Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Группа авторов

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Название Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082139



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nach §175 StGB verhaftet: Bühnenbildner Paul Sträter, Schauspieler Otto Zedler, Kapellmeister Kurt Puhlmann und Opernspielleiter H. Intendant Noller bat den OB „um Hilfe”.33

      Am nächsten Tag suchte der Oberbürgermeister Kriminalpolizeirat Braschwitz auf, den Leiter der „Politischen Inspektion Essen” der Gestapo.34 Den „nationalgesinnten Verleger” Reismann-Grone, dessen Herz „an Kunst und Kultur im weitesten Sinne” hing und der 1933 als 72-Jähriger mit der Absicht angetreten war, „Essen zu einem Weimar zu machen”, dürften die Nachrichten aus der Gestapo-Außenstelle schockiert haben. In seiner Chronik hielt er fest: „Es ist ein schlimmer Skandal für Essen.”35 In den Märztagen kam es zu immer neuen Verhaftungen. Intendant Noller „brach darüber ganz zusammen”, als Bühnenbildner Sträter und Operettenspielleiter und Faschingsprinz Otto Zedler, wenige Tage zuvor noch „von den Massen bejubelt”, verhaftet wurden. Auf Anraten des Oberbürgermeisters musste der „schwer zerrüttete” Noller für „wenige Tage” in den Erholungsurlaub geschickt werden. Noller ließ den Oberbürgermeister wissen, die Sängerin Glanka Z. habe ihm über eine „gewisse Affäre” berichtet. Im Zusammenhang mit der Verhaftung Otto Zedlers gab sie in „aller Bescheidenheit” an, „dass doch die auf Grund der Sonderaktion engagierte Klara K., die wegen künstlerischer Unzulänglichkeit in der nächsten Spielzeit nicht wiederverpflichtet wird, eine Hauptperson in dieser Affäre abgibt”. Mit Brief vom 17. März fragte Noller weiter, „ob nicht in diesem Fall die allseitig unbeliebte und künstlerisch vollkommen unzulängliche Klara K., die mich und unser Theater bereits bei der Reichstheaterkammer denunziert hatte, fristlos zu entlassen ist. Eine solche Maßnahme würde die ganze Atmosphäre um unser Theater säubern […].”

      Er konnte nicht ahnen, dass die Verhaftung des Tänzers Peter Roleff am 23. März dem „Skandal” neue Brisanz verleihen und für die Beamten der Gestapo-Außenstelle Essen zu einer öffentlichen Blamage werden sollte. Denn nicht der Lebensgefährte von Otto Zedler erbrachte die gesuchten Beweise, die zur Verhaftung notwendig waren. Erst die Aussagen des Ballettmeisters Peter Roleff, der über seine intimen Kontakte zu Zedler und anderen Personen Auskunft gab, führten am 30. März zur Verhaftung des Operettenspielleiters. In seinen Aussagen, die mutmaßlich nicht ohne physischen und psychischen Druck zustande kamen, nannte er zahlreiche Personen, die homosexuell veranlagt seien. Unter ihnen der von Noller geschätzte Bühnenbildner Paul Sträter.36

      Im März 1936 wurden fast täglich Männer unter dem Verdacht verhaftet, homosexuell zu sein. Die mehr als zwanzig Festnahmen zwischen dem 4. März und dem Monatsende sorgten in breiten Bevölkerungsteilen der Ruhrmetropole für Klatsch. Die National-Zeitung sah sich am 5. April 1936 genötigt, auf die Gerüchte zu reagieren. Bevor der anonyme Autor des Artikels auf die „Reihe der Verhaftungen” dieser Tage einging, legte er die generelle Position des Nationalsozialismus „gegen die Erscheinung des Verfalles” dar: „Mit einer verschärften Gesetzgebung hat der Nationalsozialismus die Grundlage für diesen Kampf um die Reinhaltung unseres Volkskörpers geschaffen.” Dann erst ging er auf die lokalen Verhaftungen ein, „die aus dieser unerbittlichen Kampfhaltung […] herrühren. In der Öffentlichkeit gehen darüber Gerüchte mit den üblichen Übertreibungen und Entstellungen um. […] Uns darf das Bewußtsein genügen, daß der neue Staat von der Waffe, die er sich in der verschärften Gesetzgebung geschaffen hat, rücksichtslos Gebrauch macht, wo immer er auf Eiterbeulen stößt, ohne Ansehung des Namens wie des Standes.”37

      Einen Eindruck von der Atmosphäre in der Stadt in jenen Wochen vermitteln die Aussagen, die später Verhaftete gegenüber der Gestapo machten. „Als die Festnahmen von Homosexuellen-Mitgliedern des Essener Stadttheaters von der Polizei vorgenommen worden waren, erschien eines nachmittags ‚Natascha’ reisefertig mit einem Koffer in der Wohnung von K. und erklärte, er müsse flüchten […]. K. hatte ihm einen Paß besorgt.”38 Ein Ende 1936 verdächtigter Folkwang-Schüler sagte aus: „Während der Mahlzeit sagte mir Frau D., daß ich auf ihren Sohn recht aufpassen solle. Er wäre so leichtsinnig. Die Worte von Frau D. wurden deshalb zu mir gesprochen, da das Gespräch sich beim Essen auf die Vorkommnisse homosexueller Art im Stadttheater in Essen bezog.”39 Noch liefen die Ermittlungen und Razzien der Geheimen Staatspolizei gegen die „homosexuellen Umtriebe” auf Hochtouren, denn die Kripo-Beamten konnten nicht ahnen, dass mit der Eröffnung des ersten Prozesses gegen den Bühnenbildner Paul Sträter der Öffentlichkeit neuer Gesprächsstoff über die Gestapo geliefert werden sollte.

