Abschiednehmen. Hartmut Zwahr

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Название Abschiednehmen
Автор произведения Hartmut Zwahr
Жанр Языкознание
Серия
Издательство Языкознание
Год выпуска 0
isbn 9783867295611



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noch, was der andre macht, ob der an der Straße sitzt? Sie etwa?

      So hätte’s nicht weiter gehen können, sagte ich, am Ende hätten wir ganze Städte abgerissen.

      Bestreite ich doch gar nicht, aber die Industrie ist weg.

      Die Führung war zu alt, die musste weg, das wars doch.

      Die Führung haben wir ertragen. Oder? Eichler zog die Augenbrauen hoch, hatte das Gespräch satt. Was wir in den Betrieb für Maschinen reingebaut haben, bei uns in der Gerberei, wir hätten den Dogmatismus weghaben müssen, da mussten Reformen her.

      In einer geschlossenen Gesellschaft funktioniert das nicht, Herr Eichler. Darauf er: Hätten Sie doch was gesagt. Und ich: Sie wissen doch gar nicht, was ich gesagt habe. Mit dem Gesichtsausdruck, das kann jeder behaupten, wollte Eichler das Gespräch abbrechen.

      Leipzig hat die Sache beendet.

      Ach, hörn Se doch off, war doch alles gesteuert mit den Demos.

      Wollen Sie behaupten, dass der »Gegner« das den Leuten eingeredet hat, die auf die Straße gegangen sind, zwanzigtausend am zweiten Oktober, Montag drauf siebzigtausend?

      Ach, lassen Sie mich. Er hatte mich stehen lassen und war ins Haus gegangen.

      Pfingstdienstag. Ich hänge Mutters Nachthemden auf die Leine, und Eichler rollt das Moped aus dem Schuppen. Ich sage, ich wollt Sie nicht ärgern. Das könn Se ooch gar nich, und schwang sich aufs Moped, die Hand an der Bremse. Sagen Sie bloß, der BND ist besser als die Stasi? Behelmt saß er da. Lassen Se mich ausrädn, ich weiß Bescheid. Er erwähnte eine Auslandskaderschulung: S’ war eener dabei, von drüben. Der wollte zweemal seine Mutter anrufen, den hat der BND gleich erfasst. Die hatten an der Grenze ooch ihre Stationen.

      Die Leute sind auf die Straße gegangen, nicht der »Gegner«. Diesmal widersprach er nicht. Machte die Beine breit, dass die Maschine nicht kippte: Arbeiter warn dabei. Stimmt, sagte er. Wie sie die Fischwirtschaft kaputt gemacht ham, und bei uns im Betrieb, wo kam der Sanierer her? Aus Hamburg. Von der Konkurrenz.

      Wir sind im Kapitalverhältnis angekommen, in der Eigentümergesellschaft.

      Sagen Se’s doch gleich, sagte er, der Parteisekretär gewesen war, die hätten die Inflation, wenn die Einheit nicht gekommen wäre. Die haben die Inflation mit uns bewältigt.

      Aber ...

      Lassn Se mich rädn. Bei uns in der Lederfabrik warn solche Liquidatoren. Da ist mal ein Guter dabei, was vernünftige Leute sind, zehn Prozent, die andern hat die Konkurrenz geschickt. Der eene, an den ich mich erinnern tu, lief im Betrieb gleich mit dem Computer rum. Wollte mich ausfragen. Von mir erfahrn Se gar nichts, sagen Se mir erst mal, wo Sie gearbeitet haben. Dort und dort. Warum sind Sie nicht dort geblieben? Pleite hatten die gemacht. Den Betrieb gabs nicht mehr, aber uns. Das schaffen Sie erst mal aus der Welt. Die haben uns ausgenommen. Lachte bitter. Solche Leute sind zu Massen rübergekommen. Wer das bestreitet, den kann ich nicht für voll nehmen.

      Meinen Sie mich?

      Ja. Die Bremse loslassend, rollte er zur Straße. In der Haustür Frau Eichler, wie ich mich erinnere, in schwarzen Strumpfhosen, Pantoffeln: Es fängt meist harmlos an, hatte sie gesagt. Regentropfen fielen. Die Frisur mit der Hand schützend, war sie ins Haus gehuscht. Eichler sieht sich als Verlierer der Einheit, mich als Gewinner.

      Johannes hatte den Vorhang mit den Karos vorgelegt. Jojo muss ichs zuerst sagen, dass Mutter verstorben ist; sie hatte dem Wohnungsamt seinerzeit klar gemacht, dass Mutter einzieht. Auch Vater war erlöst, als die Teilhauptmiete aufhörte. Wir richten Ihrem Bruder den Todesfall aus. Mein Beileid, hatte die Frau auf der Post in Bautzen gesagt.

      Warum bin ich nicht bei Mutter geblieben, statt Prüfungen abzunehmen. Immer hatte Mutter Wege gefunden, seine Wünsche zu erfüllen, selbst diesen letzten, und der Zufall stellte das Signal auf Rot, als habe sie den Zug angehalten. Er hatte aus dem Fenster geguckt, als würde Mutter noch dort stehen, wo früher ihre Wohnung war, gegenüber die Bahnlinie, davor die Valtenmühle, das Haus, von wo sie weggezogen war, dank ihrer Freundin, die auf dem West-Bahnhof arbeitete. Er hatte aufs Weiterfahren gewartet. Wie würde er Mutter antreffen? Er sah die Wiese, wo der Teich gewesen war. Stattliche Blaufichten ersetzten die Erlen. Das Haus steht zum Verkauf, hatte Mutter gesagt. Pappeln standen auf Rönischs Koppel, und jemand behauptete, die Spitzen würden vertrocknen.

