Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Группа авторов

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Название Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082139



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Frauen dar. Die systematische Aufarbeitung der Schwulenverfolgung im Ruhrgebiet zwischen 1933 und 1969 lässt ebenfalls auf sich warten, aber auch die Rolle staatlicher und städtischer Instanzen von der Medizin über die Jugendämter bis zu den psychiatrischen Anstalten bei der Verfolgung bis in die 1960er und 1970er Jahre.

      Wie gestaltet sich die Erinnerungskultur in Bezug auf schwule Männer und lesbische Frauen? Welche Erfahrungen wurden in den Mahn- und Gedenkstätten, den historischen Vereinen und den Archiven der Region gemacht? Wie lässt sich der Unterdrückung lesbischer Frauen angemessen gedenken? Welche Formen nahm die Selbstbehauptung zwischen Subkultur und Integration ein? Welche Rolle spielten die Städte der Region nach der Liberalisierung des Strafrechts bei der Zulassung schwuler und lesbischer Etablissements und Vereine, bei der Genehmigung von Demonstrationen, bei der allmählichen Zurückdrängung von Repressionen? Welche Erkenntnisse bietet die Untersuchung der schwulen und lesbischen Hochschulgruppen in Bezug auf das Entstehen einer homosexuellen Bewegung, auch des Kommunikationscentrums Ruhr (KCR), des ältesten noch bestehenden Lesben- und Schwulenzentrums in Deutschland? Dessen über 40-jährige Geschichte harrt noch immer einer wissenschaftlich fundierten Aufarbeitung: Noch sind Quellen vorhanden, noch leben die Zeitzeug_innen. Und es lässt sich der Frage nachgehen, welche Bedeutung die bürgerliche Homophilenbewegung im Ruhrgebiet einnahm. Welche Auseinandersetzungen gab es zwischen ihr und der neuen Schwulen- und Lesbenbewegung der 1970er Jahre? Ein noch völlig unbeackertes Feld schließlich ist die Geschichte bisexueller, transsexueller und intersexueller Menschen an der Ruhr, wobei zu erwarten steht, dass die Quellenlage noch sehr viel schlechter als bei der Situation der Homosexuellen sein dürfte. Aber auch hier lohnen die Anstrengungen. Auch fehlt es an vergleichenden Studien sowohl innerhalb des Ruhrgebiets als auch zwischen verschiedenen Regionen der Bundesrepublik.

      Wenn der von der Dortmunder Tagung ausgehende starke Impuls nicht wirkungslos verpuffen soll, bedarf es der weiteren Vernetzung aller zu diesen Themen Forschenden. Es muss nicht immer eine ganztägige Veranstaltung werden, eine Diskussionsrunde ein- oder zweimal im Jahr, bei der aktuelle Projekte vorgestellt, aber auch Probleme besprochen werden, wäre bereits weiterführend. Wenn es der Tagung und diesem Tagungsband gelingen sollte, Initialzündung für eine kontinuierliche Zusammenarbeit zu sein, versprechen die kommenden Jahre einen reichen Forschungsertrag. Dazu können auch die Archive und Museen der Region ihren Beitrag leisten und sich verstärkt diesem Thema widmen. Die Archive könnten beispielsweise entsprechende Archivalien erschließen, Museen gezielte Sammlung anlegen, aber auch die Schwulen- und Lesbenbewegung selbst könnte ein dem Centrum Schwule Geschichte Kölns (CSG) oder dem Schwulen Museum* Berlins vergleichbares Archiv auf die Beine stellen.

      Zum Schluss heißt es, Dank zu sagen für die Unterstützung bei der Vorbereitung und der Durchführung der Tagung und für das Zustandekommen des Tagungsbandes. Der Dank gilt der Stadt Dortmund als dem Schirmherrn, der Bundesstiftung Magnus Hirschfeld, dem Schwulen Netzwerk NRW und der Landesarbeitsgemeinschaft Lesben in NRW als den Geldgebern, dem Lesben- und Schwulenzentrum KCR und der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache als Veranstaltungsorte, dem Medienprojekt Queerblick und Stefan Nies für ihre technische Unterstützung, den Moderatorinnen und Moderatoren Manuel Izdebski und Frank Siekmann, den Referentinnen und Referenten, den Autorinnen und Autoren der Beiträge dieses Bandes, den vielen helfenden Händen, besonders denen der Teams des KCR und der Steinwache, und last, but not least Hans-Jürgen Vorbeck, Daniel Thäsler und Francesco Menga.

