Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung. Группа авторов

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Название Zwischen Verfolgung und Selbstbehauptung
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Жанр Документальная литература
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Издательство Документальная литература
Год выпуска 0
isbn 9783864082139



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die es immer wieder zu hinterfragen gilt. Im Berliner Gedenk-ort sieht sie exemplarische und signifikante Möglichkeiten für das Gedenken anderenorts, in diesem Sinne regt sie feministische Stadtrundgänge an und diskutiert einen Gedenkort für die in Gelsenkirchen geborene Chansonnière Claire Waldoff.

      Der Direktor des Dortmunder Stadtarchivs und Leiter der Mahn- und Gedenkstätte Steinwache Stefan Mühlhofer erläutert das Konzept der anstehenden Überarbeitung der Dauerausstellung in der Steinwache, in dessen Leitlinien sich die Homosexuellenverfolgung einbinden lasse. Seit 2004 erinnert zwar ein Raum der Steinwache an dieses Thema, bietet aber aufgrund des damaligen Forschungsstands kaum lokalspezifische Informationen. Der Forschungsstand des Stadtarchivs hat sich seither nicht wesentlich verändert. Mühlhofer sieht nun aber die Chance, im Zuge der Neugestaltung auch das Thema Homosexuellenverfolgung im Mikrokosmos Dortmund sowohl auf Seiten der Opfer als auch auf Täterseite angemessen darstellen zu können. In das neue Konzept wird die Zusammenarbeit von Kriminalpolizei, Gestapo und Staatsanwaltschaft bei der Verfolgung von Homosexuellen in den Blick genommen. Die Verfolgung seitens der Polizeibehörden stellt ohnehin ein Desiderat dar. Mit der Neugestaltung der Dauerausstellung wird man hoffentlich, so Mühlhofer, bei der Darstellung der Homosexuellenverfolgung ein großes Stück weiterkommen. Er regt weitere Forschungsprojekte an, die er für lohnenswert hält.

      Die Bonner Historikerin Ingeborg Boxhammer stellt zu Beginn des dritten Teils über Stationen der Selbstbehauptung ein feministisches Netzwerk an der Ruhr vor und fragt nach der Verknüpfung von Berufs- und Privatleben von vier Frauen, die um die Jahrhundertwende um 1900 im Ruhrgebiet lebten und als Dentistinnen, als sogenannte Zahnkünstlerinnen ohne akademische Ausbildung, tätig waren. Ob sie homosexuell waren, muss aufgrund fehlender Zeugnisse offen bleiben, Boxhammer weist ihnen jedoch überzeugend das Attribut lesbian-like zu. Trotz schwieriger Quellenlage und zahlreicher Fehlstellen gelingt es ihr, einen lebendigen Ausschnitt aus diesen selbstbestimmten, der Frauenbewegung nahestehenden Frauenleben aus den Anfangsjahren des 20. Jahrhunderts nachzuzeichnen, zu einer Zeit, in denen Frauen weder Wahlrecht noch Universität offen standen.

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      Der paradoxen Situation von Lesben in den Neuen Sozialen Bewegungen in Westdeutschland im Spannungsfeld zwischen Homosexellen- und Frauenbewegung widmet sich die Essener Soziologin Lisa Mense. Aufgrund der Diskriminierung ihrer Lebensweise schlossen sich zu Beginn der 1970er Jahre homosexuell lebende Frauen zunächst den entstehenden homosexuellen Gruppen und Bewegungen an. Um sich sowohl hier als auch in der Öffentlichkeit Sichtbarkeit zu verschaffen und ihre spezifischen Diskriminierungen als lesbische Frauen wahrnehmbar werden zu lassen, gründeten sie zunächst innerhalb der Bewegung eigene Lesbengruppen und -zentren, so auch im Ruhrgebiet. Mense erinnert an die diffamierende Berichterstattung über einen Mordprozess gegen zwei Frauen im Herbst 1973. Während die lesbische Beziehung den Prozessverlauf und die Berichterstattung dominierte, blieb die Gewalttätigkeit des getöteten Ehemannes beinahe unberücksichtigt. Gewalt gegen Frauen bildete seither einen gemeinsamen Bezugspunkt mit den Frauenbewegungen, die sich in diesen Protesten mit lesbischen Frauen solidarisierten, wie sich auch lesbische Frauen zunehmend den feministischen Ideen und Bewegungen zuwandten. In der Folge differenzierten sich die Frauenbewegungen Mitte der 1970er Jahre weiter aus und es entstand eine sich als radikal verstehende lesbisch-feministische Teilbewegung, die eine eigene lesbisch-feministische Gegenkultur aufbaute. Damit wechselte ein Teil der Bewegung das politische Konzept, an die Stelle der gesellschaftlichen Befreiung trat ein Modell der kollektiven lesbisch-feministischen Identität.

      Die Dortmunder Psychologin Ulrike Janz widmet sich der Lesbenbewegung im Ruhrgebiet seit Anfang der 1970er Jahre. Erstmals listet sie Gruppen und Treffpunkte systematisch auf, verweist jedoch darauf, dass zahlreiche Lücken noch gefüllt werden müssen. In den 1970er Jahren entstand nach und nach eine Lesbenwegung, die sich politisch als Teil der autonomen feministischen Frauenbewegung verstand. Lesben bewegten sich politisch und privat gemeinsam mit heterosexuellen Frauen, aber auch in eigenständigen Gruppen, Organisationen und an eigenen Orten. Die Lesbenbewegung umfasste die lesbische Selbsthilfe in Fragen des Coming-outs, in Beziehungs- und sonstigen Lebenskrisen, bot aber auch schlicht Lebenshilfe durch umfassende Information. Wenig später begannen Lesben, in ihren neu entstandenen frauenbezogenen Zusammenhängen auch miteinander zu feiern und zu tanzen. An den Universitäten im Ruhrgebiet entstanden ab Ende der 1970er Jahre Autonome Frauenreferate. Die Lesbenwegung an der Ruhr vernetzte sich zudem regional und überregional.

