultur!«

      Die Überbleibsel der ehemals vor Produktivität strotzenden lokalen Textilindustrie hatten die Wendedirigenten einem indischen Unternehmer nicht nur komplett geschenkt, sondern ihm gleich noch einen Haufen Millionen mit dazugegeben, damit er die vereinbarungswidrig demontierten Anlagen zu sich nach Hause schippern und dort neu aufbauen konnte, um schmaddeliges Gelump herzustellen, das er dann extra billig retourschickte.

      Dazwischen, als ein in den zierlichsten Tönungen menschgewordener Lichtblick, der Greizer Landtagsabgeordnete der christlichen Partei. Ein sympathischradikalidealistischer Vollrohrexzentriker, fundamentaler Philanthrop und Liebhaber klassischer Künste, den Edith Sitwell garantiert vom Fleck weg adoptiert hätte und der selbst im an Skurrilitäten kaum armen thüringischen Parlament durch so gut wie monarchistische Brandreden auffiel, in denen er, dekoriert mit echten historischen Ehrenzeichen vom Greizer Hof, dringlichst mindestens die Wiedereinsetzung des Fürstenhauses Reuß in gesamtpolitische Verantwortung postulierte, um dadurch unter anderem die seinerseits mahnend beschworene Vollendung der Zerrüttelung des Abendlandes im letzten Augenblick zu bremsen und weiträumig rückgängig zu machen. Klar, daß auch dieser Herr in Greiz nicht allenthalben Land sehen durfte; Michel nahm ihn, im Privaten ein liebenswürdiger, freundlicher Mann, obwohl er sich nie und nimmer als dessen Gesinnungsgenossen sah, gegen die Fronten der Greizer kategorisch in Schutz: »Seien wir dankbar für ihn und froh, gute Originale gibt’s hier viel zu wenige.«

      An den Horizonten der Greizer Stadtmarketing-Initiative ging funkelnd der Stern eines zu Großem entschlossenen City-Action-Teams auf, und der Schunkelsänger Achim Mentzel mußte zu Ehren des aufschwingenden Gewerbelebens der Stadt von der Ladefläche eines Sattelschleppers herab so feierlich-wuchtig ins Leere hinein sein Bestes geben, daß selbst der Gelassenste nicht mehr wissen konnte, wer oder was ihm mehr leid tun sollte: der mißbrauchte Volkstümelschreihals, sein schütteres Publikum oder die komplett Düpierten, die am Marktplatz weite Fluchten unbesetzt bleibender Biertischreihen errichtet hatten. Michel stand einmal am Rand eines solchen, fast menschenleeren Stadtfestplatzes, blickte zum zwecklos auf einem Laufsteg zu Bumsmusik vom Tonband hin- und herhampelnden Achim Mentzel, hatte nicht mal Lust, sich aufzuregen, und murmelte nur: »Achim Mentzel, ach je.«

      Wer sich in den geräumigen Kellergewölben des gutbürgerlich-biederen Restaurants beim Oberen Schloß wochenends zum Abendessen setzte, konnte durchaus erleben, daß plötzlich um 22 Uhr ein Conférencier zwischen die Eßtische trat, um von nun an zu schmierlappiger Dödelmusik ein umfängliches Unter- und Reizwäschevorführprogramm des »Show-Teams Plauen 2000« zu moderieren: scharenweise junge Männer und Frauen, angetan mit allerhand Korsagen, vorwiegend arschfrei gehaltenen Slips oder »Body« genannten, elastisch eng aufsitzenden, meist hochglänzenden Textilien nach dem Muster von Strampelanzügen fürs erste Lebensjahr. Ich durfte selbst einmal, gemeinsam mit Michel, Michael Etter, Michael Sowa, F. W. Bernstein, Achim Greser, Heribert Lenz, Eugen Egner, Rudi Hurzlmeier und anderen unvorbereitet eine solche Soiree miterleben, bei deren Ouvertüre schon dem guten Ettermichel – Gott hab’ ihn bittschön sehr selig! – beinahe ein Brocken seines just servierten Hirschgulaschs aus dem Mund gefallen wäre und Michael Sowa nur völlig platt stammeln konnte, daß solches sich der Würdigung durch Bildende Künste, selbst stramm zum Komischen hin spezialisierte, weit ins Nichtmehrdarstellbare entziehe, was ihm seine umsitzenden Branchenkollegen, alles Experten der Wahrnehmung und Wiedergabe auch fortgeschritten verbeulter Mental- und Welterscheinungen, augenblicklich beglaubigten.

