Eigensinn und Bindung. Daniel Hoffmann G.

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Название Eigensinn und Bindung
Автор произведения Daniel Hoffmann G.
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783766641168



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der Pervertierung des Reichsgedankens durch die nationalsozialistische Ideologie, der Erhebung des Zentralismus zum Entwicklungsziel der deutschen Geschichte, der biologisch-materialistischen Geschichtsbetrachtung, der Verbiegung der Geschichtswissenschaft durch ihre Indienstnahme für politische Gegenwartsziele und der damit verbundenen Leugnung des historischen Objektivitätsgebots. Das außenpolitische Auftrumpfen des Nationalsozialismus geriet in die Kritik, wenn Muth – durch die Blume gesprochen – sich mit den „nationalegoistischen Instinkten“ des Kardinals Richelieu auseinandersetzte und dem nur von den eigenen Interessen geleiteten Vertreter des frühen Absolutismus in Frankreich das größere „europäische Solidaritäts- und Verantwortungsgefühl“ des habsburgischen Kaisers gegenüberstellte.28

      3. Auf dem ihm ureigenen Gebiet der schönen Literatur trat die Zeitschrift der Verbreitung der Blut- und Boden-Ideologie entgegen, verwarf die einseitige Nationalisierung des universellen Kulturgutes der Kunst, bestand auf den Freiheiten und selbstgesetzten Zwecken jeder künstlerischen Betätigung. Die Selbstständigeit des Denkens und der künstlersichen Emotion, eine je eigene Auffassung des Lebens und der Wirklichkeit galten ihr nach wie vor als die allein angemessenen Grundlagen für jede geistige Produktivität. Der Abdruck klassischer Lyrik – von Emanuel Geibel, Jeremias Gotthelf oder Gottfried Keller – stellte gewissermaßen geistige Residuen der Normalität, Inseln der Zuflucht und des Trostes in persönlichen Bedrängnissen oder inmitten der sich allgemein verbreitenden Niedergeschlagenheit bereit.

      Zwar stammten die meisten Widerstands-Artikel nicht aus der Feder von Karl Muth. Aber ihm und seinem letzten Schriftleiter Franz Josef Schöningh gebührt das Verdienst, inspirierend, lenkend und planend den widerständigen Kurs der Zeitschrift bestimmt zu haben. Muth betrat aber auch noch mit eigenen Beiträgen die politische Arena. So nahm er die falsche Traditionsanmaßung der Nationalsozialisten nicht hin. Deutlicher noch als in seinen Besprechungsartikeln über Richelieu bezeichnete er in einem klugen Essay über den Reichsgedanken den Kaiser als „Schützer des Rechts und Wahrer der Ordnung“ – nach außen wie im Innern des Alten Reiches – und scheute, sich auf Theodor Haecker berufend, auch nicht die deutlichen Worte in der Sache: Das „Dritte Reich“ konnte sich nicht als Erbe des mittelalterlich-frühneuzeitlichen Reiches ausgeben, da dessen „wahre Idee“ ihrem „Wesen nach“ dem Nationalsozialismus „zuwider sein muß“.29 Wenn die Zeitschrift die Machtübernahme des Nationalsozialismus mit klaren Abgrenzungen quittierte, so musste sich allerdings nach dessen Machtbefestigung der geistige Kampf mehr der indirekten Vermittlung, etwa der Diskussion über historische Komplexe und Analogien oder der Erzählung über unpolitische, aber aktuelle Schlussfolgerungen nahe legende Themen bedienen.

      Nach dem Verbot seiner Zeitschrift arbeitete Muth mit der ihm eigenen Rastlosigkeit weiter und beschäftigte noch jüngere Mitarbeiter. Zu ihnen gehörte im Sommer 1942 Hans Scholl. Er half, Muths große Bibliothek zu katalogisieren. In den die Arbeit begleitenden Gesprächen bestärkte der erfahrene Publizist den jungen Mann in seiner Abwehrhaltung gegen den Nationalsozialismus. Die Meldung über die Hinrichtung des noch jugendlichen Widerstandskämpfers hat Muth tief erschüttert.30 Er selbst entging der Verhaftung, obwohl er eine Hausdurchsuchung über sich ergehen lassen musste. Belastendes Material, so eine für Papst Pius XII. bestimmte Denkschrift über aktuelle deutsche Zustände, entging den Häschern. Am 15. November 1944 verstarb Karl Muth im Krankenhaus von Bad Reichenhall. Dorthin war er verlegt worden, nachdem sein Haus in Solln und die Münchener Klinik, die ihn aufgenommen hatte, zerstört worden waren. Bis zuletzt hegte er die Gewissheit, die er schon in den Anfangsjahren der NS-Diktatur gewonnen hatte, dass der Nationalsozialismus dem Untergang geweiht war.

