Der Pilsener Urknall. Michael Rudolf

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Название Der Pilsener Urknall
Автор произведения Michael Rudolf
Жанр Сделай Сам
Серия
Издательство Сделай Сам
Год выпуска 0
isbn 9783941895874



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Hirnbezirken voran. Das Ergebnis ist Interpretationssache: Werden wir von den C2H5OH-Teilchen angeregt, oder lähmen sie nur hemmende Zentren? Unabhängig davon: Die gesellschaftlich überbaute, phylogenetisch jüngste, im Orbitalhirn repräsentierte Persönlichkeit zeigt zuerst Wirkungen, während die sogenannten Werkzeugfunktionen – Wahrnehmen, Denken, Sprache – später beeinträchtigt werden.

      Und zwar so: Je nach körperlicher Konstitution beginnt sich ab 0,5 Promille das Gesichtsfeld einzuschränken. Wesentliche Einflußfaktoren sind lokaler und meteorologischer Natur, aber auch Charakterstruktur und Ausgangsstimmung (Trinkaktivatoren und Trinkziel) des Biertrinkers. Je nachdem erfährt er Empfindungen von Zufriedenheit oder konträrer Niedergeschlagenheit, gefolgt von protrahierter Reaktionsfähigkeit und psychischer Entkrampfung. Die Risikobereitschaft nimmt zu, bis hin zum Angstverlust. Daneben macht sich ein ausgeprägtes Großartigkeitsgefühl breit, welches wir auch mit dem Begriff Sorglosphase umschreiben. Die Sinnkontinuität bleibt erhalten.

      Ab 1,2 Promille beobachten wir eine gewisse Disharmonie des muskulären Zusammenspiels. Im Verein mit dysphorischen Stimmungen werden nur noch Bruchstücke von Sätzen oder Ausrufe in lauter Form vorgebracht. Die Merkfähigkeit verringert sich rapide (Inselgedächtnis). Das kann für den Beobachter mitunter stark unterhaltsame Züge aufweisen. Die erkenntnispraktischen Turbulenzen umrahmen sämtliche lebensweltlichen Teilgestade: Innerhalb einer biertrinkenden Gruppe entstehen Schlägereien aus geringstem Anlaß, beziehungsweise ohne daß eine thematische Unterschiedlichkeit der Auffassungen begründet ist. Oder alle am Tisch sind Freunde, die geheimnisvolle erste Millionstelsekunde nach dem Pilsener Urknall läuft in Superzeitlupe vor dem inneren Auge des Biertrinkers ab, Black Sabbath sind auf einmal besser als Deep Purple, selbst die holzbusige Kellnerin verliert schlagartig wesentliche Komponenten ihrer sexuellen Unattraktivität, und selbstverständlich wird jetzt noch eins getrunken!

      Erst der schwere Rausch, verursacht ab etwa 2,5 Promille, läßt lebensbedrohliche Ausfallerscheinungen sämtlicher Funktionen und Reaktionen zu. Das Erspüren der sozialen Situation ist erheblich gestört, wenn nicht ausgehebelt. In einem derartigen Intoxikationszustand sind Handlungen, die einen Sinnbezug zeigen, selten.

      Wie oben erwähnt, nimmt sich die Leber des Ethanolabbaus an, denn ein dauerhafter Verbleib dieser beliebten Erfrischungssubstanz kann aus toxikologisch eindeutigen Gründen nicht befürwortet werden. Zumal in der Abflutungsphase unerbittlich Ermüdungserscheinungen und Energieverlust dominieren. Im Volksmund wird die Leber daher auch als »Entgiftungsstation« verhöhnt. Sie bedient sich während dieser Verrichtungen des von ihr monopolistisch produzierten Enzyms Alkoholdehydrogenase. Dieses Enzym destruiert das Bierethanol unter tatkräftiger Zuhilfenahme von Wasserstoff (daher Flüssigkeitsbedarf!) mit einer gleichbleibenden Geschwindigkeit von annähernd 0,1 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Stunde bei den Herren und etwa 0,085 Gramm bei den Damen. Eine strenge Kommission wacht über die exakte Einhaltung dieses ehrgeizigen wenngleich nachgewiesenermaßen frauenfeindlichen Zeitplanes. Für die Anwender regelmäßiger Ethanolzuführungen steht zudem ein ergänzender Enzymkatalog zur Verfügung, den wir MEOS abkürzen: Microsomal Ethanol Oxidizing System. Hier spielt der Sauerstoff eine gewisse Rolle (bleibt nach der Abspaltung von Wasserstoff übrig; tja, wohin damit?). Rivalitäten oder Kompetenzüberschreitungen zwischen beiden Abbaumöglichkeiten sind nicht belegt. Zerlegt und damit ohne Frage entgeistigt wird das Bierethanol über die Zwischenstufe des übelriechenden Aldehyds, um dann endgültig in der Anonymität würdeloser Kohlenwasserstoffe unterzutauchen. Verständlich, daß das im Bier enthaltene Ethanolträgermedium Wasser sich nicht für diese Exekutionen hergibt und lieber schnellstens über die Harnröhre den Organträger des Biertrinkers verläßt, um nicht in Loyalitätskonflikte zu geraten.

