Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Группа авторов

Читать онлайн.
Название Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung
Автор произведения Группа авторов
Жанр Документальная литература
Серия
Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082139



Скачать книгу

heute noch in den anderen 52 Städten und Gemeinden des Ruhrgebiets.8

      So viel ist sicher: Die Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität im Ruhrgebiet stellt noch immer eines der drängendsten Desiderate in der lokalen wie der regionalen historischen Forschung dar. Damit fällt das Ruhrgebiet auch deutlich ab gegenüber anderen deutschen Ballungsregionen wie Berlin, Hamburg oder auch Köln.9 Noch immer fehlen sowohl ein umfassender Überblick zur Entwicklung in der Region als auch lokale Fallstudien in ausreichender Anzahl und Tiefe. Vereinzelte Initiativen und engagierte Einzelpersonen, die sich des Themas bisher annahmen, konnten der Nichtbeachtung in Archiven und Universitäten der Region, aber auch in den historischen Vereinen nur wenig entgegensetzen. In der etablierten Geschichtswissenschaft, in den kommunalen Archiven und Geschichtsvereinen der Region, ihren Gedenkstätten, in der allgemeinen Erinnerung an das Vergangene ist das Thema offenkundig noch längst nicht angekommen, auch wenn, anders als noch vor wenigen Jahrzehnten, den zum Thema Forschenden in den Institutionen kaum mehr Gegenwind entgegenschlägt.10

      Ziel der am 14. November 2015 in der Dortmunder Mahn- und Gedenkstätte Steinwache stattgefundenen Tagung war es denn auch, geltend zu machen, dass Homosexuelle einen Platz in der Erinnerungs- und Geschichtskultur des Ruhrgebiets einnehmen. Zu diesem Zweck galt es, in einem ersten Schritt all diejenigen zusammenzuführen, die zu diesem Themenfeld gearbeitet haben oder aktuell arbeiten. Denn die bisherigen Forschungen zur Geschichte der Homosexuellen und der Homosexualität im Ruhrgebiet blieben unkoordiniert und unverbunden. Zur Besonderheit des Ruhrgebietes gehört es, dass die Region, obwohl als homogener Raum empfunden, vielfach zersplittert und in sich differenziert ist. Trotz der Nähe der Städte zueinander fehlt es oft an Zusammenarbeit und Zusammengehörigkeitsgefühl.

      Als Initiator der Tagung hat sich der 2003 von Historiker_innen und Laien gegründete Arbeitskreis Schwule Geschichte Dortmunds das Forum Geschichtskultur an Ruhr und Emscher gesucht, ein seit 1992 bestehendes offenes Netzwerk zwecks Erfahrungs- und Informationsaustausch innerhalb der Geschichtsszene des Ruhrgebiets, zum Teil zu wenig bearbeiteten Themenfeldern.11 Gemeinsam wollen sie die Zusammenarbeit lokaler Initiativen zur schwulen und lesbischen Geschichte verbessern und fördern und zugleich den Kontakt zu den Institutionen der Geschichts- und Sozialwissenschaften stärken. Zudem möchten sie Interessierte aus Wissenschaft und Laienschaft anregen, sich mit den umrissenen Themen zu befassen und zu ihnen zu forschen, um die sogenannten weißen Flecken in der Geschichte zu füllen.

Bild1

      Der Tagungsband lässt eine breite Erinnerungskultur um die schwul-lesbischen Lebenswelten an Ruhr und Emscher erkennen, die jedoch der systematischen Erfassung harrt.12 Die Beiträge verdeutlichen, dass die verschiedenen Aspekte der Verfolgung und die Erinnerung daran breiten Raum einnehmen, was zweifellos ein notwendiges Unterfangen ist, wofür auch der Tagungsort stand, die Mahn- und Gedenkstätte Steinwache.13 Sie erhellen aber zugleich, dass Schwule und Lesben an der Ruhr ihre Lebenswelten, die ihnen die notwendigen Entfaltungsmöglichkeiten zwischen Subkultur und Integration boten, suchten und fanden. Auch wenn der Band nicht alle Themen ausreichend ausloten kann, so zeigt er doch, dass sich selbst bei der oftmals schlechten Quellenlage ein spannendes Bild der Schwulen und Lesben an Ruhr und Emscher zeichnen lässt.

      Zu Beginn des ersten Teils über Entrechtung und Verfolgung der Homosexuellen zwischen Nationalsozialismus und Adenauer-Ära erinnert der Essener Historiker Wolfgang D. Berude an den Essener Theaterskandal. Als Otto Zedler, ein beliebter Schauspieler der Essener Bühnen, 1936 als Karnevalsprinz gefeiert wurde, nahm die Gestapo den schon seit längerem der Homosexualität Verdächtigen ins Visier. Mithilfe von Denunzianten gelang es, Zedler mit weiteren am Theater beschäftigten Männern vor Gericht zu stellen. Dennoch musste die Gestapo eine Niederlage hinnehmen, als ein Angeklagter freigesprochen wurde, nachdem ein Belastungszeuge sein zuvor gegenüber der Gestapo gemachtes Geständnis zurückgezogen und ausgesagt hatte, er sei mit Gewalt dazu gepresst worden. Berude gibt eine detaillierte Schilderung der Abläufe aufgrund aufgefundener Akten der Gestapo.

