Der Mann mit den 999 Gesichtern. Группа авторов

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Название Der Mann mit den 999 Gesichtern
Автор произведения Группа авторов
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783941895935



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seinen Fall zu guter Letzt vors Gericht brachte. Immerhin sah er sich als Opfer dessen, was andernorts als Körperverletzung verboten ist und zu entsprechenden Ahndungen führen kann. Am zuständigen Gericht allerdings ging die Chose dann zum zweitenmal ins Auge, indem der zur Abrundung seines Biergenusses verdroschene und arg gedemütigte Reisende nun auch noch erfahren mußte, daß man juristischerseits in seinem Fall nicht groß zu Konsequenzen schreiten wolle, da er sein Bier nämlich nun mal an proletarisch geprägtem Ort zu sich genommen habe, in einer Welt, in der man zwar auch allerhand ver- und wegschüttet oder auch mal stehen läßt, aber sicherlich kein Bier, das noch zum Verzehr geeignet erscheint. Das sei nun mal so, praktisch Tradition, da habe auch der Fremde sich zu fügen und anzupassen. Einstellung des Verfahrens aus Gründen offenbarer Geringfügigkeit.

      Dieses Geschichtchen hatte Michel sehr behagt, und es war klar, daß er den Ort dieses Geschehens mit eigenen Augen sehen wolle. So waren wir ins Tal des Todes vorgestoßen und fanden, werktags kurz nach Mitternacht, dort dann allerdings, gemäß der Faustregel vom alles vermasselnden Vorführeffekt, rein gar nichts Bemerkenswertes vor. Zu allem Jammer war besagte Wirtschaft samt ihrem konzeptionell ähnlich orientierten Nachbarinstitut auch noch gerade geschlossen, sozusagen temporär außer Betrieb, und pittoreske Randalierwillige waren auch weit und breit nicht zu sehen, nicht mal zu hören. Mehr enttäuscht als erleichtert, man will schließlich auch mal was erleben und sowieso dem Gast etwas bieten, trottelten wir noch ein paar düstere Altstadtgassen entlang, um bald vor das Schaufenster einer Metzgerei zu geraten, in dem ein Ensemble possierlicher, teils sachte anthropomorphisierter Keramikschweinchen und zwei, drei Rindviehfiguren artig zu beinahe biedermeierlich anmutenden Gruppen traulich solidarischer Wesen arrangiert standen. Von fahlem Licht notdürftig beleuchtet, lungerten diese Dekorationsstücke, Inkunabeln der Tierplastik, so nonchalant-vergammelt zwischen einer Auswahl repräsentativer Wurstwaren herum, als versammele sich Eugen Egnersches Groteskenpersonal zu schwer konspirativem Einsatz. Und mitten zwischen diesen fast epiphanisch aufragenden Vergegenwärtigungen dessen, wovon all das stammt, das es beim Metzger zu kaufen gibt, prangte auch noch auf einem von Kunstblumen umkränzten, leberwurstfarbenen Marmorpodestchen eine leicht protzige, mit ebenfalls goldbräunlich wie Brathendlhaut glänzenden Ringelwülsten garnierte Steingutvase, in der ein prall-dichter Gestrüppstrauch steckte, dessen Verästelungen kleine, noch prallere, satt-fettige Miniwürstchen hielten – wie ein komplett wahnsinnig gewordener Weihnachtsbaum seinen verkehrten Schmuck. Das Ganze stand korrekt versehen mit einem Preisschild: »Wurststräuße, DM 9,80 bis 14,80, ideal zum Bier«.

      »Ideal zum Bier« – ich dachte, den Michel träfe der Schlag. Nach der ernüchternd toten Hose im Tal des Todes entschädigte diese feierliche, beinahe sakrale Installation ihn doch sehr für vergebens erhoffte Abenteuer. Zumal sich die unbedingte Dignität und Aktualität des Vorgefundenen im Handumdrehen verifizieren ließ. Die Überprüfung der Schaufenster einer führenden Wurstboutique ein paar Straßen weiter trug nämlich gleichermaßen Frucht. Auch dort blühten derart flotte Wurststräuße, daß man fast von Bouquets reden mochte, allerdings ohne Verweis auf die anderen Orts so plausibel beschworene Idealität begleitenden Biergenusses. Ich will den Mund nicht zu voll nehmen: aber das, was Michel und ich uns angesichts dieser Wurststraußprächtigkeiten über das trauliche Hand-in-Hand-Wirken von Metzgersmann und Metzgersgattin im Spannungsfeld zwischen Wurstteigkonsistenz und neuzeitlicher Wohn- respektive Präsentkultur zurechtsinnierten, würde heutzutage an jeder Uni geradewegs zu tadelloser Habilitation auf dem Felde avanciertester Gender-Studies führen.

      Und keine drei Tage später rief Michel aus Greiz an. Auch bei ihm daheim standen, wie ums kreuzweise Arschlecken, die Metzgereiauslagen voller feudaler Wurstgebinde in Straußform, alles auf höchstem Niveau. Es lag uns abermals auf der Hand: Hier formierten sich nicht nur ehemals diverse Sparten bodenständigen Handwerks vorwärts zu neuen Horizonten wohlständiger Prosperität im Zeichen eines gesamtdeutschen, vermutlich paneuropäischen Lifestilbewirtschaftens – hier Floristik, da Schlachterei; nein, hier trat in ihre Rechte die Avantgarde des von Kanzler und Preßwurstfreund Dr. Helmut Kohl so flott gestifteten Zusammenwachsens dessen, was in eins gehört. Michel und ich standen innerlich stramm vor dem bonsaiformatigen Idealtypusmodell nahrhaft dünstender und gleichermaßen im Ästhetischen prall florierender Landschaften: einleuchtende Beschwörung hoher Unio mystica alles füglich Seienden aus Metzgershand. Heilig, heilig.

