Название | Trips & Träume |
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Автор произведения | Klaus Fischer |
Жанр | Языкознание |
Серия | |
Издательство | Языкознание |
Год выпуска | 0 |
isbn | 9783862870196 |
»Richte Huguette einen lieben Gruß von mir aus.«
»Wenn es einer versteht, dann meine Karrieremama«, brummte ich. Mehr zu mir selbst. Mila sollte es gar nicht hören.
»Fang nicht schon wieder an!«, zischte sie und ging los. Ohne zurückzuschauen, marschierte sie durch die Drehtür des Bürohauses.
Einen Moment überlegte ich, ihr zu folgen. Doch dann legte ich den Gang ein und fuhr los.
All dies ging mir durch den Kopf, während ich mit hundertsechzig über die Autobahn raste und auf die Straße starrte, als könnte ich dort die Lösung für Milas und meine Probleme finden.
»Papa, du hörst mir überhaupt nicht zu!«
»Entschuldige, Liebes. Was ist denn?«
»Kannst du endlich die blöde Musik ausmachen?«
Eine Stunde später passierten wir das Ortsschild. Ich wollte gerade das Radio ausstellen, das ich für Maja eingeschaltet hatte, da kam sie, diese Melodie. »Lauter, das ist ein tolles Lied«, quietschte Maja und klatschte in die Hände.
Ja, der Song hatte was, die Melodie rührte an und ging unter die Haut. Das Stück stammte aus einer dieser Wir-suchen-den-Pop-Superstar-Shows. Merkwürdig, ich hörte das Lied erst zum dritten oder vierten Mal. Aber ich hatte das Gefühl, die Melodie schon länger zu kennen.
Woher nur? Es wollte mir partout nicht einfallen.
Ich lenkte den Wagen in die Gymnasialstraße, vorbei an meiner alten Schule. Ich bog links ab und hielt, warum auch immer, mitten auf der Fahrbahn an.
Keine Fußgänger, kein weiteres Auto. Keine Straßenbeleuchtung. Ich beugte mich über das Lenkrad und schaute hinaus in die Nacht. Dann erkannte ich die Treppe wieder, davor das kleine Stück Rasen und den Parkplatz.
Im Haus auf der gegenüberliegenden Seite war einst das Hot Rats untergebracht, der Szeneladen, der abgefahrenste Freakschuppen in der ganzen Gegend. Hier traf sich die Korona, das Rats war unser Wohnzimmer.
Plötzlich tauchten längst vergessen geglaubte Bilder aus den Tiefen der Erinnerung vor meinem inneren Auge auf.
Manchmal waren es bis zu zwanzig Freaks, die auf der Treppe saßen, jemand packte eine Gitarre aus, Mark holte seine Bongos hervor, und dann wurde gejammt. Ein Joint ging herum, und Kief, der Besitzer des Rats, erschien am Eingang. Im Sommer klemmte er immer den Keil in die Tür. Von drinnen dröhnte »Ruckzuck« von Kraftwerk hinaus auf die Straße.
Doch da, wo einmal das Rats residierte, gab es nur noch Fenster mit herabgelassenen Rollläden, stinknormale Wohnungen.
Ich fuhr an. In diesem Moment überquerte eine Gestalt die Straße.
Ich erkannte schemenhaft den hochgezogenen Kragen einer Regenjacke und trat voll auf die Bremse. Es war ein Mann, da war ich mir sicher, trotz der langen Haare, die patschnass an seinem Kopf klebten. Ohne Eile schlurfte das Wesen, das aus dem Nichts aufgetaucht war, durch das Licht der Scheinwerfer, seine Bewegungen kamen mir merkwürdig vertraut vor.
Fünf Minuten später waren wir aus dem Ort raus. Hinter der Feuerwehr ging es links in die Siedlung, in der Huguette wohnte. In der Straße Zum Karstel, Hausnummer sechs, hielt ich an und stellte den Motor ab. Obwohl nichts passiert war, pochte mir das Herz bis zum Hals.
*
Nach dem Essen – ihre selbstgemachte Lasagne war köstlich gewesen – hatte Huguette Maja ins Bett gebracht. Früher hatte Huguette nie gekocht. Meine Mutter war mit anderen Dingen beschäftigt, hauptsächlich mit ihrem Aufstieg zur Landtagsabgeordneten.
Den Haushalt hatte Auguste, meine Großmutter, in deren altem Zimmer Maja jetzt schlief, geführt. Mit neunundachtzig Jahren war Auguste an Herzversagen gestorben – vor fünfzehn Jahren.