      Die zu solcher Distanz gegensätzlich ausgeprägte, hochentflammte Hingerissenheit des lokalen Publikums ist gleichermaßen kaum zu schildern. Ihrerseits selbst sehenswert fein herausgeputzte Greizer und Vogtländer, in alle Fehlfarben und Verformungen modischen Vulgärhistorismus verkleidet, applaudierten entzückt: Herren sehr gerne, selbst noch in der Mitte der neunziger Jahre, in wilden Kombinationen furunkulöser Entzündungsfarben von Rotviolett bis Zimtpink, Sakkoärmel flott aufgekrempelt, leuchtend schneeweiße Socken unter metallicbordeauxrotquietschlila changierenden Hosenbeinen, wie ihre Damen nicht selten auch im Ornat jenes Bastardstils, den die jodeligen Leitbilder der volkstümlichen Schlagermusik so profund promoten. »Verblendete«, murmelte Michel im diskret mitleidmilden Weggucken, streng adornitisch gemeint.

      Und während in den Festsälen und Wirtschaften dergestalt geschunkelt, gegospelt und eitel arschfrei auf- und abgeschritten wurde, sah man den jüngeren Greizer des Nachts mit seinem neuen Westauto auf der Carolinenstraße drei- bis vierhundert Meter weit Anlauf nehmen, um dann bei röhrendem Vollgas so krachdebil-raketenhaft über die damals noch wild hoppelige Friedensbrücke zu rasen, daß dem gequälten Fahrzeug jeder Boden unter den Rädern flötengehen mußte und die Eckhäuser jenseits der Weißen Elster stets in der Gefahr schwerer Einschläge standen.

      Greiz also erblühte und strotzte, sehr auch konsequenterweise gerade im Prominös-Personellen. Lediglich der ansonsten zuverlässig schillernde und sämtliche Mitmachgelegenheiten ausschöpfende Ibrahim Böhme, einer der gesamtbiographisch allerzerrüttetsten Stars des BRD-DDR-Zusammenwachsgedöhns, der in den siebziger Jahren auch schon mal als Kreissekretär des Kulturbundes in Greiz seine gewichtigen Stasipflichten emsig wahrgenommen hatte, fand so bedauerlicher- wie ungerechterweise in der ja eigentlich wirklich schön gebauten Elstertal-Metropole nicht zu neuen Ufern und Würden.

      Über solches, etliches davon hatte ich ja selbst miterleben dürfen, sprachen wir, während wir oberhalb der Mündung der Greizer Himmelsleiter, um deren Aureole das Plauener Gewitter rücksichtsvoll seinen weiten Bogen zog, saßen und auf die mitternächtlich langsam weniger werdenden Lichter dieses vermaledeiten Saustalls blickten. Weil wir müde geworden waren, fielen unsere Witze über diesen dort unten sich immer stabiler formierenden Rundhorizont voller Trübsal eher matt aus: ob man eine so offenbar kompakt mehrheitlich ins Vulgäre strebende Menschengemeinde eher »Debilianopolis« oder das ganze Land gleich »Kretinolien« nennen sollte – oder am besten gar nix sagen und einfach nur zu- oder weggucken. Oder sich diskret zur Einigelung rüsten. »Ausweg steht einzig im Rückzug ins Private offen«, wie Gotthard Brandler immer wieder hellsichtig anmahnte, um sich dann allerdings doch erst mal noch weiterhin tüchtig fürs Sommerpalais abzumühen.

      Was Michel mir sagen wollte, war auch: Was bei euch nach dem letzten Krieg, neben all dem Ordentlichen und Guten, in Jahrzehnten solid und wackelfest an Blödigkeiten und Schlimmerem aufgerichtet wurde, das schaffen wir hier in Greiz ruckzuck in wenigen Jährchen, und zwar bei optimalem Grad vielseitiger Verwahrlosung! Und das sagte er keineswegs böse-bitter oder gar fidel-spöttisch, besserwisserisch, auch nicht etwa von uneingelösten Hoffnungen enttäuscht, sondern nur unendlich traurig.

      Ich wußte nicht, wie ich ihm hätte widersprechen können, zumal ich von seiner persönlich-sozialstrukturell schwer verschissenen Lage in Greiz wußte. Als ein von »führenden Kreisen« der Stadt tatsächlich weitgehend Geächteter hatte er sich dort durchzuschlagen, nachdem den Greizern irgend jemand zugerufen hatte, daß Michel im »westdeutschen« Satiremagazin Titanic unter dem Serientitel »Aus den Kolonien« ein paar sachte formulierte Anekdoten aus dem Nachwendegewusel seiner Heimatstadt veröffentlicht hatte.

      Selbst hatte ich schon mehrfach dichte Ausdünstungen dieser Front gegen Michael Rudolf wahrnehmen müssen. Bei einer Vernissage im Sommerpalais