Название | Fahrt und Fessel |
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Автор произведения | Gustav Stratil-Sauer |
Жанр | Сделай Сам |
Серия | |
Издательство | Сделай Сам |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783942153201 |
Die Meßgebäude hatten ihre Tore geschlossen, die Menge der Aussteller war nach allen Gegenden davongeflattert; nun war nichts mehr zu erreichen. Es wurde auch Zeit, daß ich mich auf meine wissenschaftliche Tätigkeit konzentrieren konnte. Viel gab es freilich nicht zu lernen, weil gerade im Ostpontus weiße Flecken auf den Karten gähnten; denn weite Gebiete waren dort bisher weder wissenschaftlich durchforscht noch überhaupt von Europäern betreten worden, und auch über den Hindukusch schwiegen die Bücher und Karten größtenteils.
Darüber ging der September zu Ende. Die notwendigen Papiere waren eingetroffen, die Koffer waren gepackt und hatten das mit 400 Kilogramm belastete Rad bei einer Probefahrt schwer aufstöhnen lassen. An Geld waren mir nach Bezahlung der notwendigen Gebühren und der Ausrüstung noch ungefähr 3000 Mark geblieben, die ich zur Hälfte in der Komiteekasse zurückließ, während die andere Hälfte nebst Abrechnungsbuch in Gepäck und Kleidung verstaut wurde.
Dann brach ein kühler Herbstmorgen an, der sechste Oktober, der Tag meiner Abfahrt.
Ich hatte erreicht, was unsere arme Zeit nur wenigen noch gibt: eine Reise.
Gewiß, dank der fortgeschrittenen Technik des Verkehrs reist man heute mehr als zuvor und oft auch weiter, als ich mich wagen wollte. Aber da diese Reisen nur Mittel sind, die weit anderen Zwecken dienen als dem Wandern und Schauen, meist nämlich dem Erwerb, so vermögen sie uns aus dem engen Kreise unseres Ich nicht hinauszuführen, weil sie uns den Weg über dem Ziel vergessen lassen.
Die wahren Reisen aber sind reine Bewegung. Und da sie uns mehr geben, fordern sie auch mehr von uns: Vagantentum und Hingabe, die das Ziel über dem Weg vergessen lassen.
Die Vagantenseele will nichts als schweifende Unrast, die immer zu neuen Bergen und Seen zieht, ohne ein Ende des Weges zu finden. Nimmermüde treibt es sie anderen Ufern, anderen Höhen zu, doch immer weicht der Horizont vor ihr, das dämmernde Blau ist ihr einziges Ziel. Damit sie nicht im Kristallisieren statisch wird, muß ihr die Sehnsucht stets mehr sein als die Erfüllung.
Es ist ein weiter Weg, der um kein Ziel weiß, und reich wie die Welt ist der Wandel an Formen, die er vor dem Wandernden entfaltet. Will man nicht, gefangen im eigenen Ich, unbeschenkt vorüberziehen, so muß man wie jeder, der empfangen will, persönlichen Einsatz geben.
Um eine fremde Welt voll zu verstehen, braucht man jene Art von Hingabe, die sich bis zur völligen Selbstaufgabe an das Andere verschenkt, ehe sie sich von ihm neu gestalten läßt. Und jede neue Landschaft verlangt wieder ein völliges Vergessen des Empfangenen, um sich voll im Betrachtenden entfalten zu können, so daß der Wandernde durch eine Kette von Metamorphosen schreitet, gegen alle Formen, die er am Wege trifft, die eigene eintauschend, bis alles, was die Außenwelt ihm geboten, ihm innerlich gleichsam organisch zu eigen geworden ist. Dann erst besitzt er jene Weite des Blickes, die ihm Jahre von bloßen Ziel-Reisen nicht zu geben vermögen, und führten sie ihn um die Erde. Dann nämlich sieht er erst hinter der Mannigfaltigkeit der Formen ihren ewigen, umfassenden Sinn, dann erkennt er in jedem fremden Besonderen die Verkörperung eines vertrauten Wesens, bis er alle Erscheinungen in ihren Übergängen und ihrem Vergänglichen als ein Gleichnis eines Ewigen verstehen kann.
Dies alles mag hier wie blasse Selbstverständlichkeit erscheinen, wie eine Einstellung, die man kaum bewußt zu wollen braucht, um sie schon im Wandern zu leben. Und doch ist gerade diese Hingabe an das Fremde so schwer, daß nicht Wissen um sie und Willen zu ihr hinreichen, um sie zu verwirklichen. Heute, da ich äußeren Abstand gewonnen von meiner Reisezeit, weiß ich, daß es fruchtlos ist, sich um die innere Einstellung zu mühen, wenn man sich nicht zuvor bedingungslos bereit findet, auch die äußere Form des Fremden anzunehmen. Gerade der Orient zeigt sich uns ja in einem dichten Netz von Äußerlichkeiten, die uns als Höflichkeitsphrasen, als sinnlose Gebärden erscheinen. Aber gerade das, was wir als äußerlichste Form empfinden, ist so tief im Orientalen verwurzelt, daß man sich nur an ihm zum Innern seiner Seele herantasten kann.