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      In meiner Schilderung der allgemeinen großen Gefährlichkeit des Daseins im sogenannten Tal des Todes hatte ich gegenüber Michael Rudolf nicht übertrieben. Unlängst berichtete Freund Kurt Stephan, ein mir in lokalhistoriographischen Belangen als äußerst zuverlässig bekannter Herr, der seine Kindheits- und Jugendjahre in einem Wohnhaus just am Rande des in Rede stehenden Quartiers erlebt hat, daß sein Bruder in den sechziger Jahren, als es dort noch regelmäßig etwas turbulenter zuging, sicherheitshalber auf dem Fuß kehrtmachte, wenn er bei der Annäherung an seine Heimstatt zwischenmenschlicher Aufrüttelungen vor den diesbezüglich renommierten Kneipen gewahr werden mußte. Er lief dann schnell zum nahen Taxistand, nahm sich eine Droschke und ließ sich, um etliche Ecken herum, die knapp zweihundert Meter bis genau vor seine Haustür fahren, um so auf sicherem Weg den Schutz des Hauses zu erreichen.

      BESONNTE TAGE – Am Vorabend der Eröffnungsfeier zur Greizer Triennale des Jahres 1994 waren schon zahlreich Gäste rund ums Sommerpalais versammelt. Bald traf ich die Autorin Fanny Müller und konnte renommieren: »Ich habe schon die große Zeichnerin Yvonne Kuschel persönlich getroffen, ‚im Fleische’, wie Eugen Egner sagen würde, und die schöne Frau Passig – Anmut und Liebreiz, wohin man nur blickt, wenn ich’s dir sage, und rate mal, mit wem ich mein Appartement teile …« Frau Müller freute sich mit mir, sie ist nämlich eine ausgesprochen kluge Dame mit großem Herzen, mit der man als Mann auch unbedingt erkenntnisträchtig über Frauen reden kann, und hatte sich ebenfalls schon umgesehen: »Ja, und ich habe schon den berühmten Verleger Michael Rudolf leibhaftig kennengelernt!«

      Den traf ich nur Minuten später, und auch er strahlte und sprach: »Ah, die Müller Fanny, meine Autorin, was für eine Freude, und Yvonne und Fritz Tietz, und mit Kathrin müssen wir reden, die muß mir was zum Verlegen schreiben.« Im Weissen Stein war damals nämlich schon Fanny Müllers Debüt, der Erzählungsband Geschichten von Frau K., erschienen, ein Ereignis, dessen Eintritt Michel mir telefonisch beim freudigen Bücherauspacken so gemeldet hatte: »Ein Festtag im Verlegerleben, Fanny Müller, vivat!«, und Kathrin Passig hatte, hier sozusagen als Kollegin von Michel, in Kowalski kurze Prosatexte von ganz erheblicher Prachtentfaltung veröffentlicht, beispielsweise die in schier attisch zu nennendem Ebenmaß erfunkelnde, enorm reife Etüde »Verkommenheit«, ein Lieblingstextchen von Michel.

      1994! Von wegen Kathrin Passigs brillante Erzählung »Sie befinden sich hier«, mit der sie 2006 den Bachmannpreis gleich doppelt gewann, sei der überhaupt »erste Prosatext« dieser Autorin. Da lachen die sprichwörtlichen Hühner.

      ÖNOLOGIE – Ebenfalls, als Michel zum erstenmal die Pfalz besuchte, erlebten wir gemeinsam ein Naturschauspiel, das dem 1992 sich langsam dieser künftigen Profession bewußt werdenden späteren Bierphilologen einen Heidenspaß bereitete. Während wir, aus der Vorderpfalz kommend, in Richtung Kaiserslautern auf der Autobahn wegen einer Baustelle langsam dahinfuhren, kamen wir nahe Neuleinigen an prominenten Weinbergen vorbei, die dort bis knapp an die Straße gepflanzt stehen. Am Rande einer dieser Plantagen ging ein Herr mit seinem Hund spazieren, und dieses Tier war gerade dabei, sein Geschäft, ein größeres, artig zwischen den Rebstöcken der ersten und zweiten Reihe zu verrichten.

      Michel war begeistert: Das war nun mal eindeutig ein Fall höherer Segensstiftung dort, wo der Hund drauf scheißt. Ich hatte ihm eh gerade ein paar Minuten zuvor erzählt, daß neuerdings in südwestdeutschen Lokalen auch weibliche Sommeliers, wir nannten sie zart antikorrektermaßen Sommelieusen, ihren Dienst tun und einem mit ihrem sülzig-blöden Bluffergelaber noch mehr Kopfweh bereiten als mit dem sudeligsten Wein, den sie einem so affektiert einschenken. Eingedenk dieses braven Tiers nun war wunderschön zu phantasieren, wie sortenrein sich dessen Hinterlassenschaft auf allernatürlichsten Wegen in den dort reifenden Jahrgang verstoffwechseln würde und wie leicht man in den kommenden Jahren einen wahrhaft nuancensicheren Weinkenner oder gar -kellner daran erkennen könne, daß er diese