Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

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Название Eigensinn und Bindung
Автор произведения Daniel Hoffmann G.
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641168



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sie besagt“ – und deswegen „so nah der inneren Versenkung, ja der Verzückung gebaut“ (M 305). Gerade die „Objektivität“ des Ritus ist es, welche ihr Gegenteil ermöglicht: die für Annete Kolb so bedeutsame Weite der emphatischen Erfahrung eines Nicht-Wörtlichen, die Schwelle zur Unendlichkeit „geistiger Wonnen“ (D 108). Ein Weiteres kommt hinzu.

      „Alle Künste“, heißt es schon im „Duchesne“-Essay, „strebten seit vielen Tausenden von Jahren an den Schleiern unseres Kultes zu weben“ (F 202). Angesichts des „Niveaus“ der Beuroner Liturgie „nach den ältesten Gebräuchen“ kommt sich Daphne Herbst „ein wenig (...) vor wie in Bayreuth.“ (D 145 f.) Sie spricht von einer „wundervollen Regie (...) sublimster Ordnung“ (D 147). Mehrfach, teilweise sogar wörtlich, wird bei Annette Kolb (für die Richard Wagner ein zentrales Bildungserlebnis war) eine Analogie zwischen dem Messritus und der Formel vom „Kunstwerk der Zukunft“ hergestellt (D 33), wo durch „das Aufgebot aller Künste“ (SB 168, D 146) die Totalität menschlichen Apperzeptionsvermögens angesprochen, ja transzendiert werden soll. Damit ist er reales Zeichen einer anderen Wirklichkeit: „Denn ohne Mystik, ohne sie ist dies nur eine abgeblühte winterliche Welt.“ (SB 169)

      Abseitig ist Annette Kolbs Assoziation keineswegs. Ausgehend von der Gralsfeier im „Parsifal“, als dem „Höhepunkt“ von Wagners „Gesamtkunstwerk“, war sie schon vier Jahre, bevor sie erstmals bei der Autorin zutage tritt, in einer theologischen Fachzeitschrift aufgegriffen worden: Wo, wurde dort gefragt, lernte Wagner das Ideal des Zusammenwirkens aller Künste kennen? „In katholischen Kirchen, im katholischen Kult“, wie sich denn auch im Begriff „,Gesamtkunstwerk‘ (...) das Kultusideal der katholischen Kirche“ subsumieren lasse, das „in der feierlichen Messe“ zum Ausdruck komme.29 Deswegen habe, so Annette Kolb, diese immer „große Anziehungskraft auch auf Andersgläubige“ gehabt (SB 163).

      Was den Protestantismus betrifft, erinnert Annette Kolb in ihrem Text gleich eingangs daran: „Es ist Zeit, alle Feindseligkeiten abzuwerfen, sind wir doch alle Christen.“ (SB 152) Und zur Verteidigung der „Unantastbarkeit der alten Gebräuche“ (SB 159) beruft sie sich nicht etwa auf das Tridentinum, sondern auf Duchesnes, des „Modernisten“, „Origines du Culte Chrétien“ (1902) und „L’Eglise au Ve Siècle“ (1925 [SB 156]). Überhaupt ist das „Albumblatt“ der 84-Jährigen, stärker als ihre früheren Arbeiten, durch ein „impressionistisches“ Vorgehen gekennzeichnet (SB 139), das in unvermittelten Übergängen Verschiedenartiges miteinander verknüpft.

      So erscheint ihr die Lesung der Messe an „einem ganz nah an die Chorschranke gerückten Tisch (...) angesichts der Versammelten“ (SB 156) einmal als „ein schwerer Verstoß“ (SB 157), weil er die „Würde“ des zelebrierenden Priesters, seine „Distanz zur (...) Menge“ (SB 156) und seine „innere Sammlung“ zu beeinträchtigen vermag (SB 157). Als „zweiten Pol“ beschreibt sie jedoch wenige Seiten später eine Messe in der Pariser Saint-Séverin-Kirche, wo „der Menge zugewandt“ zelebriert wird, ohne dass ein „Entgegenkommen“, gar „Herablassung dem Volke“ gegenüber stattfindet, das ja erhoben werden wolle. Diese Menge – „vorwiegend Proletariat“ übrigens – ist ihrerseits „geschult“ und „dem Alltag entzogen“. Als „eine lebendige Saint Chapelle (...) reagiert sie mit der Geschlossenheit eines Orchesters“ (SB 164 f.). Vorbildliche Form besteht hier also in der aktiven Mitfeier. Mit einer tendenziell Hierarchie-zentrierten Ekklesiologie und Gesellschaftslehre hat Annette Kolbs monitum zugunsten des gewachsenen Ritus jedenfalls nichts zu tun. Immer geht es ihr um eine Haltung dem Mysterium gegenüber, das sich in der Messe bekundet.

