Название | Eigensinn und Bindung |
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Автор произведения | Daniel Hoffmann G. |
Жанр | Документальная литература |
Серия | |
Издательство | Документальная литература |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783766641168 |
Für diejenigen, die sie kannten, stand ihre katholische Prägung außer Frage, die allerdings ungewöhnlich, ja fast heterogen amalgamiert war. Eine „begeistert katholische (...) Autorin“ nannte Hermann Kesten sie – was von dem jüdischen homme de lettres ins scheinbar Widersprüchliche hinein präzisiert wird: „Sie war erzkatholisch und antiklerikal und liberal.“3 Auch Luise Rinser rühmte an Annette Kolb einen Katholizismus „von südlich-lateinischer Weltoffenheit“. „Kaum ein Werk“, übertreibt sie nur ein bisschen, in dem nicht „vom Katholizismus“ die Rede sei: „doch meist nur so, wie eben ein Habitué der Kirche es tut: als über das Selbstverständliche“.4 Im „Hochland“ wurde immerhin schon (oder erst) Anfang der 30er-Jahre, wenn auch mit einem verräterischen Einschub, ihr „eigenes, sehr persönliches – zuweilen sicher auch etwas zu persönliches – Verhältnis zum Katholizismus“ anerkannt und sie, ihr ganz unangemessen pathetisch, als „Weggenossin aller ins Lichte drängenden jungen Dichtungsbewegung“ gewürdigt.5
Ein Jahrhundertleben
Von den Nachwirkungen des Kulturkampfs bis an die gesellschaftliche Zäsur Ende der 60er-Jahre reicht Annette Kolbs Leben. Geboren am 3. Februar 1870 in München, wächst sie dort in einer Atmosphäre auf, die sie mit den Begriffen „Weltbürgertum“ und „Weite“ des „Horizonts“ beschreibt.6 Sie selbst ist gleichsam Tochter zweier Nationen. Ihre Mutter, eine französische Konzertpianistin, unterhielt während deren Münchner Zeit „rege“ Beziehungen zu Cosima Wagner und wurde von Franz Liszt besucht.7 Der Vater, königlich-bayerischer Gartenbauinspektor, war als landsmannschaftlicher Partikularist ein entschiedener Gegner alles Preußischen, damit auch Protestantischen, dessen Doppel-Hegemonie bei der Gründung des Deutschen Reichs für ihn den Keim späteren „Unheils“ (W 10) in sich trug. Unter Verlängerung der Perspektive bis zum Zweiten Weltkrieg hat seine Tochter diese Haltung übernommen. „Die Schaukel“ (1934), der Roman ihrer Jugend, beschreibt mit Lust an der Differenz konfessionell unterschiedliche Sozialisationsfaktoren und Lebensstile sowie die daraus entstehenden wechselseitigen Reibereien. Das katholische Elternhaus ist fromm und großzügig zugleich. Neben Künstlern und Diplomaten verkehren dort auch höchste geistliche Würdenträger wie der apostolische Nuntius.
Zwischen ihrem sechsten und zwölften Lebensjahr besucht Annette Kolb eine Schule der Salesianerinnen bei Hall in Tirol. Was sie später beschreibt, ist die erste katastrophal verlaufene Internatsgeschichte in der deutschen Literatur. Neben der Erfahrung von erzieherischen „Härten“ und seelischen „Schäden“, die „fürs Leben“ anhafteten (SB 14), wird ihr im „verhaßten“ Institut8 der Glaube gründlich verleidet. Rückblickend beklagt sie den „furchtbaren Klosterjargon (...), in dem das Transzendentale, als wäre es so gegenständlich wie Reis oder Kaffee, ohne Unterlaß hereinbezogen wurde“9. Dass Heranwachsende „einem Glauben, in den sie auf solche Weise eingeweiht wurden, eines Tages den Rücken kehren, ist das Naheliegendste“ (SB 12), zumal wenn hinsichtlich ihrer eigenen religiösen Fragen nur die redselige Antwortlosigkeit herrscht.
Anfänglich schwankt Annette Kolb zwischen einer Laufbahn als Pianistin und als Schriftstellerin. Mit 29 Jahren lässt sie auf eigene Kosten ihr erstes Buch drucken: „Kurze Aufsätze“, die zum Teil bereits vorher erschienen waren. Es bildet den Auftakt eines sechseinhalb Jahrzehnte überspannenden Lebenswerks, dem drei Romane folgen, zahlreiche Erzählungen, Skizzen und Essays sowie drei Musiker-Biographien.
