Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов

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Название Der Mann mit den 999 Gesichtern
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895935



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vorlegt, ebenso wie der Wuppertaler Groteskmaler Eugen Egner (Meisterwerke der Grauen Periode) und der Collagenspezialist Kriki alias Christian Groß (In der Klinik für komisch Kranke), junge Meister der kleinen Form wie Wiglaf Droste (Kommunikaze) und Fanny Müller (Geschichten von Frau K.) ebenso wie der Romantiker Ludwig Tieck (Leben und Taten des kleinen Thomas, genannt Däumchen) und der radikale Aufklärer Johann Karl Wezel (Zwei satirische Erzählungen).

      Viele Jahre sah es nicht danach aus, daß es soweit kommen könnte. Denn Verleger Michael Rudolf (33) mußte in der DDR trotz eines Philosophie-, Geschichts- und Journalistikstudiums als Brauereiingenieur arbeiten. Nach der Grenzöffnung aber kündigte er, volontierte in Berlin bei Wagenbach, hospitierte in Frankfurt bei der Titanic und gründete dann mit Gerd Elmar König (37), der gelernter Dreher ist und später das Leipziger Literaturinstitut Johannes R. Becher absolvierte, den Verlag. Ende 1993 verließ König das Haus wieder, um sich verstärkt eigenen Zeitschriftenprojekten zuzuwenden.

      Obwohl Rudolf wie König den Verlag zunächst nur nebenbei betrieben und sich durch eigene Schriftstellerei ernährten, macht man schon seit Herbst 1993 Gewinn. Das nicht zuletzt, weil die beiden heimatverbundenen Herren, die sich in den achtziger Jahren lokalhistorisch betätigt hatten, mit Regionalem wie Burgen, Schlösser und Herrensitze im Vogtland starteten, um rasch zu Geld zu kommen und sich die Aufnahme von Krediten zu ersparen. Im Frühjahr 1992 legten sie dann ihr »erstes richtiges Programm« (Rudolf) vor – Komisches eben in Wort und Bild.

      Dabei ist der Weisse Stein kein typisch ostdeutscher Verlag: Erstens hat er Erfolg, zweitens verkauft er vier Fünftel seiner Produktion im Westen, und drittens gehen gerade die ostdeutschen Autoren weniger gut, weshalb inzwischen auch unter den Autoren die aus dem Westen klar überwiegen. Halbjährlich kommen mindestens drei Titel heraus; da man überwiegend Taschenbücher produziert, kann man preiswert anbieten – obwohl man auf Typographie, Illustration und Ausstattung achtet und eher kleine Stückzahlen auflegt.

      »Groß soll der Verlag nicht werden«, so Rudolf, »sondern überschaubar bleiben. Wunschvorstellung: fünfzehn bis zwanzig Titel jährlich, mit dementsprechender personeller Erweiterung.« Bislang agiert Rudolf, nach Königs Ausscheiden, allein – für das Herbstprogramm bedeutet das sogar sieben Titel, darunter so eigenartige Werke wie angeblich »frühe dramatische Texte für Abiturfeiern« aus der Feder des Titanic-Redakteurs Christian Schmidt und die Nachrichten aus der Welt von gestern von Thomas Palzer, Redakteur der »beinharten Jugendsendung« des Bayerischen Rundfunks namens Zündfunk.

      Zu einem Hauptautor ist das Großtalent Gerhard Henschel aufgestiegen: nach den Moselfahrten der Seele, einer Sammlung von Feuilletons und Polemiken, und der mit viel O-Ton unterlegten satirischen Erzählung Das erwachende Selber über das Psycho- und Guru-Milieu erschienen im Frühjahr gleich zwei neue Titel des Titanic-Redakteurs – zusammen mit Bernstein der Bilderkrimi Die gnadenlose Jagd mit eingelegter CD-Single, auf der der Autor gemeinsam mit seinem Verleger eine Gesangsdarbietung zu Gehör bringt, außerdem, rechtzeitig zur Weltmeisterschaft, das Fußballbuch Supersache!, gemeinsam mit Günther Willen.

      Dieses Buch dokumentiert viel Realkomik rund um das unberechenbare Leder. »Weiterhin wichtig« nämlich sind dem Verleger Rudolf »Bücher, die sich mit komischen Phänomenen der Gegenwart auseinandersetzen, und das durchaus ernsthaft.« Ein Beispiel dafür ist auch Georg Seeßlens Volks Tümlichkeit, eine kritische Analyse nationaler Volkskultur von Volksmusik über Bauerntheater bis hin zu Biertrinken, Stammtisch und Kaffeefahrt.