      Tradition und Erneuerung bleiben dabei aufeinander bezogen. Wahrhaft schlimm nämlich ist „die Trennung zwischen Kirche und Kunst“ (SB 165). Kitsch, wie er die Gotteshäuser seit dem 19. Jahrhundert verunstaltet habe, sei der größte Feind des Religiösen. So setzt sie Hoffnungen in Strawinskys 1948 uraufgeführte Messe und empfiehlt Marie-Alain Couturier OP, den (ihr auch persönlich bekannten) Pionier der Einbeziehung moderner Kunst in die Kirche, der die Sakralbauten von Le Corbusier ermöglichte und bei seinen Projekten herausragende Künstler wie Léger, Braque, Rouault, Chagall und andere zur Mitwirkung gewann, als Vorbild für die „Notwendigkeit eines neuen Baustils“ (SB 160) – wobei übrigens just das von Annette Kolb so gerühmte Beispiel der Kapelle in Vence dem Heiligen Offizium nicht unbedingt gefiel.30

      Im gleichen Kontext wird plötzlich noch ein anderer Ordensmann gepriesen, der Protagonist eines sozialen Katholizismus ist: Abbé Pierre, Gründer der Organisation „Emmaus“, besonders seiner Hilfsappelle für die Obdachlosen im Kältewinter 1953/54 wegen, als viele Menschen starben. Eine von Annette Kolbs Messfrömmigkeit offensichtlich untrennbare Dimension scheint hier auf.

      Anfang August 1960 nimmt die Autorin am Eucharistischen Weltkongress in München teil. Auch hier macht sich ein spätzeitliches Bewusstsein geltend: „Wird vielleicht morgen das Ereignis vertuscht und vergessen werden? Über alle Wirrsal hinaus war es das Präludium einer besseren, schöneren und anderen Welt. War es der Inbegriff jener Abschiedsworte: ,Ich komme bald‘?“ (Z 206) Im Zusammenhang mit diesem Vers aus dem Buch der Offenbarung des Johannes im Neuen Testament heißt es an anderer Stelle: „Wir glauben, wir halten unseren Glauben aufrecht, er ist nicht leicht, wir geben ihn nicht preis.“31

      Am Ufer des Sees Genezareth

      Bei aller wachsenden In-sich-Gekehrtheit im Alter verbindet sich mit Annette Kolbs letzten Lebensjahren eine wichtige Aktivität: der Höhepunkt ihrer kontinuierlichen Auseinandersetzung mit dem „jüdischen Problem“ (F 67), das sie wiederholt „ein christliches“ genannt hat. Gerade weil sie dabei zuweilen nicht frei von Vorurteilen oder ambivalenten Bemerkungen ist,32 muss ihre spätere Haltung desto höher eingeschätzt werden.

      In der 1934 noch in Berlin erschienenen „Schaukel“ ist im Zusammenhang mit einer Dame und dem für ihre Herkunft typischen „Qualitätsgefühl“ eine Anmerkung beigegeben: „wir sind heute in Deutschland eine kleine Schar [!] von Christen, die sich ihrer Dankesschuld dem Judentum gegenüber bewußt bleibt“ (S 135). Um das Erscheinen des Romans weiter zu gewährleisten, musste die Fußnote im Einvernehmen mit der Autorin ab der zweiten Auflage gestrichen werden.

      Der Essay „Gelobtes Land – Gelobte Länder“ ist 1951 zunächst im „Hochland“ erschienen. Anhand persönlicher Begegnungen verfolgt Annette Kolb hier ihr jüdisches Interesse seit der Kindheit zurück. Frühere Vorstellungen vom Aufgehen der Juden in der deutschen Gesellschaft werden nun kritisch bewertet: „so war unsere Philosemitie eine antisemitische Sache“ (SB 133). Auch im Exil bleibt es bei „Sympathie, Parteinahme, Solidarität“ für die Juden, innerhalb derer sie freilich Unterscheidungen des geistigen Ranges vornimmt. Die „Unabhängigkeitserklärung eines jüdischen Staates“ am 14. Mai 1948 (die sie in ihrem Buch „Glückliche Reise“ acht Jahre zuvor hypothetisch antizipiert hatte) sieht sie als „Heimkehr (...) für einen so schwer geprüften Stamm“, welche „die gesamte Christenheit (...) ihm gönnte“, mit „Freude“ sogar (SB 148): „Wenn ihr aber meint, es habe eine höhere Fügung über eurer Heimkehr gewaltet, so sind auch wir dieses Glaubens.“ (SB 150)

      Anfang 1963 lernt Annette Kolb den jungen jüdischen Autor Elazar Benyoëtz kennen. Rasch entwickelt sich eine Freundschaft. Sie schreibt ihm als seine „christliche Schwester“,33 er wird nach ihrem Tod das erste Buch über sie veröffentlichen („Annette Kolb und Israel“, 1970). Mit Blick auf den „letzten“ und „sehnlichsten Wunsch“ ihres Lebens34 schmiedet Annette Kolb Pläne, das Heilige Land zu sehen. 1967 tritt die 97-Jährige diese ihr so wichtige Reise an. Sie besucht das vermeintliche Grab des Königs David am Berg Zion, steht lange allein am Ufer des Sees Genezareth. „Dein Land“, lautet viereinhalb Monate vor ihrem Tod der letzte Satz in ihrem letzten Brief an Elazar Benyoëtz, es „ist schon mein Land geworden!!“35 Und sie setzt zwei Ausrufezeichen dahinter.

      Schriften von Annette Kolb: Kurze Aufsätze. München 1899 – Sieben Studien. L’ âme aux deux patries. München 1906 – (Hg.:) Die Briefe der heiligen Catarina von Siena. Leipzig 1906 – (Übers., zus. m. Franz Blei:) Gilbert Keith Chesterton: Orthodoxie. München