      Eine Zeit Zwischen den Untergängen hatte Andreas Reimann seine Gedichtsammlung genannt, das war ihm eingefallen. Auf dem Gleis hatten Verwundetenzüge gestanden, und wenn er mit dem Schulranzen heimkam, hatte das Haus, die Villa, denselben gelblichen Anstrich wie damals. Er stand auf der Treppe, spürte zwischen den Beinen die Katze, die schwarze mit Halsband, an dem ein silbernes Glöckchen bimmelte, und ging leise in die Wohnung. Marielouise saß hinter der Tür. Ihre Mutter, Jojo genannt, solange er zurückdenken konnte; der Mann verstorben, irgendwo im Lazarett, sie Eisenbahnerin, nie um eine Antwort verlegen. Mit der gutmütigen und, wie Mutter sich ausdrückte, ewig unadretten Tochter, lebte sie in einem ziemlichen Durcheinander von schönstem Meißner Porzellan, zerrissenen Strümpfen, allerlei Mitbringseln und Kram, den andere wegwarfen, sie aber aufsammelte. Marielouise liebte Blumen, Rosen, Tulpen, Nelken, Zinnien, Akelei, Gerbera, Dahlien. Hingebungsvoll säte sie, vereinzelte, was vom Samen aufgegangen war, umsorgte ihr Gärtchen, die Blumen, ihre Katzen. Sie war zwei Jahre länger ohne Arbeit als Annemarie Eichler. Als »Fortschritt« keine Mähdrescher mehr baute, gabs für sie keine Verwendung mehr. Manches, was sie seither in die Hände nahm, als sie die Männer mit Werkzeugen, Stäben, Blechen versorgt hatte, zerbrach beim Aufwaschen, wie die seltene Meißner Tasse, und Marie­louises Mutter schrie auf, was in der Wohnung drüber sogar Mutter hörte, sie brüllten sich an, hemmungslos, die eine mit schriller, durch Schwerhörigkeit unkontrollierter Altersstimme, die andere in einem den Männern abgelauschten fürchterlichen Schnauzton, der aus der flachen breiten Brust herausfuhr wie ein Unwetter. Bevor sie nicht erschöpft waren, hörten sie nicht auf. Wie Menschen sich das antun können?

      Schrie Jojo die Tochter an, weil sie ahnte, dass sie die nächste sein würde, die zum Liegen kommt, und Marielouise, das vierte Jahr ohne Arbeit, die Mutter?

      Die Sperlinge in den Fliederbüschen störte das nicht; sie nahmen das Futter von beiden. Was die sich zanken und haben doch nur sich. Auf halber Treppe dröhnte jetzt Musik. Er zog die Tür zu.

      Eichlers Wohnung hatte Telefonanschluss, wegen der Partei, und Jojo auch, wegen dem Zugverkehr, deshalb hatte er auf dem Bahnhof telefoniert. Die erfahren es noch früh genug. Für mich ist der Bahnhof die Öffentliche, war Mutters Rede, als sie die Treppe noch steigen konnte, die sind zu mir am Schalter immer gefällig, dort bin ich unabhängig. Frau Eichler fuhr nicht mehr auf Arbeit, Herr Eichler auch nicht, seit die Gerberei zugemacht hatte.

      Johannes blieb in der Küche, stand am Fenster und wartete auf Grubes und den Bruder. Frau Adolph kam ihm in den Sinn, Horst, mit dem er die Olympiadejournale durchgeblättert hatte, da war der Krieg aus. Benesch und die Schmidten redeten ihr bihmsches Deitsch. Rönisch hörte er reden, den Schlesier, Eimer klapperten, Frau Rönisch tränkte die Pferde. Hinterm Teich fing der Klötzerplan an, wo Langholz lag, solange was da war zum Sägen. Regen prasselt in den Teich, der nicht mehr da ist. Verwundete sitzen in Waggontüren, langsam fährt der Zug vorbei. Eins von zwei Gleisen hat die Demontage kassiert. In seiner schwarzen Wattejacke der Heimkehrer. Großvater setzt die mit Schlamm beladene Karre ab und geht auf ihn zu, was nicht sein kann, weil Gustav tot ist. Jungs springen vom Lastwagen, tragen Kisten ins Sägewerk. Jungs mit Schulterriemen, Hedwigs Sperlinge. Ich stehe schüchtern am Schiebetor. Immer habe ich an sie denken müssen, und trotzdem fing das Vergessen an.

      Er hörte das Motorrad tuckern. Eichler stellte den Motor ab. Der Rhododendron hatte seine Blüten alle auf einmal geöffnet. Mutter hat es nicht mehr gesehn. Dieses Lila mit unbeschreiblichem Glanz, der Rhododendron eine einzige Blüte. Wie bestellt, sagte Mutter, wenn sie, als sie noch laufen konnte, zur Pfingstzeit am Küchenfenster stand. Ich weiß die Geburtstage nicht mehr, sagte sie dieses Pfingsten, der rutscht ooch rein, ins Grab. Sie hatte vergessen zu sagen, wen sie meinte.

      Er sah Eichler ins Haus gehen. Wolken zogen sich zusammen, und über die Wiese fiel ein großer Schatten. Vogelstimmen,