      Einer der Gründerväter der Aidshilfe-Bewegung im Ruhrgebiet, der heute in Düsseldorf lebende Frank Laubenburg, berichtet über die mit HIV und Aids im Ruhrgebiet in den 1980er Jahren einhergehenden Veränderungen in der Gesellschaft, aber auch in der Schwulenbewegung. Er beleuchtet einige Schlaglichter der Schwulenbewegung seit Ende der 1970er Jahre, als die Gründung eines Dachverbandes desaströs scheiterte. Anlässlich der ersten Berichte über Aids 1983/84 machte sich das Fehlen einer gesellschaftlich wahrnehmbaren schwulen Gegenwehr schmerzhaft bemerkbar. Mit der Berichterstattung über Aids als Schwulen- oder Lustseuche wurde die Risikogruppe der Schwulen konstruiert. Zudem führte Aids zur Verunsicherung schwuler Männer, aber auch zu hysterischen Reaktionen der Öffentlichkeit und zu repressiven Absichten von Teilen der Politik. In dieser Situation wurden die Aidshilfen an der Ruhr 1985/86 gegründet. Die Schwulenbewegung nahm zunächst ein ambivalentes Verhältnis ein, da man sich der Stigmatisierung nicht unterordnen wollte, Schwulenbewegung und Aidshilfen verfolgten unterschiedliche Ansätze. Für schwule Männer war es nach Laubenburg eine neue Erfahrung, von staatlichen Stellen wahr- und ernst genommen zu werden. Die Institutionalisierung der Aidshilfen-Bewegung ließ die erlahmte Schwulenbewegung erstarken und zunehmend Einfluss auf die Präventionskonzepte nehmen. Erst seit dem Beginn der 1990er Jahre können die Aidshilfen als Selbstorganisation der Schwulen gelten.

      Abschließend untersucht der Siegener Historiker und Germanist Tim Veith die Männlichkeits- und Körperdiskurse in Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer anhand der Rosa Zone. Dazu stellt er normierende, sich am hetero- und homonormativen Ideal orientierende Körper queeren Körpern gegenüber, die sich durch performative Akte von Homo- und Heteronormativität abgrenzen, und analysiert sie auf dem Hintergrund soziologischer und queertheoretischer Ansätze. Besonders Zeitschriften für nicht-heterosexuelle Männer spielten bei der Konstruktion von Körper- und Männlichkeitsidealen eine wichtige Rolle für ihre Identifikation und ihre Identität. In jeder Ausgabe der seit 1991 in Dortmund erscheinenden Rosa Zone finden sich Körper- und Männlichkeitsbilder, die von normierenden zu queeren Körpern reichen und ein heterogenes Bild vom Macho über den Bären- und Ledertyp hin zum Twink zeichnen. Auf dem Hintergrund ihres Erscheinens im Ruhrgebiet stellt Veith die Frage, ob die aufgezeigten Männlichkeits- und Körperideale an lokale Kontexte angebunden oder sie von diesen losgelöst genutzt werden.

      Wie zu erwarten war, ließ die Tagung eine Reihe wichtiger Fragen unbeantwortet.14 Das konnte gar nicht anders sein, bietet aber zugleich für die kommenden Jahre zahlreiche Forschungsmöglichkeiten. Die Ausgrenzung und Verfolgung gilt es in all ihren Erscheinungsformen zwischen Polizei und Justiz, Religion und Gesellschaft, Psychiatrie und Schule, Arbeitswelt und Erinnerungskultur sichtbar zu machen. Gerade in einer schwerindustriell geprägten Region wie dem Ruhrgebiet lässt sich fragen, inwiefern sich schwul-lesbische Lebenswelten im Bürgertum von jenen der Arbeiterschaft unterschieden. Waren Arbeiter häufiger von Verfolgung betroffen, konnten Bürgerliche der Verfolgung aufgrund ihrer Lebensumstände leichter entgehen oder war die Fokussierung auf Arbeiter Teil der allgemeinen Repression in einer Region, in der der Nationalsozialismus anfänglich auf keinen großen Zuspruch, wohl aber auf umfangreiches widerständiges Verhalten gestoßen war? Gab es Unterschiede zwischen den ländlichen Rändern des Ruhrgebiets und seinen urbanen Zentren? Unterschied sich die Verfolgung schwuler Männer zwischen der Rheinprovinz und Westfalen, zwischen den drei das Ruhrgebiet tangierenden Bezirksregierungen? Welche Rolle spielte die Gestapo, welche die Sittendezernate der Kriminalpolizei, wer machte sich die Verfolgung mit besonderem Eifer zu eigen? Welche Spielräume verblieben der Justiz bei der Verfolgung der Homosexuellen? Welche Rolle nahmen die Kirchen bei der Verfolgung schwuler Männer und lesbischer Frauen vom Kaiserreich bis zur Bundesrepublik ein? Und welche Rolle spielten Vorwürfe wegen Homosexualität bei den so genannten