      Der Dortmunder Historiker Frank Ahland widmet sich der Schwulenverfolgung in Dortmund im Nationalsozialismus. Anhand der Haftbücher des Dortmunder Polizeigefängnisses Steinwache hat er rund 650 aufgrund homosexueller Handlungen eingelieferte Männer ermittelt. Seine Auswertungen lassen eine intensive nächtliche Verfolgung Homosexueller in öffentlichen Toiletten- und Parkanlagen seitens der Polizei, aber auch einen hohen Anteil denunzierter Männer erkennen. Sie zeigen zudem einen engen, bisher wenig beachteten Zusammenhang des massiven Anstiegs der Verfolgung nach einer Rede Heinrich Himmlers am „Tag der deutschen Polizei” im Januar 1937, in der er in der Homosexualität eine Bedrohung des nationalsozialistischen Männlichkeitskultes erkannt zu haben glaubte. Eine umgehend gestartete Pressekampagne diente der ideologischen Rechtfertigung einer verstärkten Verfolgung durch Polizei, Gestapo und SS. Ahland verweist damit die Einschätzung des Bundesverfassungsgerichts, das 1957 darauf verwies, dass die Verschärfung des § 175 im Jahr 1935 rechtsstaatlich zustande gekommen und daher kein NS-Unrecht sei, ins Reich der Legende.

      Einen Seitenwechsel vollzieht der Weetzener Historiker Alexander Wäldner. Anhand von Dortmunder Beispielen begibt er sich auf die Täterseite, die noch immer zu selten in den Fokus genommen wird. Während die meisten wegen homosexueller Handlungen verfolgten Männer ihre Rehabilitierung nicht mehr erlebten und die sehr wenigen noch lebenden Betroffenen bis heute aus Scham dazu schwiegen, konnten die Verfolger in den Reihen der Polizei nach 1945 ihren Dienst weiter versehen und waren teils weiterhin an der Verfolgung homosexueller Männer beteiligt. Wäldner hat die NSDAP-Mitglieder unter den Polizisten, die Männer aufgrund homosexueller Handlungen in das Dortmunder Polizeigefängnis Steinwache einlieferten, ermittelt und einzelne Täterbiografien recherchiert. Nicht ein Richter, Staatsanwalt, Justizbeamter oder KZ-Aufseher wurde bisher für seine Mittäterschaft an der Homosexuellenverfolgung zur Rechenschaft gezogen. Wäldner erkennt darin weiterhin aktives staatliches Unrecht gegenüber den homosexuellen weiblichen und männlichen NS-Opfern.

      Der Kölner Sozialpädagoge Michael Jähme berichtet von seiner Arbeit im Facharbeitskreis Zeitzeug_innen der ARCUS-Stiftung, der es sich zur Aufgabe gesetzt hat, Biografien von Schwulen, Lesben, Trans- und Intersexuellen in der frühen Bundesrepublik zu sichern und zu dokumentieren. Gerade weil von Verfolgung bedrohte Männer häufig Fotos, Briefe und andere Erinnerungen an Partner und Freunde vernichten mussten, um sich nicht selbst zu belasten, fehlen der Geschichtswissenschaft Quellen. Mit den Interviews werden daher Quellen geschaffen, um diese Lücken aufzufüllen. Das Projekt soll die Lebenserfahrungen von Menschen dokumentieren, denen eine freie Entfaltung ihrer Persönlichkeit aufgrund einer heteronormativen Moral und der gesellschaftlichen Situation kaum möglich war. Erstmals berichtet Jähme öffentlich von den im Rahmen des Projekts gewonnenen Erfahrungen und Eindrücken und davon, wie die Kontakte zu den Zeitzeugen zustande kamen und die Interviews verliefen. Nach seiner Erfahrung sind alte schwule Männer sehr wohl bereit, aus ihrem Leben zu berichten, wenn sie auf echtes Interesse an ihren Erfahrungen stoßen.

      Den zweiten, mit Erinnern und Gedenken überschriebenen Teil eröffnet Jürgen Wenke. Der Bochumer Psychotherapeut und langjährige Leiter der Rosa Strippe, einer psychosozialen Beratungsstelle für Lesben und Schwule, gibt einen kursorischen Überblick seines Engagements für die Erinnerung an die von der NS-Diktatur verfolgten und ermordeten schwulen Männer aus dem Ruhrgebiet. Es reicht von der Initiierung von Stolpersteinen in zahlreichen Ruhrgebietsstädten und Gedenktafeln in mehreren KZ-Gedenkstätten bis hin zu Publikationen. Dem ersten Stolperstein in Bochum folgten, stets verbunden mit Archivrecherchen, bisher weitere 19 Stolpersteine. Ruhrgebietsweit hat der Künstler Günter Demnig inzwischen 22, an ermordete Homosexuelle erinnernde Stolpersteine verlegt. Wenke nennt Stolpersteine gewachsene Kunstwerke, die es ermöglichen, die Öffentlichkeit vielfältig einzubeziehen.

      Einen kritischen Blick auf die andronormative Gedenkkultur wirft die Mannheimer Historikerin Ilona Scheidle, die den Gedenkort Hilde Radusch vorstellt. Dieser erste Gedenkort für eine im Nationalsozialismus verfolgte, lesbisch lebende Frau wurde im Juni 2012 in Berlin-Schöneberg eingeweiht. 1903 geboren, war Hilde Radusch Kommunistin, später Sozialdemokratin, Politikerin, Frauenrechtlerin und lesbische