Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

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Название Eigensinn und Bindung
Автор произведения Daniel Hoffmann G.
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641168



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Exegese, mit denen noch 1909 etwa die Geschichtlichkeit der biblischen Genesis-Erzählungen dekretiert wurde.14

      Das Katholische, wie Annette Kolb es sieht, hält nicht geringe Herausforderungen bereit. Immer handelt es sich bei ihm auch um etwas Komplexes, Bewegliches, Schillerndes, und das durchaus im positiven Sinne: „In richtiger Distanz zu dem ewig fluktuierenden Katholizismus zu bleiben ist ja eine so schwere und immerwährende Aufgabe, daß eine ganze Anzahl Katholiken, und gerade die sympathische Sorte, da sie sich nicht lossagen wollen, lieber Scheuklappen anlegen, als über ein so verfängliches und verwirrendes Thema nachzudenken. Und ich begreife sie sehr wohl. Dem Geiste nach ist der Katholizismus etwas in seiner Vollgültigkeit wirklich zu Geheimes und zu Irisierendes.“ Ihn mit „Anachronismen“ (F 191) oder dem bloßen Rückzug auf dogmatische Gewissheiten domestizieren zu wollen, worin seine Leuchtkraft gerade für manche zeitgenössische Intellektuelle bestehe – ausdrücklich genannt wird Paul Claudels Neigung zu statischen Denkmodellen –, heißt ihn in jedem Falle zu verfehlen. Zugleich aber ist in der realen Gestalt der Kirche, wie defizitär im Einzelnen sie sein mag und von wie „sehr merkwürdigen“ Menschen auch immer bevölkert (F 189), der Kern unabgegoltener Verheißung lebendig, die Wesenstiefe und eine nach vorne gerichtete Dynamik miteinander verbindet. Deswegen solle man sich selbst in Zeiten offizieller Engführung des Katholizismus nicht beirren lassen: Hinter einer Gegenwart nämlich, der „wir doch sonst lieber heute als morgen davonliefen“, steht „das Rätsel (...), das wie eine noch ungehobene Monstranz weit hinaus über unser Dasein schimmert. Weil hier ein Seiendes inmitten der ewig zusammenstürzenden Gestalten seinen Bann ausstrahlt.“ (F 194)

      Das „Göttliche“ ist für Annette Kolb „jenseitig“ (SB 144). Aber es hat Spuren im Diesseits hinterlassen. Das katholische Verhältnis zum Irdischen ist daher „nicht nur tributär“ (D 78), sondern bejaht dessen „unendliche und transzendente Hintergründe“ (M 306). Modus solch doppelter Annäherung aber ist die Kunst. „Wozu wäre Kunst, wenn nicht, um zu umschreiben?“ (M 304), fragt Annette Kolb. Mit derjenigen der Antike beginnt für sie demzufolge der „elementare Auftakt der messianischen Zeit“: das Bewusstsein der Herausforderung des geistigen Menschen durch das Geheimnis Gottes, seine Hinordnung auf dieses. „Alle Künste (...) waren von jeher durch den Pulsschlag, oder den Gedanken eminent katholisch. Aber ein so flutendes Meer wurde zum ungespeisten Gewässer verdrängt, das Universalste zum Einschichtigen, die Sache, deren Schlagwort unbegrenzte Elastizität ist, zur verdrießlichen Enge.“ (F 203 f.) Bloße Einforderung „korrekter“ Doktrin jedenfalls wird zur Selbstverhinderung: Darin besteht eine Kritik über die Zeit jener „antimodernistischen“ Defensive hinaus, der sich diese Zeilen verdanken.

      Für Annette Kolb haben gerade die bildenden Künstler, die Dichter und die Musiker das „unrigorose Stichwort“ des Katholizismus „nie verkannt“ (M 306) – aber nicht die Ästhetik selbst, sondern das Mysterium steht hierbei im Vordergrund. Ein Bauwerk wie beispielsweise die Kathedrale von Chartres vermittle daher den „ethischen Eindruck einer aus Stein, Marmor und Glas formulierten Wahrheit, einer Vérité intrinsique, deren Zone jenseits aller Wörtlichkeit liegt“ (M 304). In der vereinseitigten Ratio- und Logozentrik, dem Überhandnehmen des Alltäglichen und Pädagogischen, der Verwandlung der Kirchen zu „Schulsälen“ und ihrer Ausleuchtung mit „Alltagslicht“ (M 305), besteht für Annette Kolb denn auch der eigentlich „leidige Bruch“, der mit der Reformation eintrat, denn, schreibt sie mit Großmut der vorreformatorischen Kirche gegenüber, „über die Notwendigkeit von Reformen war man sich ja einig“ (M 306).

