Fahrt und Fessel. Gustav Stratil-Sauer

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Название Fahrt und Fessel
Автор произведения Gustav Stratil-Sauer
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783942153201



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gedenke ich, ein dreißigjähriger Geograph, eine Reise von Leipzig nach Afghanistan anzutreten. Warum ich dies tue, und weshalb ich Ihnen davon schreibe, das lassen Sie mich im folgenden erklären:

      Vor kurzer Zeit hielt mein Lehrer, Geheimrat Volz, einen Vortrag über seine Forschungen im Urwald von Sumatra. Er sprach vom Dämmer des Rimba, der Mensch und Tier in seinen zwingenden Bann schlägt, von Urmenschen und Königstigern, vom Labyrinth der Riesenbäume und von dem Wunder der Farben, die der Tropenmorgen über den Horizont gießt. Kontraste und Harmonien, Bilder und Gestaltungen, alles war ihm frei aus der Fülle eines großen Erlebens zugeströmt. Noch weiß ich, wie ich an jenem Abend daheim versuchte, dem eben empfangenen Eindruck von neuem Gestalt zu verleihen, und wie vergeblich all mein Mühen war; denn die Bilder, die mir die Erinnerung wachrief, waren gleich starren Photographien ohne Schmelz und Farbe.

      Diese Stunde brachte mir eine bittere Erkenntnis, die weit mehr betraf als mein armes Eigenschicksal: die geistige Not der heranwachsenden Wissenschaftler. Fast alle unsere Lehrer konnten in ihrer Jugend in die Welt hinausziehen, um an der wachsenden Weite der Erfahrung ihr Wissen zu vertiefen; und wir? Wir kennen das Heulen der Granaten, wir kennen die müde Resignation von Abenden, da wir über den Büchern der Alten am Schreibtisch gesessen; aber wir kennen nur solche Entdeckungsreisen, die man mit dem Finger auf der Landkarte macht, und die einem nicht mehr geben können, als man in sie hineindeutelt. Unsere Lehrer schöpfen aus dem Grunde eines reichen Eigenerlebens, wir Jungen sind auf Erlernen allein angewiesen.

      Diese ganze Generation, die sich rüstet, die Kanzeln der Universität zu besteigen, kann gar keinen anderen Gesichtspunkt haben als den ihrer Schüler, da sie ihnen an Erleben nicht um einen Zoll voraus ist, und da doch lebendige Wissenschaft stets im Erleben verwurzelt ist. Die Angehörigen unserer Generation sind unterernährt an persönlichem Erleben, sind Gebetmühlen im Winde der Zeit, die das nachplappern, was andere empfunden und erschaffen haben.

      Die Wissenschaft ist wesenhaft bestimmt von ihrem Mittler, von der Generation, welche sie trägt. Doch die heutige Jugend muß in dem fruchtbarsten Entwicklungsstadium, wo die Seele noch proteisch neue Formen sucht, um darin ihrer Zeit und ihrem Wesen eigensten Ausdruck zu geben, im übernommenen Dogma der Alten erstarren. Und selbst im peinlichsten Übernehmen und Nachahmen kann es ihr nicht gelingen, das geistige Format ihrer Lehrer zu erreichen.

      So schließt sich der tragische Kreis, der in eiserner Umklammerung unsere Jugend gefangenhält. Spätere Generationen werden über uns hinwegschreiten, ohne vielleicht noch die Tragik zu ahnen, die uns den bittersten Kampf gab und doch jeglichen Sieg im Werke versagte.

      Der scholastische Geist, der sich aus den Exzerpten auf dem Schreibtische vor mir aufreckte, wuchs mir zum drohenden Gespenst. Eines sah ich mit schmerzender Klarheit: der umklammernde Ring mußte gesprengt werden. Damals nun faßte ich den Plan meiner Asienreise. Er ist nur die einfache Schlußfolgerung aus gegebenen Prämissen, ist mir nichts als das letzte Kapitel eines Entwicklungsromans, den unsere akademische Jugend heute erleben muß, ohne jedoch, ermüdet durch die Not der Konflikte, den Schluß nach eigenem Wollen wenden und aus eigener Kraft gestalten zu können.

      Dies ist die Vorgeschichte der Idee »Leipzig-Afghanistan«, die mir nicht als Expedition schlechthin, sondern als die gestaltgewinnende Sehnsucht einer ganzen Generation erscheint.

      Woher soll ich nun die Mittel zur Reise nehmen? Die wissenschaftlichen Gesellschaften, welche sonst die Auslandsreisen junger Gelehrter unterstützten, haben ihre Mittel der Inflation opfern müssen. Der Staat ist arm, Industrie und Handel müssen in dieser schweren Zeit genug für sich selbst kämpfen, so daß ich auch von dieser Seite nichts zu erwarten habe.

      Aber kann ich denn nicht wissenschaftliche Ziele mit wirtschaftlichen verbinden? Kann ich nicht der Industrie Dienste anbieten, deren Bezahlung mir die Reiseunkosten deckt? Ich faßte also den Plan, eine kleine »Mustermesse« aus den verschiedensten Erzeugnissen zusammenzustellen. Alles, was ich an und bei mir trage, soll ein Muster sein, und für jeden dieser Artikel will ich auf der Reise werben.