Ich war also unter der Obhut von zwei Frauen aufgewachsen. Kurz nach meinem sechsten Geburtstag hatte Huguette die Scheidung eingereicht. Meinen Vater bekam ich kaum noch zu Gesicht, bald gar nicht mehr. Irgendwann hatte er einen neuen Job in einer anderen Stadt, in der er eine neue Familie gründete. Huguette und ich saßen im Wohnzimmer, sie im Sessel, ich auf dem Sofa, vor uns auf dem Tisch zwei Gläser Weißwein.
Sie trug die weißen Haare im praktischen Kurzschnitt. Braune Hosen, beige Bluse und Pullunder mit V-Ausschnitt.
1933 in Toulouse geboren, war Huguette zwar nicht mehr die Jüngste, das hinderte sie jedoch nicht daran, ausgesprochen aktiv und ständig in Bewegung zu sein. Zweimal in der Woche ging sie ins Hallenbad, außerdem traf sie sich mit einem Rentnerclub, der einmal im Monat nach Köln fuhr. Dort besuchten sie die Oper oder gingen ins Theater. Huguette surfte im Internet und verschickte E-Mails. Sie wanderte gern und erledigte ihre Einkäufe mit dem Fahrrad oder dem Bus.
Bis vor fünf Jahren war sie sogar jeweils im August zum Segeln ans IJsselmeer gefahren. Das Auto hatte sie verkauft, den Führerschein abgegeben. Wenn sie uns besuchte, nahm sie den Zug. Eine Seniorin wie aus einer Broschüre des Bundesfamilienministeriums. Sie hatte nie wieder geheiratet. Ihr Beruf war ihr Lebensinhalt gewesen.
»Du bist sauer, weil Mila in die Redaktion gegangen ist«, sagte sie.
»Eigentlich will ich nicht mit dir darüber reden.«
»Entschuldige, aber was ist dir denn über die Leber gelaufen?«
»Ich habe eine Mutter, die die besten Jahre ihres Sohnes verpasst hat, weil sie immer nur arbeiten war. Jetzt habe ich eine Frau, die ebenfalls ihren Job der Familie vorzieht.«
»Lass deine schlechte Laune nicht an mir aus«, bemerkte sie.
Ich verkniff mir eine Antwort und griff nach der Flasche, um Wein nachzuschenken. Da sah ich es.
Die Zeitung auf dem Tisch war mir nicht aufgefallen. In großen Lettern stand da ihr Name. Es konnte kein Irrtum sein.
Nach langer Krankheit verstorben. Beisetzung am 27. Dezember.
27. Dezember, das war ja morgen. Ich hielt Huguette die Zeitung hin. »Warum hast du nichts gesagt?«
»Ich wollte warten, bis wir allein sind. In der Stadt erzählt man sich, sie hatte Krebs.«
Karen, das schöne Hippie-Mädchen von einst, war tot.
Einen Augenblick lang hatte ich das Gefühl, die Wände des Zimmers gerieten ins Wanken. Als sich alles wieder beruhigte, sah ich ihr Gesicht. Sie lachte ihr strahlendes Lachen, das ich immer an ihr gemocht hatte. Sie war einmal meine beste Freundin, damals, als das Musikfieber ausbrach. Mit einem Zug trank ich den Wein aus. Ich blieb eine halbe Stunde bei Huguette sitzen, dann ging ich ins Bett.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, überraschte Huguette Maja und mich mit einer kleinen nachweihnachtlichen Bescherung. Drei große Pakete thronten auf dem Wohnzimmertisch. Das Puppenhaus für Maja, einen neuen Drucker für mich und ein Laptop für Mila.
Ich war verblüfft. Dafür, dass sie stets versuchte, Mila als Rabenmutter hinzustellen, war der Laptop ein ungewöhnlich großzügiges Geschenk. Dass ich einen neuen Drucker brauchte, musste Mila ihr gesagt haben.
Ich griff in die Jackentasche und holte das Opernglas heraus. Es steckte in einem rechteckigen Etui; zusätzlich klemmte noch ein Briefumschlag unter der Schleife. Darin befanden sich zwei Karten für Die Zauberflöte in der Frankfurter Oper. Die Aufführung hatte gute Kritiken bekommen.
Ich half Maja beim Aufbau des Puppenhauses. Und war nur halb bei der Sache. Ständig blickte ich auf die Uhr.
»Maja, ich muss los, Papa hat noch einen Termin.«
Sie hörte gar nicht hin, so berauscht war sie von dem neuen Spielzeug. Ich stand im Flur, als Huguette aus der Küche rief: »Maja, deine Mama ist am Telefon.«
»Ich bin weg«, sagte ich.
Sie schüttelte den Kopf. »Willst du nicht mit Mila sprechen?«
»Sag du ihr, was los ist.«
Ich sog die frische Morgenluft ein,