      NEBENSCHAUPLATZ REZENS

      Rezens bedeutet Spritzigkeit und ist visuell am Verhalten der Kohlendioxidbläschen beim Einschenken zu beobachten: Haben sie es eilig, die Flüssigkeit zu verlassen, um nur flüchtigen Schaum zu bilden, oder spielt sich das Ganze in graziöser Zeitlupe ab – ein sich Wiegen und Schaukeln, die Trennung fällt schwer, letzte Grußadressen werden ausgetauscht, leichtfertig ewige Treueschwüre geleistet. Zum Abschied und Dank formen die Bläslein Schaummassive, um das geliebte Bier letztmalig uneigennützig vor dem bösen Sauerstoff zu schützen. Die Rezens markiert einen wesentlichen Bestandteil der physischen Begutachtung eines Trinkbieres. Wir nehmen das durch ein angenehmes, Frische vermittelndes Kribbeln auf der Benutzeroberfläche unserer Zunge wahr. Die Kohlendioxidbläschen eines guten Bieres (Westmalle Tripel, Hoegaarden Witbier) sind sowieso ein übermütiges Völkchen und, das ist eine ihrer biochemischen Besonderheiten, besitzen die Eigenschaft, ausgesuchten Geschmacksknospen geneigter Trinker ihre besten Hopfenfreunde persönlich vorzustellen oder sie, wo das in der Kürze der Zeit nicht möglich ist, mit einer Unzahl kleinster, aber leidenschaftlichster Küsse zu überziehen und damit Genuß und Genußbereitschaft in nie gekannte Regionen zu überführen. Letzthin aber purzeln die Teilchen fröhlich in den Magen, um via Aufstoßen neues Leben und neues Glück in der freien Atmosphärenwirtschaft zu beginnen.

      Bei schlechten (Beck’s, König) und noch schlechteren Bieren (Warsteiner) ist das alles ganz anders. Die Betreffenden formen eine nur nachlässige Lust zur Bläschenbildung aus, zerplatzen meistens schon vor dem Mund, hängen sich in ihrer Schlaffund Trägheit an alte Malzinvaliden oder Hopfenrentner, deren abstoßendes Wesen sie durch ihr Eigengewicht ins Unermeßliche steigern und wahre Greueltaten auf der Zunge anrichten.

      Das Aufstoßen ist technisch betrachtet eigentlich nichts weiter als das Entweichen des Kohlendioxids aus dem Magen. Dieses Gas wird bei der Flüssigkeitsaufnahme moussierender Getränke (Bier) zwangsläufig freigesetzt und verläßt, nachdem es im Verbund mit der Flüssigkeit dem Trinker ein Gefühl von Spritzigkeit und Frische vermittelt hat, augenblicklich den Wirtsorganismus über den weit geöffneten Mund. Trägere Gaskollektive oder welche, die sich wieder mal nicht trennen können, entweichen über den Anus als sogenannter Bierfurz. Anderenfalls drohen Auftreibung des Leibes und Zwerchfellhochstand.

      Der Körper bedient sich bei diesem Vorgang der rückläufigen Peristaltik, also Antiperistaltik. Einzelne oder mehrere Gastrauben werden nach oben transportiert und zwar durch zirkulär einschnürende Kontraktion der Speiseröhrenmuskulation, die sich nämlich, wie schön das doch immer wieder klappt, ebenfalls in die gewünschte Transportrichtung bewegt.

      Wir unterscheiden das ganz gewöhnliche, auch ungewollte Aufstoßen, ein der simplen, natürlichen Notwendigkeit Rechnung tragendes Gebaren, gepaart mit sich unmittelbar anschließender in Mimik und Gestik breit dokumentierender mentaler Indisponiertheit, besser peinlicher Berührtheit, während sich die folgenden Äußerungsformen unter dem Oberbegriff des gewollten Aufstoßens zusammenfassen lassen.

      Einmal das kontemplative Aufstoßen: ein eher sich selbst vergewissernder Akt mit verhaltener Lautformung, der meist von einsamen Biertrinkern vollzogen wird, die sich dabei gleichzeitig der noch vorhandenen Funktionstüchtigkeit ihres Verdauungssystems versichern. Das exzessive Aufstoßen hingegen gilt nur in seiner klangästhetischen Bewertung als umstritten: In erster Linie Stimmungen und Meinungen vermittelnd, als quasi unterste, aber nichtsdestotrotz agilste Verständlichmachung sozial grundwichtiger Sachverhalte wie »Mir hat’s geschmeckt«, »Mir geht’s pfundig« oder »Mir ist heut’ so«, wird mit dem exzessiven Aufstoßen aus dem Gefühl des Wohlbehagens heraus häufig erneuter (Bier-)Trinkwunsch paraphrasiert und von den meisten Bedienungskräften öffentlicher Schankstätten auch so verstanden.

      Beschlossen und abgerundet wird die Aufstoß-Palette vom aggressiven Aufstoßen. Hier werden über die mehr oder minder ausgeprägte Fähigkeit zur absichtlichen Lautbildung aus der Tiefe des Rachenraumes hierarchische Festlegungen getroffen, die fraglos im Trinkergruppenverhalten fußen und auf das unmittelbar bevorstehende Herauskehren anderer im Gruppenkontext erheblich scheinender Fähigkeiten schließen lassen. Anwendungsbereiche finden sich etwa vor der Trinkhalle, im Biergarten, beim Kirchen- oder Männertag und beim kollektiven Fernsehempfang. Eine Sonderform, das sogenannte Wett-Rülpsen, soll umworbenen weiblichen Biertrinkpartnern Paarungsbereitschaft, mindestens aber den Willen zum gemeinsamen Ausschlafen des Rausches signalisieren. Hierbei beobachten wir jedoch meist ein jähes Umschlagen der imponierenden in die desintegrierende Wirkung.