       Teil 1

      

Entrechtung und Verfolgung

       Wolfgang D. Berude

      „Alle sind nach meiner Meinung typische Homosexuelle”

       Der Essener Theaterskandal 1936

      Jene Lokale, in denen ausschließlich oder überwiegend Personen verkehrten, die „der widernatürlichen Unzucht huldigen”, seien zu schließen, ordnete der kommissarische preußische Ministerpräsident Hermann Göring am 23. Februar 1933 an. Damit begann die sich zunehmend verschärfende Verfolgung der Homosexuellen unter dem Nationalsozialismus. Auf Grundlage dieser Verordnung verfügte der Essener Polizeipräsident Anfang April die Schließung eines Trefflokals, das in den 1920er Jahren über die Stadtgrenzen hinaus bekannt gewesen war: das Eldorado am Gerlingplatz 4. Zur Begründung führte er an, es handele sich um eine Schankwirtschaft, „die überwiegend von Homosexuellen besucht wurde”. Am 2. Mai wurde das Lokal geschlossen, am 10. Mai organisierten die Nazis vor dem Lokal auf dem Gerlingplatz die Bücherverbrennung. Der Aktion zur Vernichtung sogenannter Schmutz- und Schundliteratur fielen auch die Arbeiten des Sexualwissenschaftlers Magnus Hirschfeld zum Opfer, eines Vorkämpfers für die Abschaffung des § 175 StGB.15

      Damit begannen die Repressalien gegen gleichgeschlechtlich orientierte Männer und Frauen. Im Juni 1934 wurden der SA-Stabschef Ernst Röhm und ca. 200 weitere SA-Führer im Deutschen Reich umgebracht, um die SA als Konkurrent um die Macht im Reich auszuschalten. Die NS-Propaganda beschuldigte viele einer homosexuellen Veranlagung. Adolf Hitler selbst gab den Befehl zur „rücksichtslosen Ausrottung dieser Pestbeule”.16 Im September 1935 wurde der Strafrechtsparagraf 175, der sexuelle Handlungen zwischen Männern unter Strafe stellte, deutlich verschärft. 1936 wurde in Berlin die Reichszentrale zur Bekämpfung der Homosexualität und der Abtreibung gegründet, um die Verfolgung von Homosexuellen systematisch angehen zu können.

      Auch in Essen nahm die Verfolgung zu. Bei einer Razzia in der Wirtschaft Schmitz, Ecke Steeler- und Söllingstraße, nahm die Polizei etwa 60 bis 80 Personen fest – unter ihnen auch ein Staatsanwalt. Bis Ende April 1936 wurden erneut mehr als 50 Männer festgenommen. Am 25. September 1936 verurteilte die Erste Große Strafkammer des Landgerichtes 14 Angeklagte, sie stammten aus unterschiedlichen Schichten und Berufsgruppen. Einer der Verurteilten war ein 18-jähriger Autoschlosser, der nach der Verbüßung seiner Gefängnisstrafe ins KZ Sachsenhausen überführt wurde. Von dort aus folgten Jahre in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Dachau. Dokumentiert sind die vergeblichen Bemühungen seiner Eltern und Geschwister um Begnadigung. Der Bedarf an wehrfähigen Männern für den Krieg rettete den jungen Mann schließlich vor weiterer Lagerhaft: Am 11. Juni 1943 entließ man ihn aus dem Lager mit der Auflage, unverzüglich dem Einberufungsbefehl zur Wehrmacht zu folgen.

      Zu den NS-Maßnahmen zur vorbeugenden Verbrechensbekämpfung, die alle sogenannten Volksschädlinge erfassen sollten, gehörte auch die Verhängung der sogenannten Vorbeuge- oder Schutzhaft und die willkürliche Einweisung in Konzentrationslager. Das belegen zahlreiche Gestapo-Akten, die die Verfolgung Essener homosexueller Männer belegen. „Da die Ermittlungen einen derartigen Umfang angenommen haben, daß eine sachgemäße Bearbeitung in der kurzen zur Verfügung stehenden Zeit nicht möglich ist […], halte ich Schutzhaft bis auf weiteres für dringend erforderlich”, heißt es etwa in einem Brief vom 7. April 1936.17 Auch sind Suizide in der Gefängniszelle aus Angst vor Misshandlung und aus Scham in den Akten der Essener Gestapo dokumentiert. Ein ehemaliger Kellner, der vor Gericht sein gegenüber der Gestapo abgelegtes Geständnis widerrief, wird in indirekter Rede mit den Worten wiedergegeben, „unter Druck erreichte man meine Geständnisse – der vernehmende SS-Oberscharführer habe eine Peitsche in der Hand gehabt und […] Kastration und Konzentrationslager angedroht. Er habe das Geständnis nur zu dem Zwecke abgelegt, um nicht öfter vernommen zu werden”.

       „Homosexuell veranlagte Angestellte der Essener Bühnen”

      Im Frühjahr 1936 folgte mit dem Essener Theaterskandal eine Gestapo-Aktion gegen Homosexuelle. Wie weit seine Wellen schlugen, wird nicht zuletzt daran deutlich, dass Reichspropagandaminister Joseph Goebbels ihn in seinem Tagebuch vermerkte. Drei Jahre zuvor war das Essener Theaterensemble von rund 20 jüdischen Künstlern und sogenannten Salonbolschewisten „gesäubert” und mit Alfred Noller ein linientreuer Intendant eingesetzt worden. Damit standen die Essener Bühnen ganz „im Dienste der nationalsozialistischen Kulturpolitik”.18 Im Zusammenwirken mit Oberbürgermeister Dr. Theodor Reismann-Grone propagierte Alfred