       „Das Ende eines unerquicklichen Prozesses”

      Bis Ende April 1936 hatte sich die Zahl der Verhafteten auf über 50 erhöht. Während die Verdächtigen anfänglich die Vorwürfe bestritten, gelang es der Gestapo durch tagelange Verhöre und Gegenüberstellungen, die Festgenommenen zu überführen. Welche Rolle Folter oder die Androhung von Folter dabei spielte, kann nur vermutet werden. Aus dem Blickfeld geriet dabei der zuvor umjubelte Prinz Karneval, der seine „Bisexualität” gestand.40 Die Staatsmacht plante, ihn mit weiteren geständigen Verhafteten, die sich der „widernatürlichen Unzucht” schuldig gemacht hatten, in einem groß angelegten Prozess in den Sommermonaten vor Gericht zu stellen. „In allernächster Zeit sollte nun gegen 23 Angeklagte, die des Verbrechens nach §§ 175, 175a StGB überführt sind, die Hauptverhandlung beim hiesigen Landgericht stattfinden”, hielt Kriminalkommissar Schweim in einem Bericht fest und fuhr fort: „Aus nicht durchsichtigen Gründen wurde das Verfahren gegen den Bühnenbildner Sträter abgetrennt und aus dem gesamten Komplex herausgenommen. Weil ein sichtbarer Grund hierfür nicht vorhanden war, erregte diese Maßnahme einiges Befremden.”41

      Der seit Herbst 1935 verheiratete Bühnenbildner Sträter war durch die Aussagen mehrerer Beschäftigter der Essener Bühnen der widernatürlichen Unzucht bezichtigt worden. Der Bühnenmaler Willi D. sagte aus, dass Sträter sich selbst als „warm” bezeichnet hätte und dass „im ganzen Hause allgemein die homosexuelle Veranlagung Sträters bekannt gewesen sei und aus der er […] keinen Hehl machte”.42 Doch erst die Verhöre des Ballettmeisters Peter Roleff und sein Eingeständnis, es sei zu sexuellen Handlungen mit Sträter gekommen, genügten der Geheimen Staatspolizei, Sträter als überführt zu betrachten. Sträter selbst bestritt die Tat. In den kommenden Wochen bemühten sich sowohl Intendant Noller als auch Oberbürgermeister Grone-Reismann um Sträter – das Schicksal der anderen festgenommenen Ensemblemitglieder berührte sie jedoch wenig.

      Zur Verwunderung der Geheimen Staatspolizei wurde zunächst gegen Sträter verhandelt, am 19. Juni 1936 begann der Prozess. „Sträter als erster Angeklagter” überschrieb die National-Zeitung vom 20. Juni ihren Artikel. Doch nach vier Verhandlungstagen konnten die Leserinnen und Leser der Essener Volkszeitung am 29. Juni Details über „Das Ende eines unerquicklichen Prozesses” erfahren. Der Hauptbelastungszeuge Peter Roleff, der drei Monate zuvor den Bühnenbildner Paul Sträter beschuldigt hatte, erschien am 23. Juni vor der III. Strafkammer des Landgerichts Essen und widerrief sein belastendes Geständnis.43 In Anwesenheit der Presse und der Gestapo-Beamten Nohles und Schweim behauptete der Ballettmeister, „daß ihm gerade dieses Geständnis, und zwar dieses allein, von dem vernehmenden Beamten der Staatspolizei durch Schläge pp. erpresst worden sei”.44

      In einem internen Bericht der beiden Beamten, die sich bloßgestellt sahen, kam ihr Unmut über den gesamten Hergang des Verfahrens zum Ausdruck. Sie erhoben schwere Vorwürfe über die Zusammensetzung der Strafkammer, besonders über das Verhalten des Vorsitzenden Kammerpräsidenten Thiel und die „Art seiner schlappen Verhandlungsführung”. Den Anwürfen gegen die Staatspolizei sei Präsident Thiel nicht energisch entgegengetreten. In seinen Ausführungen über die Methoden der Verhöre des Kommissars Nohles erklärte der Zeuge Peter Roleff, „er sei von Nohles mehrmals über den Tisch hinweg auf den Kopf geschlagen worden. Hierbei sei der Schreibtisch umgefallen.”45 Zwar widersprach die Protokollantin der Staatspolizei, die das Verhör des Peter Roleff niedergeschrieben hatte, in ihrer Vernehmung den Aussagen des Ballettmeisters. Sie verneinte auch die Frage des Kammerpräsidenten Thiel, „ob Kommissar Nohles während der Vernehmung des Roleffs geboxt bzw. so geschlagen hätte, daß der Tisch umgefallen sei”.46 Die beiden Kriminalkommissare weiter: „Es sei bezeichnend für die Art der Verhandlungsführung