      So ist Greiz, »die Perle des Vogtlandes«, auf dem besten Weg, eine seriöse Größe auf der Komiklandkarte Deutschlands zu werden. Seit langem trägt dazu das Satiricum bei, ein Karikaturenmuseum mit wertvollen, bis zu dreihundert Jahre alten Schätzen komischer Zeichenkunst und im vergangenen August Schauplatz der ersten Triennale, einer Art deutscher Leistungsschau für Karikatur und Cartoon. Und seit 1991 sorgt eben auch ein Verlag dafür, daß die Lachkultur in Deutschland befördert und das Komische, das im Alltag eine so große Rolle spielt, in der Kunst und Literatur durch Qualitätsarbeit aufgewertet wird: der Verlag Weisser Stein.

       Hannoversche Allgemeine Zeitung, 17. September 1994

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       Gerd Elmar König, Michael Rudolf, Frankfurter Buchmesse, 1993.

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       Zeichnung: F. W. Bernstein.

      REICHLICH ZUMUTUNGEN UND AB UND ZU ETWAS ZU LACHEN – MIT MICHAEL RUDOLF AUF KURZEN WEGEN DURCH DIE WELT

       Dieter Steinmann

       Am Ende erlebt man nur viel, um viel vergessen zu können.

      Walter Calé, 1904

       Geteilt bleibt unser Vaterland, / zwei halbe Schoppen drum zur

      Hand! Laertes Eisenbeiß, 1994

       Ich erinnere mich, daß der Tod meines Vaters erträglicher wurde, weil es Georges Perec in meinem Leben gab.

      Harry Mathews, 1982

      ZUKUNFTSORAKEL IM HEIDEHOF – Es war am 20. Juni 1990, ein Vierteljahr vor Eintritt der Deutschen Demokratischen Republik in die »Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion« mit der Bundesrepublik Deutschland, als ich erstmals selbst eine ziemlich typische Alltagsszene des damals aktuellen deutsch-deutschen Zusammenwachsens miterleben durfte. Für einige Tage hatte ich mich im Dörfchen Bargfeld in der Lüneburger Heide aufgehalten, um in den Archiven der dort ansässigen Arno Schmidt Stiftung zu arbeiten. Am Abend eines kühlen Regentages fielen mir im Schankraum des Gasthofs Bangemann zwei jüngere Herren auf. Sie hatten Wurstplatten und Biergläser vor sich und waren gutgelaunt dabei, es sich schmecken zu lassen. Daran wurden sie allerdings von einem zäh quer durch die Wirtschaft auf sie einredenden Mann beharrlich gestört.

      Unbeirrbar höflich und dezent gaben sie immer mal wieder zu erkennen, daß sie von den Ausführungen dieses vom etwa übernächsten Tisch her halblaut auf sie losschwafelnden offenbar Fremden nur wenig erbaut waren und keinen Wert auf weitere Fortsetzung seines Monologs legten. Diese Reserviertheiten seiner Opfer souverän ignorierend, gab der neben seinem Gerede auch noch recht zügig Zechende in leicht verwaschenem Gefreitenton fast unterbrechungslos Hinweise zum besten, mehrheitlich Belehrungen, Tips, Geschäftsideen, denen er offenbar ein gerüttelt Maß an Belang zumaß. Es ging um Thematiken aus der Welt des Marketings, der Werbung, des »Direct-Sales«, der Großinvestitionen, des Rabattwesens, der Gegengeschäfte und nicht zuletzt der Spesenbewirtschaftung: »… ja, und wenn der Laden dann mal läuft, praktischquasi rundläuft, dann könnt ihr Spesen machen, Spesen bis zum Abwinken, Superhotels, Geschäftsessen und Firmenwagen, Firmenwagen, so dick ihr wollt, wenn ich’s euch sage! Immer ranklotzen, gell, nur immer ranklotzen, nicht kleckern.« Und, ganz besonders wunderbar, vorgeheult in einer Betonung wie von Thomas Gottschalk, der einen Menschen ansagt, der sich hundertmal vom Handstand in den Kopfstand fallen läßt: »Fly like an eagle – or scratch with the chicken, sag’ ich immer, gell, ranklotzen, Hunderttausenderauflage, nur kein’ Kleinkram …«

      Er blickte zwischendurch auch mal kurz zu mir und meinen Begleitern, wackelte ungenau ausdrücklich mit dem Kopf und gurgelte dann teils mühselig, teils fast schwunghaft weiter: »Immer Vollrohr und Vollgas! Ohne Wachstum bist du tot, tot! Jeden Tag einen Schlag mehr, Wachstum, die Kurve muß immer nach oben gehen …« Beim Stichwort »oben« fiel ihm einmal sogar, wie vom Heiligen Geist getreten, etwas noch Wesentlicheres ein. »Herr Ober, noch mal …« Er hielt sein leeres Glas hoch, ließ ploppend und bei leichtem Grimassieren dringlich aufsteigende Verdunstungs- und Verdauungsgase aus seinem Schlund abzischen und wurde selbstverständlich formvollendet