Und ohne seinen Blickpunkt vom Zentrum der fremden Seele aus zu nehmen, wird man weder Sitten noch Kultur noch Landschaft dieser Welt verstehen können, nicht einmal die Sprache ihrer Menschen. Was nützt das eifrige Studium aller grammatischen Regeln, was die Kenntnis sämtlicher Begriffe, wenn man nicht weiß, was sie meinen? Denn mit dem gleichen Begriff verknüpfen sich für den Orientalen andere Vorstellungen als für uns. Gewiß, den Sinn der Konkreta kann man durch Anschauung und Beobachtung erlernen; doch schwer wird es dem Außenstehenden schon, die Abstrakta und die Verben zu verstehen; denn was heißt dem Orientalen Wahrheit, was heißt ihm streben? Es hat mich viel bitteres Lehrgeld gekostet, dies alles zu lernen. Bei verwandten Völkern bieten ja, wenn einzelne Begriffe sich nicht decken, der Zusammenhang und die allgemeinen Gesetze der Verknüpfung ein Analogon, aus dem das Fehlende zu gewinnen ist. Hier aber fügt sich das Denken anderen Gesetzen, so daß logisch bündig erscheint, was wir nie als Schluß gelten lassen würden. Und so sieht sich der Fremde wieder vor die alte Forderung gestellt: willst du irgend etwas verstehen von dieser Welt, so mußt du sie aus ihrer eigenen Perspektive betrachten und nicht aus deiner, so mußt du an sie ihre eigenen Maßstäbe anlegen und nicht deine, die hier nur ein verzerrtes Bild geben.
Ich war Geograph genug, um Sehnsucht nach fremden Ländern zu haben und nach ihrem geistigen und seelischen Besitz. Ich hatte mich lange genug gesehnt, um glauben zu dürfen, daß diese Sehnsucht allein reinste Erfüllung fordern dürfte.
So begann ich meinen Weg. Wohin würde er mich führen?
Hafen von Passau.
Kasanenge im Donaudurchbruch durch das Banatergebirge.
Stimmen des Stromes.
- Der Bogen zum Orient. -
Durch die vertrauten, noch morgendlich stillen Straßen von Leipzig fuhr ich in den Oktobermorgen hinaus, und die Stimmung eines Abschieds auf ungewisse Zeit ließ mir all dies leis verklärt erscheinen. In Chemnitz verabschiedete ich mich von den Herren der Wandererwerke; mit sorgenvollem Kopfschütteln prüften sie nochmals die überladene Maschine durch und entließen mich mit mehr Zweifeln als Zuversicht, mehr Wünschen als Erwartungen. In Regensburg erreichte ich die Donau, die den ersten Teil meiner Reise wesentlich bestimmen sollte. Und weiter ging es auf bekannten Wegen: Passau, Linz, die Wachau, Krems, der Kahlenberg und, o wie freudig ich es grüßte, Wien.
Übrigens hatte ich all diese Tage gegen ein heftiges Fieber zu kämpfen gehabt, das ich einer bösen Erkältung auf der Herbstfahrt verdankte. Hier nun kam es so heftig zum Ausbruch, daß ich einige Tage das Hotelzimmer nicht verlassen konnte und das gerade in Wien, wo tausend Erinnerungen aus der Studentenzeit mich hinauslockten! Ich lag ruhelos und lauschte bis spät in die Nacht dem Singen der Geigen, den Donauwalzern und Wiener Liedern, die gedämpft von unten, vom Café, durch das Klirren von Geschirr und das Plaudern froher Menschen zu mir heraufdrangen. Diese Freude am müßigen Geplauder, die große Vorliebe fürs Kaffeehaus, dies Zuhause in der Öffentlichkeit ist der erste, noch schüchtern angedeutete Zug orientalischen Wesens im Bilde des rein deutschen Raums; denn hier in Wien beginnt der Weg nach Asien, der sich jetzt meinen Gedanken breitete, ehe er sich erfüllte.
Vom Stefansdom bis zur Hagia Sofia spannt sich ein Bogen von Übergängen, der sich nach Osten zu immer sanfter böscht, um endlich im Orient, wo die Übergänge zu Gleichklängen werden, zu verflachen. Dieser Bogen führt vom deutschen Tannenwald zur asiatischen Steppe, von weicher Anmut deutscher Mittelgebirge zu strenger Herbe horizontloser Ebenen, von Vielheit und Wechsel reicher Landschaftsformen zur Einheit und zum Uniformen, von Präzisierung zu Stilisierung. Dieser Bogen spannt sich vom deutschen Frühling