      Doch würde dies, wie er ebenfalls glaubte, nicht ohne außergewöhnliche Opfer abgehen. Muth war angesichts der Akzeptanz, die der Nationalsozialismus, kaum dass er zur Herrschaft gelangt war, in allen Bevölkerungsschichten erlangt hatte, früh der Meinung, dass dieses Unrechtsregime nur durch einen verlorenen Krieg zu beseitigen sein würde.31 Der Publizist, Essayist und Schriftsteller, eine Künstler- und Gelehrtennatur, gewann eine wirklichkeitsnahe Einschätzung der nach 1933 eingetretenen Lage. Aus langjähriger politischer Erfahrung, aus der Beobachtung des geistigen und politischen Lebens wie aus einer weltanschaulichen Grundhaltung, die heute gern als „ontologisch“, spekulativ oder unwissenschaftlich abgetan wird, fand er zum Widerstand.

      Schriften von Karl Muth: (Hg.:) Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur u. Kunst. Kempten/München 1903 – 1941 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Wem gehört die Zukunft? Ein Literaturbild der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1893 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Steht die Katholische Belletristik auf der Höhe der Zeit? Eine litterarische Gewissensfrage. Mainz 1898 – (u. d. Pseudonym Veremundus:) Die Litterarischen Aufgaben der Deutschen Katholiken. Gedanken über katholische Belletristik und litterarische Kritik. Zugleich eine Antwort an seine Kritiker. Mainz 1899 – Die Wiedergeburt der Dichtung aus dem religiösen Erlebnis. Gedanken zur Psychologie des katholischen Literaturschaffens. Kempten/München 1909 – Schöpfer und Magier. Drei Essays. München 1935.

      Sekundärliteratur: Konrad Ackermann: Der Widerstand der Monatsschrift Hochland gegen den Nationalsozialismus. München 1965 – Winfried Becker: Muth, Carl Borromäus Johann Baptist. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Hg. v. Traugott Bautz. Bd. 6. Herzberg 1993, Sp. 396 – 402 – Walter Ferber: Carl Muth (1867 – 1944). In: Rudolf Morsey (Hg.): Zeitgeschichte in Lebensbildern. Bd. 1. Mainz 1973, 94 – 102, 301 f. – Maria Cristina Giacomin: Zwischen katholischem Milieu und Nation. Literatur und Literaturkritik im „Hochland“ (1903 – 1918). Paderborn 2008 – Anton Wilhelm Hüffer: Karl Muth als Literaturkritiker. Münster 1959 – Gilbert Merlio: Carl Muth et la revue Hochland. Entre catholicisme culturel et catholicisme politique. In: Michel Grunewald/Uwe Puschner in Zus.arb. m. Hans Manfred Bock (Hg.): Das katholische Intellektuellenmilieu in Deutschland, seine Presse und seine Netzwerke (1871 – 1963). Bern u. a. 2006, 191 – 208 – Wulfried C. Muth: Carl Muth und das Mittelalterbild des Hochland. München 1974 – Barbara Schüler: „Geistige Väter“ der „Weißen Rose“. Carl Muth und Theodor Haecker als Mentoren der Geschwister Scholl. In: Rudolf Lill/Klaus Eisele (Hg.): Hochverrat? Neue Forschungen zur „Weißen Rose“. Konstanz 1999, 101 – 128.

      Auf der Freitreppe

       Annette Kolbs Katholizität

       Hans-Rüdiger Schwab

      „Was wollt ihr noch von ihr wissen?“ fragt die angesehene Autorin 1932 in einem „Befohlenen Selbstporträt für Quartaner“: „Sie ist katholisch. Seinen frühen Schulkatholizismus gibt jeder eines Tages preis. Dazu bedarf es nicht viel. Nachträglich ihn dennoch beizubehalten, bedingt einen weit schwierigeren geistigen Prozeß. Dafür nimmt man sich einige Reservatrechte heraus, die einem besonders von Convertiten als ketzerhaft bestritten werden. Aber das schadet nichts.“1

      Selbstbehauptung und Ironie durchdringen einander in dieser Aussage. Beides ist kennzeichnend für Annette Kolb. Die „Convertiten“ (denen gegenüber sie wiederholt fremdelte) werden hier stellvertretend für bestimmte Verhaltensmuster erwähnt. Was ihr missfällt, ist eine teils selektive, teils gleichsam überbietende Fixierung von Glaubensinhalten.

      Innerhalb des Panoramas katholischer Intellektualität während der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt Annette Kolb in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme dar. Sie ist eine der wenigen, die ins Exil gingen, gleich zweimal sogar. Während man unter dem Vorzeichen „katholischen“ Denkens zur Zeit der Weimarer Republik vielfach Ordnungsvorstellungen von Reich und Nation anhing, mahnte die überzeugte Demokratin und Europäerin lakonisch: „Mehr als die Völker bedarf der Völkerbund des Schutzes.“2

      Auch sonst bewegte sie sich jenseits „typischer“ Fragestellungen und Konfliktlinien. Der Richtungsstreit über „katholische“ Literatur etwa interessierte sie nicht. Ihre eigenen Arbeiten erschienen seit 1905 bei S. Fischer, einem der führenden deutschen Verlage. Annette Kolb verfügte über die geistige Souveränität der Einzelgängerin. Sie war klug, aufmerksam, tapfer, ein wenig dickköpfig und schrullig auch, aber das macht sie gerade sympathisch.

      Vom