Auch über die politische und gesellschaftliche Situation Europas äußert sie sich von früh an, besonders mit Blick auf die wünschenswerte Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich. Aufgrund ihrer Kritik am Ersten Weltkrieg zieht sie es 1916 vor, in die Schweiz zu emigrieren. Sechs Jahre später lässt sie sich in Badenweiler nieder und baut neben dem Anwesen ihres elsässischen Schriftstellerfreundes René Schickele ihr eigenes Haus. Während der Weimarer Republik gilt sie als eine repräsentative Figur des kulturellen Lebens. Vor den Nazis flüchtet sie im Februar 1933 zunächst wiederum in die Schweiz. Im folgenden Jahr bezieht sie eine eigene Wohnung in Paris. 1936 erhält sie die französische Staatsbürgerschaft. Als vier Jahre später die deutschen Truppen auf Paris vorrücken, flieht sie nach Vichy und Genf. Von dort gelingt ihr über Spanien und Portugal die Emigration nach New York. Im Oktober 1945 kehrt Annette Kolb wieder nach Europa zurück und lebt an wechselnden Aufenthaltsorten – am längsten in Paris – ihr „Exil nach dem Exil“. Zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen flankieren den Lebensweg. 1961 übersiedelt sie wieder in ihre Geburtsstadt. Bis ins hohe Alter hinein bleibt Annette Kolb vielfältig aktiv. Im März 1967 unternimmt sie noch eine Reise nach Israel. Am 3. Dezember des gleichen Jahres stirbt sie in München.
Die Sache von „unbegrenzter Elastizität“
„Ihre Fühlung zum Christentum hatte zwar viele Wandlungen erfahren und ließ nie ab, sich umzugestalten und zu verschieben“, schreibt die Autorin, den späteren Gedanken der eingangs zitierten Auskunft variierend, bereits über die Heldin ihres Romans „Das Exemplar“ (1913): „Für nichts war ihr Auge so hart und geschärft wie für die Scheidungen, die hier zwischen Kern und Schale vorzunehmen sind.“ Weil sie vom Katholischen groß und eigenwillig denkt, fühlt sie sich in seiner realen Existenzform nicht immer beheimatet: „Auf ihren Katholizismus, der ihr von anderen Katholiken gern bestritten wurde, tat Mariclée sich nämlich viel zugute. Immer vorschnell hielt sie ihn für würdiger als den der anderen, die sich bescheiden wollten, während sie selbst den Gedanken, der ihn trug, so stark gefunden hatte, daß sie ihn, wie ein großes Kauffahrteischiff, mit allem befrachtete, was die Welt an geistigen Werten enthielt, und ihm außer den neun Musen con allegria den ganzen Olymp aufzuladen begehrte. Infolge ihrer hohen Meinung von der Tragfähigkeit jenes Gedankens war sie von einem geradezu uferlosen Liberalismus. Möglich, daß ein Körnchen Weisheit darin steckte.“10
Selbstironie macht sich natürlich auch hier wiederum geltend. Gleichwohl kann es keinem Zweifel unterliegen, dass der Begriff des Katholischen für Annette Kolb in beträchtlichem Maße inklusiv ist. Er fungiert als ein Passwort für Weite und Assimilationskraft, eine Arche des Geistes sozusagen. In einer bestimmten Glaubens- und Lebensform wirksam, übergreift er doch deren sichtbare Grenzen. Annette Kolb war nicht von Ängsten geplagt, dass Umrisse damit ins Unkenntliche verschwimmen. Fast Unvereinbares, nur scheinbar einander Ausschließendes miteinander zu verbinden, ja einzuschmelzen: darin besteht für sie der Kern des Katholischen, sein „tiefinnerstes Geheimnis“.11
Annette Kolb redet keiner Identitätssicherung durch klare Unterscheidung von Draußen und Drinnen das Wort. Synthesen und Adaptationen sind vielmehr ihre Leidenschaft: „Solche Katholiken aber frönen innerhalb des Credo quia absurdum einem Freidenkertum ohnegleichen.“12 Andererseits ist, mit einer vertrackten Formulierung, deswegen auch „so mancher (...) katholisch, ohne es zu wissen, und umgekehrt“ (M 306)13 – erst recht dann, wenn die Angelegenheit, wie oft bei ihr, nach dem „Temperament“ betrachtet wird (S 154). Diese Haltung verträgt sich auf das Sinnigste mit Annette Kolbs Übersetzung eines Buchs wie „Orthodoxie“ von Gilbert Keith Chesterton (1909), in dem die Apologie katholischer Rechtgläubigkeit sterile Vorstellungen von Rationalität ins Wanken bringt. Auch was Chesterton an seinem Gegenstand faszinierte, war dessen Koexistenz von Extremen.
Stets aufs Neue wendet Annette Kolb sich daher gegen das, was sie in ihrer religiösen Internatserziehung erstmals erlitt: die verbale Zementierung, das (womöglich noch autoritär verfügte) Einschließen des Göttlichen im Begriff, mit dem man es dingfest gemacht zu haben wähnt. Ganz abgesehen davon, dass damit eine Immunisierung sowohl gegen die Erfahrungen der Subjekte als auch der Geschichte ins Werk gesetzt wird. „Alle Wörtlichkeiten trieben sie die Wände hoch“ (D 32), heißt es, beispielhaft für weitere Stellen dieser Art, im Roman „Daphne Herbst“ (1928) von der Mutter der Protagonistin.