      Die Route der Reise ist mir eindeutig gegeben durch das Übereinstimmen kaufmännischer und wissenschaftlicher Erfordernisse: die Strecke Leipzig-Afghanistan erscheint mir besonders für kaufmännische Tätigkeit geeignet, weil sie durch Gebiete des Orients führt, die heute im wirtschaftlichen Erwachen stehen. Und die wissenschaftlichen Forschungen am Schwarzen Meer und im Hindukusch, die ich plane, schreiben mir den gleichen Weg vor.

      An Sie, hochverehrter Herr Graf, richte ich nun die Bitte: treten Sie in mein Reisekomitee ein! Ich will Ihnen dadurch weder große Mühen noch Verpflichtungen aufbürden; ich brauche ein Komitee nur zur Verwaltung der eingehenden Geldmittel, da ich mir selbst kein Verfügungsrecht darüber zugestehen möchte.

      Ich bin, Herr Graf,

      Ihr in vorzüglicher Hochachtung ganz ergebener

      Stratil-Sauer.

      Gereifte Pläne drängten zur Tat. Dieser Brief war der erste scheu tastende Schritt aus dem Reich der Träume in die Welt der Wirklichkeit. So töricht es an sich sein mag, stets wird man die Antwort des Schicksals auf den ersten Schritt, den man zu einem großen Unterfangen gewagt hat, symbolhaft für das Gelingen des Ganzen fassen und sich dadurch in der Gesamteinstellung zum Werk entscheidend beeinflussen lassen.

      Und ich bekam eine Zusage.

      Kühn gemacht durch diesen ersten Erfolg, suchte ich nun Unterstützung bei dem Meßamt für die Mustermessen in Leipzig. Ihm gegenüber wollte ich mich verpflichten, im Ausland Vorträge über die Leipziger Messe zu halten, Propagandaschriften zu verteilen, Persönlichkeiten zu suchen, die an wichtigen Orten das Meßamt vertreten könnten, und aus den einzelnen bereisten Gebieten Wirtschaftsberichte heimzusenden. Die Art, wie der Direktor Dr. Köhler mit lächelndem Schweigen meine Vorschläge entgegennahm, ließ mich immer eindringlicher reden und ihm die Vorteile meiner Angebote immer überzeugender entwickeln. Als ich geendet hatte, erklärte er sich bereit, dem Reisekomitee beizutreten. Seiner warmen Fürsprache habe ich es auch zu danken, daß der Verwaltungsrat der Mustermesse meinen Vorschlag annahm und mir eine Summe bewilligte, die etwa den fünfundzwanzigsten Teil der veranschlagten Reisekosten deckte.

      Noch fehlten freilich die übrigen vierundzwanzig Teile; allein bisher waren ja all meine Versuche erfolgreich gewesen: die Gesellschaft für Erdkunde zu Leipzig und prominente Persönlichkeiten gaben mir Empfehlungen, hatte ich nicht Grund, mit lachendem Optimismus in die Zukunft zu sehen? Geld und Aufträge mußten ja schnell zu beschaffen sein!

      So begann ich denn eine fieberhafte Tätigkeit. Eine große Schreibstube wurde bei mir aufgetan; Briefe wurden verfaßt, die den wissenschaftlichen und wirtschaftlichen Zweck der Reise ausführten, meine Projekte über Auslandsreklame und Werbung für den Absatz wurden schriftlich dargelegt, Vertragsentwürfe und Empfehlungsschreiben wurden vervielfältigt, und endlich mußte jedem Schreiben noch eine bunte Karte von Asien mit eingezeichneter Route beigefügt werden. Hunderten von deutschen Firmen bot ich an, gegen Stellung eines Musters und eine kleine Bezahlung für sie arbeiten zu wollen.

      Wochenlang hatte ich an diesen Eingaben gearbeitet. Nun kam die große Stille. Aber ich hoffte, daß sie nur eine kurze Phase vor dem Sturm sei. Längst war die angesetzte Frist verstrichen, da liefen endlich und sehr spärlich die ersten Antworten ein. Und es waren Absagen.

      Ich wartete weiter, mit zäher Ausdauer und Hoffnung. Stöße von Briefen hatte ich ja versandt, und täglich brachte der Bote mir nur drei oder vier dünne Kuverts. In kühl sachlichem, in warm bedauerndem oder in überlegen abratendem Tone gab man mir Absagen. Endlich der erste Auftrag darunter: ein Muster von Zigarren. Ich atmete auf. Neue Adressen wurden gesammelt, neue Angebote verschickt. Wieder ließ mich die Mehrzahl ohne Antwort, wieder flatterten die dünnen Absagekuverts heran. Allmählich liefen jedoch ein paar Aufträge dazwischen ein. Nach vier Wochen zog ich die Bilanz aus den gesammelten Schreiben. Was hatte ich zur Vertretung bekommen? Zervelatwurst, Rasierapparate, Federhalter, Kragen, Schrauben, einen Anzug, eine Hängematte, Rasiermesser, einen Sprechapparat, Hosenträger und Krawatten. Mit manchen von diesen Artikeln würde freilich wenig im Orient zu machen sein, andere wieder versprachen selbst bei gutem Absatz wegen ihres geringen Wertes nur geringen Verdienst. Bar Geld im voraus hatte ich kaum bekommen. Einzig mit dem Photomaterial hatte