      Unter zukünftiger Perspektive jedenfalls bleiben Selbstkorrektur und Entwicklungsoffenheit unhintergehbar. Einmal spricht Annette Kolb von „einer ehrwürdigen und wetterfesten, aber der Umgestaltung so dringend benötigenden Feste“ (F 189). In jedem Falle bedarf es dafür der Geduld, „weil ja die Vorbedingungen noch nicht geschaffen“ sind (D 77, vgl. 86). Gleichwohl gilt: „Auch für den Katholizismus wird eine neue Stunde schlagen: die von Katharina von Siena so heiß ersehnte ,Reformation‘ steht immer noch aus.“ (M 306)

      Neben und vor Bernard von Brentanos „Theodor Chindler“ (1936) ist Annette Kolbs „Daphne Herbst“ (1928) der katholische Familienroman in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Wie als ein bewusst gesetztes Zeichen für die Versöhnung der Gegensätze heiratet seine Heldin, dem Willen ihres Vaters zuwider handelnd, einen Protestanten. Obwohl sie selbst mit Begriffen des „Heidnischen“ in Verbindung gebracht wird (D 12, 63, 79) und trotz ihrer „Freigeistigkeit“ (D 88), erlebt Daphne tief reichende „religiöse Abenteuer“ (D 44). Sie spricht zwar nicht gern davon, glaubt aber doch „alles“, was das apostolische Bekenntnis fordert (D 87). „Strengste Zurückhaltung“ und „Intimität“ sind ihr wichtiger als öffentliches Zur-Schau-Stellen und ein damit verbundener „Jargon vom lieben Gott (...) und der ewigen Seligkeit“. Mit ihrer religiösen Befindlichkeit sieht die junge Frau sich auf einer Fährte „zur Freitreppe, von wo aus gesehen das Engste, Obskuranteste zum Vieldeutigsten und Kosmischen sich weitet“, das die sichtbare Realität überschreitet und in katholischer Frömmigkeit viele Bezugspunkte hat.

      Eine weitere Spannung ist bezeichnend für die Psychologie und Dialektik eines von Annette Kolb bevorzugten Typus des intellektuell Katholischen angesichts der Moderne: „zu glauben und nicht zu glauben zugleich“ (D 88 f.). Dahinter verbirgt sich letztlich eine Ahnung jenes vielleicht höchsten Paradoxes, auf welches das religiöse Begriffsvermögen zuläuft: „Wer durfte das Recht des Glaubens beanspruchen, der dem anderen das Recht des Unglaubens bestritt?“ (D 78 f.) Unter diesem Blickwinkel ist wahre Religiosität immer größer selbst als ihre Negation, da sie diese einzubegreifen vermag.

      Für ein in die Moderne hinein vermitteltes Christentum

      Im Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende setzen Annette Kolbs Bemühungen um eine neue Verhältnisbestimmung zu ihrem katholischen Erbteil ein. Die Heldin der 1905 entstandenen autobiographischen Erzählung „Torso“ hat ebenfalls eine problematische Schulzeit bei Nonnen hinter sich, die sie der Religion „zu sehr entfremdet“ hatte. Nach Umwegen findet sie am Ende wieder zu ihrem „verlorenen (...) Glauben“ zurück (WN 57) – auf einer neuen Ebene allerdings. Vor ihrem Auge gibt sich ein universaler „Mensch“ und „Gott“ zu erkennen, der „auf unnennbar geheimnisvolle Weise alle Widersprüche in sich aufhob“, weil ihm „nichts fremd war“ (WN 55) und „jede Äußerung auf dem Gebiete des menschlichen Geistes“ zu ihm hin „gravitierte (...). Und von der überschwänglichen Tragweite jenes schlichttönenden Ausspruches: ,In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen‘ wurde sie wie von unendlichen Schallwellen fortgerissen und durchleuchtet.“ (WN 56)

      Mit Emphase wird ein schöpferischer Entwicklungsprozess des Menschen beschworen, dessen „Apotheose“, im Einklang mit der Botschaft Christi, das Endziel der Geschichte ist. Unter christlichem Vorzeichen äußert sich hier ein dynamisches Weltbild von Möglichkeitsräumen, das an Henri Bergsons „Évolution creatrice“ (1907) gemahnt, einen Text, den Annette Kolb zur Vorbereitung eines durch Max Scheler mit dem französischen Philosophen vermittelten Treffens allerdings erst zwei Jahre später liest.

      Während dieser Zeit geraten Vertreter dessen, was seitens der kirchlichen Autorität als „Modernismus“ angeprangert wird, in ihr Blickfeld. Es handelt sich dabei um durchaus verschiedene Bestrebungen, theologische Aussagen mit dem Erkenntnisstand der zeitgenössischen Wissenschaft und Philosophie zu verbinden. In „Das Exemplar“ (dessen Handlung im Sommer 1909 in England spielt) kommt das Gespräch einmal auf den „kürzlich erfolgten“ Tod George Tyrrells (am 15. Juli diesen Jahres), wobei die Protagonistin „sich über die unversöhnliche Haltung des Klerus mächtig ereiferte“ (E 124). Der ehemalige Philosophieprofessor war seiner öffentlichen Kritik an Papst Pius’ X. antimodernistischer Enzyklika „Pascendi“ wegen exkommuniziert worden. Auf dem Totenbett erhielt er zwar bedingungsweise die Sterbesakramente, doch wurde ihm auf Betreiben höchster Stellen ein kirchliches Begräbnis verweigert, weil er keinen formellen Widerruf geleistet hatte.15 Annette Kolbs Mariclée empfindet dieses Vorgehen als skandalös.

      Über die Bedeutung eines anderen Indizierten für sie hat die Autorin 1911 einen Essay verfasst, „Besuch bei Duchesne“ (den sie bis 1954 zweimal neu, teilweise modifiziert, veröffentlicht).